Intensivkinder

 

Haben diese jungen Menschen kein Recht auf Familie?

 

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Intensivkinder, Eltern, Pfleger, Freunde des Vereins und die Flötistinnen, die den Tag musikalisch begleiteten, winken fröhlich dem Fotografen Christian Schauderna zu. Die Botschaft ist eindeutig: Wir wollen mit unseren Familien leben und nicht in Pflegeheime abgeschoben werden. Foto/Copyright: Christian Schauderna

 

Die Reportage über die Kasseler Intensivkinder wurde von mir am 19. Oktober 2019 gemeinsam mit dem Fotografen Christian Schauderna produziert.  Im November 2018 waren Christine Wagner-Behrendt und Markus Behrendt, Gründer des Vereins IntensivLeben Kassel mit dem Bambi „Stille Helden“ der Illustrierte Bunte ausgezeichnet worden. Die berührende, aber auch optimistisch stimmende, Laudatio hielt der ehemalige Formel-I-Pilot Nico Rosberg.
Ich nahm wenige Tage später mit dem Verein Kontakt auf, doch erst im Oktober 2019 kam es zu dem Termin bei einem „Intensiv-Café“-Treffen zahlreicher Intensivpflegekinder mit ihren Eltern und Pfleger*innen.
Ich erfuhr von menschlichen Schicksalen, die traurig stimmen. Aber ich erfuhr auch vieles über Kraft, Optimismus, Mut, Liebe und Hoffnung. Tief berührt verabschiedeten der Fotograf, Christian Schauderna,  und ich uns nach vielen Stunden im Intensiv-Café. Nachdem der untenstehende Text im Januar 2020 vom Verein freigegeben worden war und alles in der Redaktion der ehemaligen Stadtgottes in St. Augustin vorlag, sollte die Veröffentlichung kurz darauf erfolgen. Doch dazu kam es leider nicht: Die Stadtgottes der katholischen Steyler Missionare wurde in „Leben jetzt“ unbenannt, die Redaktion dezimiert und die Geschichte landete irgendwo im Papierkorb. Traurig, dass eine Kirchenzeitung, die sich mit dem Leben auseinandersetzt, an einem Verein wie IntensivLeben kein Interesse mehr hat.

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Am Ende des Intensiv-Cafés unterhielt ich mich lange mit Markus Behrendt über den Tag, der das ganze Leben seiner Familie veränderte, über den Verein IntensivLeben sowie die rechtlichen und pflegerischen Probleme, die das Alltagsgeschäft der Betroffenen sind. Foto/Copyright: Christian Schauderna

In der Küche klappert Geschirr. Kaffeemaschinen blubbern. Schnittchen werden gerichtet. Frisch gebackener Kuchen wird von helfenden Händen angeschnitten. Nebenan – im Gemeindesaal der Kasseler Christuskirche – werden Tische zusammengerückt, Stühle hin- und hergeschoben. Liebevoll decken zwei junge Damen die Tische ein. An der rechten Wand wird das Buffet aufgebaut. Vier Frauen mit Instrumentenkoffern kommen in den Saal, klappen ihre Notenständer auseinander und entlocken ihren Querflöten die ersten Töne.
Mitten in dem Gewusel steht Markus Behrendt, gibt leise Anweisungen, hilft, wo Not am Mann ist, und wartet auf die ersten Gäste. Alles sieht nach einem völlig normalen Brunch aus.
Doch, hier ist eigentlich nichts normal, wie sich wenige Minuten später zeigen wird, denn an diesem Vormittag dreht sich hier in Kassel im Intensiv-Café alles um Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die durch Unfall oder Krankheit dauerhaft künstlich beatmet und rund um die Uhr gepflegt und betreut werden müssen. Organisiert wird das Kulturangebot regelmäßig vom Verein IntensivLeben, mitgegründet von Christine Wagner-Behrendt und ihrem Mann Markus.
Auch ihr Sohn Jascha (19) ist seit 14 Jahren Intensivpatient und muss rund um die Uhr beatmet und künstlich ernährt werden.
Markus Behrendt: „Wir waren unterwegs zum Kleintierzoo. Jascha rollte mit seinem Rad einen kleinen Weg vor uns einen Hügel hinunter und prallte unten mit dem Kinn gegen einen der niedrigen, eisernen Absperrbügel, die die Autos fernhalten sollen.
Er flog vom Rad und lag regungslos auf dem Weg, als ich mit unserer zweijährigen Tochter Frida, die in einem Fahrradanhänger hinter mir saß, zu ihm kam.“
In der Klinik wurden die schlimmsten Befürchtungen der Eltern grausame Wirklichkeit: Jascha hatte sich das Genick gebrochen und eine Stammhirnblutung erlitten.

