Im Saal Harmonie des Congress Centers in Frankfurt wurden am 22. Oktober die Preisträgerinnen und Preisträger der verschiedenen Sparten des Deutschen Jugendliteraturpreises durch Frau Staatsministerin Juliane Seifert geehrt. Es war wieder eine Veranstaltung, an der nicht alle Beteiligten direkt teilnehmen konnten. So wurden die Jury und einige Ausgezeichnete digital zugeschaltet.

Neben der Auszeichnung mit der Momo-Preisstatue wird der Preis der Kritiker – und Jugendjury mit 10.000Euro dotiert.

Der Jugendliteraturpreis wird durch eine neunköpfige Kritikerjury mit Experten aus vier Sparten von Kinder- und Jugendbüchern ausgewählt. Diese ehrenamtliche Jury sichtet eingereichte deutschsprachige Kinder-und Jugendbücher, wobei auch Übersetzungen aus anderen Sprachen berücksichtigt werden. Alle Siegertitel zeigen die Welt und ihre Herausforderungen aus der Perspektive der Kinder und Jugendlichen, die sich den Anforderungen stellen und kreative autonome Lösungen finden.

In der Sparte Bilderbuch erhielt Sydney Smith den Preis für sein Buch „Unsichtbar in der großen Stadt“, das von Bernadette Ott aus dem Englischen übertragen wurde. Erschienen ist das Buch im Aladin Verlag.  Ein Kind ist in der großen Stadt an einem Wintertag allein unterwegs. Es schaut aus dem Fenster der Straßenbahn und findet sich zurecht. Trotzdem, es ist unheimlich, klein und allein unter allem zu sein, was groß und laut ist. Da ist es gut, wenn da jemand ist, der die besten Geheimverstecke kennt.

Die Jury begründet ihre Auswahl so: „Sydney Smith hat ein Meisterwerk der Bilderbuchkunst geschaffen, zum ersten Mal als Autor und Illustrator. Virtuos nutzt er eine Fülle an Gestaltungsmöglichkeiten. Kaleidoskopartig spiegeln die Bildformate die vielen Eindrücke. Pinselstrich und pointiert eingesetzte Farbigkeit inmitten von Weiß, Schwarz und Grauschattierungen schaffen eine Atmosphäre, die man mit allen Sinnen wahrzunehmen scheint. Manche Andeutung versteht man erst Seiten später, blättert zurück, wird zum wiederholten Anschauen angeregt. Ein ermutigendes Bilderbuch – es zeigt auf künstlerisch beeindruckendem Niveau, dass Kinder auch in schwierigen Situationen selbständig und zuversichtlich denken und handeln können.“

In der Sparte Kinderbuch wurde Marianne Kaurin für ihr Buch „Irgendwo ist immer Süden“ ausgezeichnet. Aus dem Norwegischen wurde es von Franziska Hüther übertragen, es erschien bei Woow Books.

Die Jurybegründung lautet: „In den Sommerferien in der eigenen Wohnung gefangen – so fühlt sich die Ich-Erzählerin Ina, die mit ihrer arbeitslosen Mutter in einer Sozialsiedlung lebt. Als ihre Mitschüler am letzten Schultag stolz erzählen, welche großartigen Reiseziele sie in den Ferien ansteuern werden, erfindet Ina, dass sie ebenso in den Süden reist, obwohl sich ihre Mutter keinen Urlaub leisten kann. Um mit ihrer Notlüge nicht aufzufliegen, sperrt sich Ina bei größter Hitze in ihrer Wohnung ein. Vilmer, der neue Mitschüler, kann sie schließlich aus dem Schlamassel befreien. Zusammen entwickeln sie eine äußerst kreative Idee, um sich ihren eigenen „Süden“ vor die Haustür zu zaubern.
Marianne Kaurin legt einen vielschichtigen Kinderroman vor, der mehrere ineinander verwobene Erzählstränge aufweist. Eindrucksvoll wird das kindliche Spiel als autonomer Zwischenraum inszeniert, in dem die Kinder aktiv handelnd sich weiterentwickeln können und für die Realität gestärkt werden. Das Figurenensemble ist stimmig konzipiert, auch die Erwachsenen Randfiguren überzeugen in der fein austarierten Darstellung. Souverän gelingt es Franziska Hüther, die sensible Sprache der Autorin treffend zu übersetzen und den doppelbödigen Humor wirkungsvoll zu platzieren.“

Die Gewinnerin in der  Sparte Jugendbuch ist Jurga Vilė, die Autorin des litauischen Buches „Sibiro Haiku“, dessen Illustrationen Lina Itagaki geschaffen hat. Die Übersetzung übernahm Saskia Drude. Das Buch ist bei Baobab Books erschienen.

