Die Postkarte

Ein Roman über die eigene Familiengeschichte.

Im Januar 2003 fand Anne Berests Mutter unter den Neujahrswünschen eine verstörende Postkarte mit nichts als den Namen ihrer vier Angehörigen, die in Auschwitz ermordet wurden; ohne Absender, ohne Unterschrift. Anne fragt nach und die Mutter erzählt ihr die tragische Geschichte der Familie Rabinowicz. Aber erst als ihre  kleine Tochter in der Schule Antisemitismus erfährt, beschließt Anne, der Sache wirklich auf den Grund zu gehen. Mithilfe eines Privatdetektivs und eines Kriminologen recherchiert sie in alle erdenklichen Richtungen. Das Ergebnis ist dieser Ausnahmeroman. Er zeichnet nicht nur den ungewöhnlichen Weg der Familie nach, sondern fragt auch, ob es gelingen kann, in unserer Zeit als Jüdin ein „ganz normales“ Leben zu führen.

Ein großer Roman, der Fragen aufwirft. Le Figaro

Anne Berest geht dem Schicksal ihrer eigenen Familie nach – und landete damit einen preisgekrönten literarischen Coup, der seit Erscheinen im Herbst 2021 auf der französischen Bestellerliste steht.

€ 28,00 [D], € 28,80 [A]
Erschienen am 01.06.2023
Übersetzt von: Michaela Meßner, Amelie Thoma
544 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-8270-1464-1

Anne Berest wurde 1979 in Paris geboren. Sie arbeitete als Schauspielerin, Regisseurin und gab eine Theaterzetischrift heraus, bevor sie 2010 ihren ersten Romanveröffentlichte, ›Traurig bin ich schon lange nicht mehr‹ . Es folgten ›Les Patriarches ( 2012), ein Buch über Francoise Sagan (2014) und ›Emilienne oder die Suche nach der perfekten Frau‹ (2015). Sie ist Co-Autorin des Bestsellers ›How to be a Parisian – Wherever you are. Liebe, Stil & Lässigkeit à la française‹, das in mehr als 35 Sprachen übersetzt wurde. 2017 schrieb sie gemeinsam mit ihrer Schwester Claire ein Buch über ihre Urgroßmutter: ›Ein Leben für die Avantgarde – Die Geschichte von Gabriële Buffet-Picabia‹. Mit ›Die Postkarte‹ gelang Anne Berest ein literarischer Coup  – das Buch war auf der Shortlist sämtlicher großer Literaturpreise in Frankreich und steht dort seit Erscheinen im September 2021 auf der Bestsellerliste.


Erinnerungsliteratur ist mittlerweile unüberschaubar und häufig von geringem Interesse. Der Roman Die Postkarte von Anne Berest allerdings, der  Familienchronik und Spurensuche nach den verschwundenen Verwandten ist, die fast alle von den Nazis ermordet wurden, erzeugt seit seinem Erscheinen großes Interesse .

Die einzig Überlebende der Familie ist Myriam, die Großmutter der Autorin. Sie spricht wie viele andere Überlebende nie über die Zeit des Grauens. Berest macht sich auf die Reise in eine dunkle Vergangenheit, auf der sie Erschütterndes erfährt und dies in einer unnachahmlich eleganten Schlichtheit beschreibt.

Nachforschungen über Vergangenheit und fehlende Familienmitglieder hat auch schon die Mutter der Autorin Lélia angestellt. Sie erzählte ihrer Tochter schon im Kindesalter, woher es kommt und was passiert ist. Lélia selbst hatte schon als Kind gefragt, warum die Gäste auf einem Fest alle eine Nummer auf dem Arm hatten. Das seien Telefonnummern, hatte ihre Mutter genervt geantwortet, denn ältere Leute wären nun mal vergesslich.

Das glaubt Lélia nicht und will mehr wissen, ihr fehlen Großeltern und Vater. Der hatte sich umgebracht, da war ­Lélia drei Jahre alt. Lélias Großeltern mütterlicherseits waren russische Juden, die zuerst nach Riga flüchteten, dann nach Palästina und schließlich nach Paris.