Einstimmige Meinung der behandelnden Ärzte: Das überlebt niemand. Da machen wir nichts! Zwar wurde Jascha Behrendt akut künstlich beatmet, aber die Erwartung war, dass der Kreislauf kollabieren wird und die Familie wurde gebeten, Abschied zu nehmen.
„Nur, unser Sohn wollte nicht sterben“, sagt Markus Behrendt, „er hatte sich für das Leben entschieden.“
Tatsächlich: Da der kleine Junge zum Erstaunen der Ärzte nach drei Wochen immer noch lebte, meinten die Mediziner, dass die Eltern über eine Reha nachdenken sollten.
„Das war ein Schlüsselerlebnis“, erinnert sich Christine Wagner-Behrendt, „plötzlich gab es doch eine gemeinsame Zukunft.“ Die Eltern beschlossen: „Da Jascha so einen unbändigen Lebenswillen bewies, wollten wir alles dafür tun, ihm ein lebenswertes Leben in der Familie möglich zu machen.“

Es folgten 12 Monate in Rehakliniken in Oberbayern und Kassel. Um bei ihrem Sohn sein zu können, gab Mutter Christine ihren Beruf als Palliativ-Krankenschwester auf, packte Tochter Frida ein und war fortan ausschließlich an Jaschas Seite. Vater Markus besuchte seine Familie so oft es ging. Viel wichtiger aber war es damals für die Behrendts, dass er in Kassel alle Vorbereitungen für das neue Leben mit einem Intensivkind treffen konnte.
Markus Behrendt: „Wir führten viele Gespräche, um einen Pflegedienst für Jascha zu bekommen. Auch die Finanzierung für den behindertengerechten Umbau unseres Hauses stellte ein Problem dar.“ Also bat er Stiftungen und Förderprojekte um Unterstützung bei der Finanzierung. „Wir brauchten ein größeres Bad im Erdgeschoss, eine Rampe am Eingang, ein Zimmer für den Pflegedienst, einen Anbau für eine größere Wohnküche, in der ein Rollstuhl problemlos bewegt werden kann und noch vieles mehr“
Es waren Monate des Lernens und der Verzweiflung. Monate geprägt von großem Leid, aber auch großer Hoffnung. „Wir haben viel geweint“, erinnert sich Christine Wagner-Behrendt, „fühlten uns oft alleingelassen. Es gab keine Beratung und kaum Vorbilder.“ Doch es gab auch viele Hoffnungsschimmer. Da waren Verwandte, Freunde und Bekannte, die halfen – mit tröstenden Worten, kleinen oder größeren Erledigungen – aber auch mit Geld.
Während ich mich mit Jaschas Eltern unterhalte, füllt sich der Gemeindesaal merklich:
Fabian (29) ist mit seinen Eltern und einer Pflegerin angekommen, rollt zielstrebig an unseren Tisch. Sie leben in einem kleinen Dorf nahe Göttingen: „Unser Junge leidet an Muskeldystrophie. Wir bekamen die Diagnose, als er gerade ein Jahr alt war, genau zu der Zeit, als unsere älteste Tochter konfirmiert wurde“, erzählen die Eltern.
Fabian, dem das wichtige Protein Dystrophin fehlt und deshalb unter Muskelschwäche und ständigem Muskelschwund leidet, ist seit seinem 10. Lebensjahr ständig auf einen Rollstuhl angewiesen. Ebenso auf dauerhafte künstliche Beatmung. Anders als Jascha kann Fabian einzelne Laute formen und auf diesem Weg kommunizieren. Während ich ihn begrüße und Platz für ihn schaffe, rollen seine Augen ständig von links nach rechts und verfolgen interessiert das Geschehen rund um ihn herum.