Die Jury schreibt dazu: „Sowjetische Truppen verschleppen 1941 ganze Familien aus Litauen in ein Lager in Sibirien. Jeder Tag wird im bitterkalten Winter zum Kampf auf Leben und Tod. Aus der Perspektive des jungen Algis wird das Leiden der Deportierten geschildert, aber auch ihr Miteinander, das von Solidarität und unbedingtem Lebenswillen geprägt ist. Eine herausragende Rolle spielt dabei die Kultur: Gemeinsames Singen und vor allem die Texte aus einem Haiku-Band, den Algis’ Tante ins Lager mitgenommen hat, stärken die Gefangenen, werden zum wirksamen (Über-)Lebensmittel.   Jurga Vilė erzählt dies in stiller und eindringlicher Sprache, die in der Übersetzung von Saskia Drude grandios funktioniert. Lina Itagaki kombiniert den Text mit einem überraschenden und variationsreichen Bildprogramm. Vilė und Itagaki entwickeln auf diese Weise das Medium Graphic Novel inhaltlich wie formal weiter, spielen kunstvoll mit all seinen Möglichkeiten: Seite für Seite finden sich kluge Bild-Text-Verknüpfungen voller Atmosphäre, voller Details, voller Poesie. Sibiro Haiku ist ein beeindruckendes Gesamtkunstwerk, das ein bewegendes Kapitel europäischer Vergangenheit dem Vergessen entreißt und Erinnerungen stiftet. Eine Graphic Novel, die ergreift, ermutigt und beeindruckt.“

„100 Kinder“ geschrieben von Christoph Drösser und illustriert von Nora Coenenberg, erschienen im Gabriel Verlag, ist der ausgezeichnete Buchtitel in der Sparte Sachbuch.

Die Begründung der Jury lautet: „Was heißt es, heute Kind zu sein? Wie gestaltet sich Kindheit hier und anderswo? Wie sehen Lebensumstände und Alltag der Kinder rund um den Erdball aus? Mit 100 Kinder stellen Christoph Drösser und Nora Coenenberg diese Fragen und beantworten sie auf ebenso neuartige wie eindrucksvolle Weise – durch ein Gedankenexperiment, das Statistik sichtbar macht und einlädt zu einem Blick über den eigenen Tellerrand.
Stellvertretend für die rund zwei Milliarden Kinderleben weltweit stehen hier die titelgebenden 100 Kinder: 52 Jungen und 48 Mädchen. Von ihnen leben nur sechs in Europa, vier in Nordamerika, acht in Südamerika, ein einziges in Australien, aber 25 in Afrika und 56 in Asien. Ausgehend von dieser Standortbestimmung entwirft das Buch in einer klug abgestimmten Kombination aus Texten, Illustrationen und Infografiken ein umfangreiches Tableau an gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Aspekten, zeigt Diversität, benennt Unterschiede und Gemeinsamkeiten, spricht Probleme und Ungerechtigkeiten an, weiß Erstaunliches und Kurioses zu berichten. Sachlich, unaufgeregt und verständlich regt es zum Nachdenken an, lässt staunen und macht neugierig auf die Welt und ihre Kinder.“

Neben der Kritikerjury befasst sich auch jedes Jahr eine Jugendjury mit den zur Auswahl stehenden Büchern.  Die Jugendjury ist autonom, setzt sich aus 6 Leseclubs verschiedener Prägung zusammen und verleiht den fünften Jugendliteraturpreis. Die Wahl der Jugendjury fiel in diesem Jahr auf „After the Fire“ von Will Hill, aus dem Englischen übertragen von Wolfram Ströle und erschienen in der dtv Reihe Hanser.

Die Jugendjury begründet ihre Wahl: „Eine Sekte. Ein Feuer. Das Leben danach. – Moonbeam wächst, von der Außenwelt abgeschottet, in der Basis der Legion Gottes auf. Nach deren gewaltsamer Erstürmung durch die Bundesbehörden und einem verheerenden Brand, werden Moonbeam und die anderen überlebenden Kinder und Jugendlichen in der Psychiatrie untergebracht, von Therapeuten betreut und vom FBI befragt. Moonbeam öffnet sich langsam und erzählt von ihrem Leben in der Sekte, an dem sie schon länger zweifelte. Der Weg in die Welt „Draußen“ ist schwer. Geheimnisse, die sie unter keinen Umständen preisgeben möchte, quälen sie. Immer wieder werden Moonbeams Gedanken in die Erzählung verwoben und Andeutungen gemacht, die langsam ein Gesamtbild entstehen lassen.
Will Hill rückt ein wenig beachtetes, unkonventionelles Thema in den Mittelpunkt. Mitreißend wird auf zwei Zeitebenen erzählt, wie Moonbeam die traumatisierenden Ereignisse zunächst erlebte und wie sie diese später verarbeitet. Die realistische Darstellung wirkt dabei niemals verharmlosend. Moonbeam ist eine sehr gut durchdachte Figur, man kann ihr Handeln, ihre Gedanken, Ängste und Zweifel gut nachvollziehen und es lässt sich eine klare Persönlichkeitsentwicklung erkennen.“

