Seit 1950 verleiht der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, die Berufsorganisation der Verlage und Buchhandlungen in der Bundesrepublik Deutschland, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in diesem Jahr zum 75. Mal. Er ist mit einer Preissumme von 25.000 Euro verbunden, die von den Verlegern und Buchhändlern aufgebracht wird. Im Friedenspreis wird die Verpflichtung des Buchhandels, mit seiner Arbeit der Völkerverständigung zu dienen, eindrucksvoll sichtbar. Niemals fand ein von einem Berufsstand entwickelter und praktizierter Gedanke solch weltweite Anerkennung.
Traditionell wird der Preis am Sonntag der zumeist im Oktober stattfindenden Frankfurter Buchmesse in der Frankfurter Paulskirche vergeben. Mit dem Deutschen Buchpreis, der am Tag vor dem Beginn der Buchmesse verliehen wird, setzt er ein über die Grenzen hinaus strahlendes Zeichen für die besondere Bedeutung, die Literatur und Wissen für unsere Gesellschaft haben.
Der Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat die polnisch-amerikanische Historikerin und Publizistin Anne Applebaum zur diesjährigen Trägerin des Friedenspreises gewählt.
Die Eingangsrede hielt der Oberbürgermeister Mike Josef von Frankfurt; eine beeindruckende Rede, die sich klar gegen Populismus und Gewalt sowie deren Anhänger richtet.
Daran schloss sich die Rede der Vorsitzenden des Börsenvereins des deutschen Buchhandels an, Karin Schmidt-Friderichs. Sie zog einen Vergleich des Lebenswegs von Anne Applebaum und sich. Sie machte klar, dass die Historikerin und Analystin schon sehr früh vor dem Aufsteigen der Autokraten gewarnt hatte, während im Westen die hoffnungsvolle Zuversicht des ewigen Friedens herrschte.
Vor der Laudatio hielt die Friedensnobelpreisträgerin Irina Scherbakowa, die 2022 Moskau verlassen hatte und seitdem in Deutschland lebt. Ihre Rede richtet sich eindeutig gegen das russische Regime, das so gewalttätig gegen seine Kritiker vorgeht. Sie hob auch hervor, dass sie nicht für sich allein spricht, sondern auch für ihre Mitkämpfer der Organisation MEMORIAL. – Memorial International war die größte und älteste unabhängige Menschenrechtsorganisation Russlands.
Anne Applebaum bedankte sich in ihrer Erwiderung für die Ehre in die Reihe dieser Preisträger, besonders in Deutschland, aufgenommen zu sein. Sie erzählt kurz von ihrer Entwicklung von der Historikerin zur kritischen Analystin, die immer wieder in ihren Büchern vor den alten Plänen der Autokraten warnte, die jetzt ausgeführt werden. In ihrer Rede sprach sich Applebaum für den Einsatz von Waffen in der Ukraine aus. „Um zu verhindern, dass Russland sein autokratisches politisches System verbreitet, müssen wir der Ukraine zum Sieg verhelfen“, sagte sie. „Wer ,Pazifismus‘ fordert und nicht nur Gebiete an Russland abtreten will, sondern auch Menschen, Prinzipien und Ideale, der hat rein gar nichts aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt.“ Die Lehre aus der Geschichte sei nicht, dass Deutsche nie wieder Krieg führen dürfen, „sondern dass sie eine besondere Verantwortung dafür haben, sich für die Freiheit einzusetzen und dabei auch Risiken einzugehen“.