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Das ist Ella, sie leidet praktisch seit ihrer Geburt an spinaler Muskelatrophie. Große Überlebenschancen gaben ihr die Ärzte nicht. Mittlerweile ist sie ein fröhlicher Teenager, der einen eigenen Internet-Blog „C’ella vie“ betreibt.  Hier berichtet sie über ihren Alltag, ihre Freuden, Probleme und das Leben mit der Krankheit. Gern hört Ella Popmusik. Und wann immer es geht, verreist sie mit ihrer Mutter. Foto/Copyright: Christian Schauderna

Zwischenzeile: Ella hat SMA, liebt Pop und betreibt eine Webseite

Auch Ella Seibert (16) ist gerade mit Mutter Martina und einer Pflegerin ins Intensiv-Café gerollt. Als der fröhliche Teenager gerade mal zehn Monate war, diagnostizierten die Ärzte bei ihr spinale Muskelatrophie (SMA). Das bedeutet: Muskeln bekommen nicht den nötigen Impuls für Bewegungen, da ein Gendefekt verhindert, dass der dafür notwendige Botenstoff gebildet wird. Die Mediziner prophezeiten den Eltern, dass „ich wahrscheinlich nicht älter als zwei Jahre werde“, lacht Ella und erzählt weiter: „Ich kann zwar nicht laufen, wandern oder ohne Hilfsarme meine Finger benutzen und bin auf den Rollstuhl angewiesen. Auch muss ich nachts beatmet werden, damit meine Lunge sich erholt. Aber ich kann denken, sprechen, essen und trinken – wie andere auch.“ Das stimmt: Ella besucht die Schule, bekommt zusätzlich Online-Unterricht, hat viele Freunde, mag Popmusik. Sogar eine eigene
Internetseite betreibt das umtriebige Mädchen. Dort schreibt sie auf erfrischende Art und Weise über ihr Leben mit SMA – die Freuden und Probleme. Am liebsten aber unternimmt sie mit ihrer Mutter Reisen kreuz und quer durch Deutschland.
Plötzlich wird es still im Intensiv-Café – die ersten Flötentöne erklingen. Alle hören den Musikerinnen gebannt zu, lassen sich auch nicht von einem Hund, der frei herumläuft, und einem hyperaktiven Kind, das immer wieder begeistert in die Hände klatscht, irritieren. „Gehört alles dazu“, sagt Markus Behrendt später, „das kann uns nicht erschüttern, wir setzen hier auf unseren engen Zusammenhalt.“

Seit 14 Jahren leben Christine Wagner-Behrendt, ihr Mann Markus und die Töchter Frida (14) und Clara (9) mit Jascha unter einem Dach. „Unser Alltag funktioniert“, sagt Vater Markus. So war es auch 2007, als Jascha schulpflichtig wurde. 

Die Eltern lächeln, als die Erinnerungen wach werden: „Wie Sie wissen, gibt es in Deutschland die allgemeine Schulpflicht. Das galt natürlich auch für Jascha. Also haben wir ihn angemeldet. Aber das Schulamt, die Schule und die Lehrer waren skeptisch. Wahrscheinlich aus Angst vor Komplikationen mit den Kindern, einem Notfall im Unterricht oder irgendetwas anderem. Also haben meine Frau und ich uns auf Wunsch der Schulleitung abgewechselt und sind mit Jascha und seiner Krankenschwester jeden Tag mit in die Klasse gegangen. Nichts ist passiert.“

„Im Gegenteil“, ergänzt Christine Wagner-Behrendt, „es wurde eine tolle Gemeinschaft. Unser Junge fand Freunde, die zu Besuch kamen, war bei Ausflügen dabei und gehörte überall dazu. Auch hat es niemanden gestört, dass Jaschas Essen im Mixer zerkleinert und über einen Schlauch zugeführt werden muss. So konnte Jascha auch mitessen, wenn die Klasse in späteren Jahren zusammen gekocht oder gebacken hat.“

Jascha war Vorreiter für Dinge, die heute normal sind

Nach einem Jahr elterlicher Betreuung überraschte die Klassenlehrerin eines Tages Familie Behrendt mit den Worten: „Alles ist gut, das gesamte Kollegium ist davon überzeugt, dass der Schulalltag mit einem intensivpflichtigen Kinde keine unlösbaren Probleme bereitet. Sie brauchen Jascha nicht mehr zu begleiten.“

„Jascha war Vorreiter für etwas, das heute Normalität ist“, sagt sein Vater.