Neben den Preisen für die Kinder- und Jugendbücher verleiht eine Sonderjury die Sonderpreise „Gesamtwerk“ und „Neue Talente“. Damit werden seit 1991  im jährlichen Wechsel deutsche Autorinnen/Autoren, Illustratorinnen/Illustratoren und Übersetzerinnen/Übersetzer mit Sonderpreisen für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet. Seit 2017 wird zusätzlich der Sonderpreis „Neue Talente“ vergeben. Beide Sonderpreise sind Personenpreise und werden nur an nationale Künstlerinnen/Künstler vergeben. Für den Sonderpreis „Neue Talente“ prüft die Jury Veröffentlichungen der drei vorangegangenen Jahre. Der Sonderpreis „Gesamtwerk“ ist mit 12.000 Euro dotiert, der Sonderpreis „Neue Talente“ mit 10.000 Euro. 2021 gehen die Sonderpreise an deutsche Übersetzerinnen.

Der Sonderpreis „Gesamtwerk“  geht an die Übersetzerin Gudrun Penndorf, die für ihr WErk im Jahr 2020 auch schon das Bundesverdienstkreuz erhielt.

Aus der Jurybegründung: „„Die spinnen, die Römer!“ – Wissen Sie, wem wir diesen Spruch, den vielleicht berühmtesten der Nachkriegsliteratur, verdanken? Sagen wir es so: Die richtige Antwort lautet weder „Obelix“ noch „René Goscinny“. Aus deren eher konventionellem „Ils sont fous, ces Romains“ hat erst Gudrun Penndorf, Goscinnys kongeniale deutsche Übersetzerin, diesen perfekten, fast schon lautmalerisch das energische Vogelzeigen nachahmenden Parallelismus gemacht. Im französischen Original geht da doch einiges verloren.

Gudrun Penndorfs phänomenale sprachschöpferische Leistung, insbesondere der Übertragungen von Asterix und Lucky Luke in den Jahren 1968 bis 1991, kann gar nicht genug gepriesen werden. Es sind nicht nur die ikonischen Übersetzungen von Begriffen und Sprüchen – auch ihre kreativen Umbenennungen des Comicpersonals, ihr akribischer Rechercheeifer, ihre treffenden Wortspiele sowie der geniale Umgang mit den diversen Sprachebenen ihrer Vorlagen setzen bis heute Maßstäbe für das Übersetzen – nicht nur von Comics. Dass Gudrun Penndorfs Übersetzungen trotz alldem kaum als solche gewürdigt worden sind, lässt eine Lücke in der deutschen Literaturgeschichte klaffen. Eine Lücke, die wir mit diesem Preis nur zu gerne schließen. Denn selbstverständlich sind Comics Literatur. Und selbstverständlich gehört Gudrun Penndorf in die Reihe der bedeutendsten deutschsprachigen Übersetzerinnen und Übersetzer der Nachkriegszeit.“

Zu guter Letzt bekam Lena Dorn ihre Auszeichnung in der Sparte Neue Talente. Die Jury befand dazu: “ Lena Dorn ist eine Sprachzauberin. Sie übersetzt nicht einfach, sie transformiert tschechische Texte in ein inspirierendes, mitreißendes Deutsch. Selten ragt bereits das Frühwerk einer Übersetzerin so aus der Masse der Veröffentlichungen heraus. Mit Tippo und Fleck (im tschechischen Original von Barbora Klárova und Tomás Koncinský lautet der Titel Preklep a Škraloup) beweist Dorn ihre beeindruckende sprachspielerische Begabung. Ihre Wortschöpfungen, kreativ neu erfundene sprechende Namen und witzige Wortspiele, bringen nicht nur junge Leserinnen und Leser zum Staunen und Schmunzeln. Ihre Übersetzung trifft – nein: übertrifft – den ironischen, umgangssprachlichen, augenzwinkernden Plauderton der Vorlage, lädt uns zum Fabulieren ein. Lena Dorn entführt in die Welt jener Entropiewichte, die im Verborgenen fleißig und gewissenhaft dafür sorgen, dass die Dinge altern und dabei stets in Unordnung bleiben. Ihr Text ist aber zugleich auch ein beeindruckendes Statement für übersetzerische Souveränität. Solange Lena Dorn uns weiterhin Übersetzungen schenkt, muss uns vor dem Verfall der deutschen Sprache nicht bang sein.“