In der Begründung des Stiftungsrats, dessen Vorsitzende Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs ist, heißt es:
„Anne Applebaum hat mit ihren so tiefgründigen wie horizontweitenden Analysen der kommunistischen und postkommunistischen Systeme der Sowjetunion und Russlands die Mechanismen autoritärer Machtergreifung und -sicherung offengelegt und sie anhand der Dokumentation zahlreicher Aussagen von Zeitzeug:innen verstehbar und miterlebbar gemacht. Mit ihren Forschungen zur Wechselwirkung von Ökonomie und Demokratie sowie zu den Auswirkungen von Desinformation und Propaganda auf demokratische Gesellschaften zeigt sie auf, wie fragil diese sind – besonders wenn Demokratien von innen, durch Wahlerfolge von Autokraten, ausgehöhlt werden. Historiographische Erkenntnisse mit wacher Gegenwartsbeobachtung zu verbinden, das gelingt Anne Applebaum in ihren Veröffentlichungen über autokratische Staatssysteme und deren international wirkende Netzwerke. In einer Zeit, in der die demokratischen Errungenschaften und Werte zunehmend karikiert und attackiert werden, wird ihr Werk zu einem eminent wichtigen Beitrag für die Bewahrung von Demokratie und Frieden.“
Anne Elizabeth Applebaum zählt zu den wichtigsten Analytiker:innen autokratischer Herrschaftssysteme. Sie gilt als große Expertin der osteuropäischen Geschichte und hat schon früh vor einer möglichen gewaltvollen Expansionspolitik Wladimir Putins gewarnt. Für ihre Bücher wie Der Gulag(2003), Der Eiserne Vorhang (2012), Roter Hunger (2019) und Die Verlockung des Autoritären (2021), in denen sie den Mechanismen autoritärer Machtsicherung nachspürt, hat sie international große Aufmerksamkeit erhalten und wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Pulitzer-Preis 2004 und zuletzt mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis 2024.
Geboren am 25. Juli 1964 in Washington D. C. als Kind jüdischer Eltern, studiert Anne Applebaum zunächst an der Yale University Russische Geschichte und Literatur, bevor sie in London und Oxford ihren Schwerpunkt auf Internationale Beziehungen setzt. 1988 beginnt sie ihre journalistische Karriere als Auslandskorrespondentin in Polen für die britische Zeitschrift „The Economist“, für die sie vor Ort auch über den Fall der Berliner Mauer berichten kann. Anschließend arbeitet sie für weitere britische Zeitungen wie den „Spectator“, „Evening Standard“, „Daily Telegraph“ und „Sunday Telegraph“. 2002 wird sie für vier Jahre Mitglied im Herausgebergremium der „Washington Post“, für die sie bis 2019 als Kolumnistin tätig ist. Seitdem schreibt sie vornehmlich für die US-amerikanische Zeitschrift „The Atlantic“.
2012 übernimmt Anne Applebaum für ein Jahr den Philippe-Roman-Lehrstuhl für Geschichte an der London School of Economics and Political Science (LSE) und wird zuvor, 2011, Direktorin des „Transitions Forum“ am Londoner Legatum Institute, einem internationalen Think Tank, für den sie unter anderem ein zweijähriges Programm leitet, das die Wechselwirkung von Demokratie und Wachstum in Brasilien, Indien und Südafrika untersucht. Gemeinsam mit dem Magazin „Foreign Policy“ entwickelt sie das „Democracy Lab“, das darstellt, wie Staaten demokratischer bzw. autokratischer werden. Mit dem „Beyond Propaganda“-Programm, das 2014 mit einer Serie von Sendungen über Propaganda und Desinformation startet, nimmt sie die heutigen Debatten über Fake News vorweg. Wegen der zunehmenden euroskeptischen Haltung des Legatum Institute wechselt sie 2017 als „Professor of practice“ zurück an die LSE. 2019 verlegt sie ihr dort konzipiertes Programm „Arena“ über Desinformation und Propaganda im 21. Jahrhundert an das Agora-Institut der Johns Hopkins University in Baltimore, Maryland.
Anne Applebaum, die mit Unterbrechungen seit 30 Jahren in Polen lebt, besitzt seit 2013 neben der US-amerikanischen auch die polnische Staatsbürgerschaft. Seit 1992 ist sie mit dem polnischen Politiker Radosław Sikorski verheiratet, der von 2007 bis 2014 Außenminister war und dieses Amt 2023 wieder übernommen hat. Das Paar hat zwei Söhne.