Im Land der Aufklärung und der Menschenrechte glaubt sich Großvater Ephraim sicher. Will nicht nach Amerika, er fühlt sich zu alt, um erneut zu flüchten. Einer Eingebung ist es zu verdanken, dass er seiner ältesten Tochter Myriam befiehlt, sich zu verstecken, als seine beiden anderen Kinder abgeholt werden. Sein Schicksal steht auch fest – das eines aller Rechte beraubten Juden.

Im Dorf der Großeltern sucht Anne Berest nach Zeitzeugen und entdeckt dabei das Klavier ihrer Familie im Haus eines der Nachbarn, die damals schnell dabei waren, sich an den von Laken bedeckten wertvollen Möbeln zu bereichern. Was macht man dann, Jahrzehnte später?

Man verweigert den Überlebenden die Anerkennung des rassistischen Motivs der Verfolgung und behauptet stattdessen, es hätte sich um „politische Gründe“ gehandelt. Myriam ist entkommen. Sie trägt keinen Judenstern und geht weiter an die Uni in Paris, wo sie  Vicente Picabia trifft und ihn 1941 heiratet. Hätte die ältere Schwester Vicentes  Jeanine, eine wichtige Person im Widerstand – von De Gaulle am 12. Mai 1943 mit der Médaille de la Résistance ausgezeichnet – den Frischvermählten nicht gesagt, dass es höchste Zeit ist zu flüchten, wäre diese Geschichte nie aufgeschrieben worden, alle Familienmitglieder wären ganz vergessen worden.

In den Notizen von Myriam, die Lélia nach ihrem Tod findet, steht, sie habe „die Demarkationslinie zusammen mit Hans Arp in einem Kofferraum überquert“, der als „entarteter Künstler“ auf der schwarzen Liste der Nazis steht. Auch Myriam schließt sich dem Widerstand an, macht Botengänge, überbringt verschlüsselte Nachrichten und hört BBC, um Berichte über den neuen Kriegsverlauf zu verfassen. Sie verbringt lange Zeit auf dem Hochplateau von Claparèdes in einer verlassenen Hütte zusammen mit dem von Unruhe getriebenen Vicente, der süchtig ist nach Amphetaminen, mit denen sich die Angst unterdrücken lässt, und ihrem späteren Mann Yves Bouveris, der wie viele junge Männer sich der Anordnung der Behörden widersetzt und dem Arbeitsdienst in Deutschland entzogen hatte.

Nach Kriegsende geht Myriam täglich zum Hotel Lutetia, einem ehemaligen Luxushotel mit 350 Zimmern, das für die Rückkehr der deportierten Franzosen beschlagnahmt wird. Aber Myriam hat niemanden gefunden, der etwas über ihre Familie hätte erzählen können.

Das alles findet Berest im Zuge ihrer Recherchen heraus. Eine Karte mit den vier Vornamen der Familie Rabinovitch, die in Auschwitz getötet wurden, taucht 2003 im Briefkasten von Lélia auf, die sie als ungelöstes Rätsel in einer Schublade verwahrt. So geht Anne Berest der vagen Spur ihrer biografischen Herkunft nach. Auch wenn die Anhaltspunkte dürftig sind, die Autorin fügt die Puzzleteile zusammen, die nach und nach ein überraschendes Gesamtbild einer Geschichte ergeben, die nie zu Ende erzählt sein wird.

Ihr ist ein bewegendes Werk über ihre Familie gelungen, das in der Suche nach und im Zusammentragen von Details nicht zufällig ein wenig an Patrick Modiano erinnert, mit dessen autobiografischem Buch „Ein Stammbaum“ sie sich beschäftigt und das sie für das Theater bearbeitet hat.

In ihrem Roman spiegelt sich die ganze Tragödie wider und indem sie sie in ihrem Buch wieder lebendig werden lässt, erfüllt sie den letzten Wunsch ihrer Großmutter Myriam.