Daheim spielt sich das Leben mit Jascha komplett im Erdgeschoss ab. Der erste Stock ist ausschließlich privater Rückzugsbereich für Eltern und Geschwister. Im unteren Bereich ist Streit oder lautes Schimpfen tabu: „Weder mit dem Pflegedienst noch mit unseren Töchtern. Jascha soll nicht das Gefühl haben, dass es seinetwegen Streit gibt. Entstehende Konflikte versuchen wir sachlich und lösungsorientiert auszuräumen.“ Auch wird das Pflegepersonal ausnahmslos gesiezt, denn so lässt sich trotz der ständigen Anwesenheit der Pflegekräfte in den eigenen vier Wänden die professionelle Distanz leichter wahren. „Die Mitarbeiterinnen unseres Pflegedienstes gehören in unseren Alltag, aber sie sind nicht Teil der Familie“.

Jascha darf nie unbeaufsichtigt sein, da seine Atmung permanent kontrolliert werden muss. Regelmäßig müssen seine Atemwege abgesaugt werden, da sich sonst das Sekret in der Lunge festsetzen könnte. Das wäre lebensgefährlich.

Kommunikation mit Jascha ist nur über die Augen möglich, da er bis auf Teile der Gesichtsmuskulatur vollständig gelähmt ist: „Zwinkern bedeutet ja, Augenbrauen heben nein“, erzählt Christine Wagner-Behrendt.

In der Praxis bedeutet das: Jascha antwortet mit Zwinkern oder Heben der Augenbrauen auf Fragen. Ob er Musik hören will? Ob er seine Hasen im Garten besuchen möchte, ob er aufstehen oder ausruhen möchte?

Ganz wichtig ist es für Familie Behrendt, dass die Mahlzeiten gemeinsam in der großen Wohnküche eingenommen werden.

Da Jascha nicht selber essen kann, wird er über einen Schlauch ernährt. Auch hier musste die Familie lernen: Die vorgefertigte Sondenkost vertrug er nach mehr als einem Jahr nicht mehr, bekam ständig Bauchschmerzen und brauchte zusätzliche Medikamente.

Also wurde seine Ernährung umgestellt und alles püriert: Brot, Pizza, Fleisch, Kuchen, Döner oder Salat. Jaschas Schwester Clara ist in der Familie mittlerweile zur Pürierspezialistin geworden, zerkleinert im Mixer alles, was gut für Jascha sein könnte.

„Wir wissen nicht, was davon er wirklich schmeckt, aber im Zweifel soll es lecker sein“, sagt Christine Wagner-Behrendt, „über Bauchschmerzen klagt er jedenfalls nicht mehr und ein Großteil der Medikamente konnten abgesetzt werden.“

Aufopferungsvoll kümmert sich Familie Behrendt um ihren Jascha, hat andere private Interessen, wie zum Beispiel weite Reisen, in den Hintergrund gestellt. Regelmäßig nutzt die Familie aber die „Entlastungsaufenthalte“ – wie es im Bürokratendeutsch heißt – im Kinder- und Jugendhospiz Löwenherz bei Bremen. „Hier wird Jascha immer liebevoll betreut“, erzählt Christine Behrendt, „und wir können mit unseren Mädchen Ausflüge machen oder zusammen eine entspannte Zeit erleben.“ 

Eltern und Pfleger sind rund um die Uhr für die Kinder da

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Liebevoll lächelt die Mutter eines Intensivkindes ihren Sohn an. Intensivkinder und ihre Eltern benötigen Tag und Nacht die Unterstützung von spezialisierten ambulanten Pflegediensten. Sie bedienen und überwachen die medizinischen Spezialgeräte, die unter anderem zur Erhaltung der Lebensfunktionen unabdingbar sind.

