Der Wettbewerb für jungen Literaturnachwuchs „open mike“ fand am 2. Novemberwochenende 2021 in Berlin-Neukölln zum 29. Mal statt.
Das Besondere dieses Wettbewerbs ist, dass der schreibende oder dichtende Nachwuchs (Höchstalter 35 Jahre) die Werke noch nicht veröffentlicht haben darf. Außerdem wird die Auszeichnung auch danach vergeben, wie die 15 Minuten Debütlesung vor Publikum läuft.
Der open mike hat das Ziel, die jungen Autorinnen und Autoren zu fördern, ihnen Hilfestellung in jeglicher Art anzubieten und sie nicht zuletzt mit Verlagen, Lektorinnen und Lektoren, anderen Autorinnen und Autoren zusammenzubringen. Sie letztlich darin zu unterstützen, sich ein hilfreiches Netzwerk für ihre Zukunft aufzubauen.
Eine Vorjury, die aus Literatur-Expertinnen und -Experten verschiedener Verlage gebildet wurde, wählte aus den über 500 eingesandten Texten die 21 Finalistinnen und Finalisten aus. Bevor diese dann ihre Debütlesungen antraten, wurde noch einmal Hilfestellung zur Vorbereitung geleistet. Die Jury um Olga Martynova, Anja Utler und David Wagner vergab drei Preise, einen davon für Lyrik. Daneben zeichnete die taz-Publikumsjury eine Autorin aus, deren Text in der taz veröffentlicht wird.
15 Texte waren für Prosa und sechs für Lyrik nominiert.
Die Preise des 29. open mike gingen an Eva-Maria Dütsch mit Urin und Blütenhonig, Samuel J. Kramer mit Gedichten und Kathrin Vieregg mit Cui bono. Die Preise sind mit insgesamt 7.500 € dotiert. Der Preis der taz-Publikumsjury ging an Laura Anton mit Holzhausen (Auszug).
Das Jurymitglied Olga Martynova auf Eva-Maria Dütsch und ihren Text Urin und Blütenhonig:
„Eine alte Frau: Ihr Kopf sei ein Haus, in dem nichts mehr gesagt wird, oder andersherum, ihr Haus sei ein roter Kopf, in dem alles notgedrungen metaphorisiert wird: »2 Regen, Bruder & Schwester«; »Im Meer wird ein Meer abgefangen«; »Regen und Holz in ihrem Gesicht, das Gefühl eines undichten Altbaus«. Und zu Hause steht ein Knochen in der Vase im Wasser und wartet auf das Aufblühen.
Was ist das? Was wird uns vermittelt? Sehnsucht, Bedrohung, Einsamkeit, Missbrauch, Überschuss an Phantasie, Unmöglichkeit, den Kontakt zur Welt zu finden, Verzweiflung. Bilder der Wirklichkeit vermengen sich mit den Einschüben der Phantasie, die immer realer und wichtiger werden. In der Flut von Sehnsucht, Bedrohung, Einsamkeit, Missbrauch, Überschuss an Phantasie, Unmöglichkeit, den Kontakt zur Welt zu finden, Verzweiflung werden immer neue Bilder erzeugt, bis alles still steht und die letzten Sätze der Geschichte sich wieder mit dem ersten Satz treffen.
Dieses Erzählen hat weder Angst vor Rätselhaftigkeit noch vor Düsterkeit, es wagt viel, ist dicht und von vielen stets wechselnden Bildern besiedelt.
Mit Eva-Maria Dütsch wird eine Autorin mit einem der drei open mike-Preise prämiert, die daran erinnert, dass Literatur ein magisches Medium sein kann, ein Instrument, das Zwischenräume erforscht, eine Aussage, die nicht eindeutig ist, sondern die Leser zu einem Gespräch einlädt und die Mehrstimmigkeit der Welt feiert.“
Eva-Maria Dütsch wurde 1997 geboren und absolvierte ein Bachelor- und Master-Studium der Anglistik und Germanistik an der Universität Bern.
Die Veranstalter führten nach der Preisvergabe ein Kurzinterview:
Wie fühlst du dich? Überwältigt.
Hat irgendein Teil in dir damit gerechnet, dass dein Text gewinnen könnte? Nein, eigentlich nicht. Ich hab ohne alle Hoffnungen aufgegeben im Juli bei der ersten Deadline.
Und wie geht es jetzt weiter? Schreiben. Das noch viel besser machen.
Anja Utler auf Samuel J. Kramer und seine Gedichte:
„Das erste Gedicht das Samuel Kramer uns hier vorgelesen hat, trägt den Titel »weiß nichts vom Schnee«, im nächsten Gedicht ist vom fehlenden »je ne sais quoi« die Rede, gleich nachdem einigermaßen kühn behauptet wurde: »Es gibt ferner Folgendes nicht mehr: Gewitter, Fehler, Bäume.« Die Gedichte, die Samuel Kramer vorgestellt hat, waren sehr unterschiedlich, aber sie teilen einen Grundimpuls: sie fragen. Sie fragen, in welcher Sprache sich der Gegenwart begegnen lässt, wie sich Verstehen und Verständnis herstellen lässt, einfaden, ausfaden, das Garn aufdröseln, führt der Faden, den man spinnt ans Ziel? Die digitalen Gesprächspartner in den Gedichten bitten um Einverständnis: »Sag: Ja, das meinte ich. Das meinte ich auch.« Es liegt ein trauriger Witz in Samuel Kramers Gedichten, »unser doom gib uns heute«, im spielerischen Gestus des Sprechens, der sich direkt aus den Prozessen der Wirklichkeit zu speisen scheint: wo sich das Meer mit dem Land mischt, das Wasser die Inseln verschlingt, vermischen sich auch die Laute, so dass »die möwen auf lücken riegen« und die »halligen heilen«. Vielleicht können uns Gedichte nicht heilen, aber sie können uns Wunden zeigen, und ihnen mit Zartheit und Vitalität begegnen. Samuel Kramers Gedichte haben uns das gezeigt, dafür verleiht ihm die Jury einen der Preise des open mike 2021.“
Samuel J. Kramer wurde 1996 geboren und ist Autor, Moderator und Aktivist. Er studiert Philosophie in Frankfurt am Main und lebt in Offenbach.
Im Kurzinterview fand der Preisträger mehr Worte als seine Mitpreisträgerinnen:
Wie fühlst du dich? Es ist natürlich schön, es ist wunderschön. Ich freue mich riesig. Ich habe mir sehr große Mühe gegeben mich emotional darauf vorzubereiten, nicht zu gewinnen. Dadurch war ich wenig darauf vorbereitet, tatsächlich zu gewinnen. Aber jetzt freue ich mich wie gesagt riesig und es bedeutet mir auch sehr viel, für meinen Lyrik von dieser Jury, zu der ich auch sehr aufschaue, ausgezeichnet zu werden.
Hat irgendein Teil in dir damit gerechnet, dass dein Text gewinnen könnte? Ich habe mir Chancen ausgerechnet, also mindestens 1/6 eben. Ich war auch sehr überzeugt von meinen Texten und meinem Vortrag, aber ich habe mich mehr darauf konzentriert, dass da eben auch noch diese fünf anderen Texte sind, die ich großartig fand. Also es gab beide Gefühle, zu gewinnen und zu verlieren gleichermaßen.
Und wie geht es jetzt weiter? Ich möchte gerne einen Gedichtband veröffentlichen. Eigentlich auch bald, also ursprünglich sollte es dieses Jahr werden, aber nach dem Rat der Lektor*innen nehme ich mir jetzt doch mehr Zeit, damit es auch der beste erste Gedichtband wird, den ich schreiben kann.
David Wagner auf Kathrin Vieregg und ihren Text Cui Bono:
„Was tun, wenn eine nahestehende Person (P) abdriftet und Verschwörungstheorien verfällt? Was, wenn ein Planet plötzlich nicht mehr als Planet mit verlässlicher Umlaufbahn gilt?
In ihrer klaren polyphonen Erzählung Cui Bono stellt Kathrin Vieregg sich genau dieser Versuchsanordnung. Unverschwurbelt erzählt von der Verschwurbelung im Privaten und in der Welt und von dem Schmerz, den es bereitet, eine Person so fast zu verlieren.
In ihrem Text appropriiert Kathrin Vieregg die Tropen der Schwurbler stellt sie aus – und lässt sie für sich sprechen. Dabei bleibt die Erzählung Cui Bono immer ökonomisch und knapp, verschwendet keine sprachlichen Mittel und lässt uns Leser*innen die offenen Lücken, die gute Prosa braucht.
Herzlichen Glückwunsch zum Gewinn beim open mike 2021, liebe Kathrin Vieregg!“
Kathrin Vieregg wurde 1996 geboren, wuchs in Süddeutschland auf und studierte Soziale Arbeit in Kiel. Sie lebt in Leipzig und studiert dort am Deutschen Literaturinstitut.
Das Kurzinterview nach der Preisverleihung:
Wie fühlst du dich? Verblüfft. Und fremd. Und gut!
Hat irgendein Teil in dir damit gerechnet, dass dein Text gewinnen könnte? Nein. Also ich hatte auch gar nichts geplant zum Vorlesen, einfach weil es so viele gute Texte gab und man an dem Punkt einfach gar nichts mehr sagen kann. Es war einfach so ein schönes Wochenende mit toller Stimmung und tollen Leuten und so viel Spaß.
Und wie geht es jetzt weiter? Ein paar Pläne habe ich. Ich bin vor allem sehr müde und werde jetzt Dumplings essen gehen. Danach muss ich mich dann mit dem Text beratschlagen, was weiter passiert.
Die taz-Publikumsjury auf Laura Anton und ihren Text Holzhausen (Auszug):
„Es waren zwei spannende Tage voller toller Texte und vieler Diskussionen. Wir danken allen Kandidat*innen für ihre Beiträge. Wir haben es uns wirklich nicht leicht gemacht, konnten uns aber am Ende doch auf einen Text einigen. Der Text erweckt ein vielschichtiges und lebendiges Szenario, das uns allesamt begeistert hat. Es strahlt eine riesige Einsamkeit aus, die uns allesamt berührt hat. Wir freuen uns riesig, dass Holzhausen bald auch in der taz ist. Der Preis der taz-Publikumsjury geht an Laura Anton und ihren Text Holzhausen. Wir gratulieren!“
Laura Anton wurde in Freiburg im Breisgau 1999 geboren und studiert in Wien Sprachkunst sowie Kultur- und Sozialanthropologie.
Ein echtes Kurzinterview gab Laura Anton:
Wie fühlst du dich? Chaotisch.
Hat irgendein Teil in dir damit gerechnet, dass dein Text gewinnen könnte? Vielleicht so ein kleiner Finger.
Und wie geht es jetzt weiter? Ich hab gehört, es kommen gleich Leute und wollen Interviews.
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