Trotz aller Unterstützung, bedeutet die Intensivpflege für alle Eltern eine hohe finanzielle Belastung. Nicht zu vergessen, die große physische und psychische Belastung, die ein Leben mit Intensivkindern mit sich bringt. Der Tag im Intensiv-Café hat mir aber gezeigt: Keine Mutter, kein Vater möchte sein Kind in ein Intensivpflegeheim abgeben, so wie es das neue Intensivpflege und Rehabilitationsstärkungsgesetz vorsieht. Trotz massiver Proteste hat der Bundesrat das Gesetz für rechtskräftig erklärt. Für alle Betroffenen ein absolutes Unding. Manchmal frage ich mich wirklich, ob unsere Politiker*innen überhaupt noch wissen, was in Deutschland los ist. Sicher, Intensivpflegekinder mögen eine Minderheit in Deutschland sein. Aber rechtfertigt das, Gesetze auf Kosten der Humanität zu verabschieden, nur, um Kosten zu sparen? Ich meine „Nein!“ Foto/Copyright: Christian Schauderna

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Klar, es ist etwas schwierig, mit einem Intensivkind auf „Tour“ zu gehen. Aber das kann doch kein Hinderungsgrund sein, ihnen ein vernünftiges Leben im Kreise ihrer Familie zu ermöglichen. Natürlich verursachen Intensivkinder immense Kosten. Aber nach § 1 des Grundgesetzes sind alle Menschen gleich. Also gehört es auch zu den Aufgaben der Gesellschaft und des Staates, den Betroffenen und ihren Angehörigen ein adäquates Leben zu ermöglichen. Der Kostenfaktor kann und darf dabei nicht die entscheidende Rolle spielen. Foto/Copyright: Christian Schauderna

Kaum Urlaub vom Alltag, stattdessen immer wieder neue Erfahrungen im Alltag mit einem Intensivpflegekind. Dazu unbezahlbare Kontakte und ein Hilfsnetz, das es Jascha ermöglicht, ein selbstbestimmtes und menschenwürdiges Leben zu führen.
Aus diesem Wissen heraus, gründete das Ehepaar 2012 zusammen mit weiteren Partnern den Verein IntensivLeben Kassel e.V. Das Ziel, ein dichtes Netzwerk aus Ärzten, Pflegern, Therapeuten, Sozialarbeitern und Trägern zu schaffen, das mit Kompetenz und Fachwissen betroffene Familien unterstützen kann, wurde umgesetzt. Der Verein wuchs schnell, so dass im Oktober 2014 eine Beratungsstelle eröffnet wurde.
Hier gibt Christine Wagner-Behrendt ihre Erfahrungen an Angehörige und Pflegekräfte weiter. Mittlerweile nutzen mehr als 70 betroffene Familien diese Möglichkeit und engagieren sich im Verein. Sie kommen nicht nur aus Kassel, sondern auch aus angrenzenden Regionen, denn der Verein hat sich zwischenzeitlich bundesweit einen Namen gemacht, und es musste eine zusätzliche Kraft eingestellt werden, um alle anfallenden Arbeiten zu bewältigen.
Ganz oben auf der Prioritätenliste des Vereins aber stand vom ersten Tag an: „den Intensivkindern den Alltag zu erleichtern und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen“, sagt Christine Wagner-Behrendt. Das stellt den Verein und die Politik vor Herausforderungen, die den Eltern von Intensivpflegekindern große Sorgen bereiten. Da ist zum einen der akute Pflegenotstand in Deutschland. „Davon ist das Leben vieler unserer Familien bedroht“, weiß Christine Wagner-Behrendt. Zu wenig ausgebildetes Fachpersonal, hoher Krankenstand und häufige Kündigungen. Die Situation ist so prekär, dass zahlreiche Pflegeanbieter bereits darüber nachdenken, ob sie derart personalaufwändige Pflegeleistungen wie bei den Intensivkindern überhaupt noch anbieten können.
Und, als wäre dies nicht genug, bereitet den Familien das geplante Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz, das Gesundheitsminister Jens Spahn auf den Weg gebracht hat, großen Kummer. Mit diesem Gesetz will die Regierung die Versorgung von Intensiv-Pflegebedürftigen verbessern. „Das begrüßen wir“, sagt Markus Behrendt, im Gespräch zu dieser Reportage, „aber, es gibt entgegen der angekündigten Verbesserungen auch viele Regelungen, die künftig den Anspruch von intensivpflichtigen jungen Menschen auf Pflege in ihren eigenen Familien gefährden.“ So legt das neue Gesetz fest, dass „bei der Versorgung von Patienten, die 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche von ausgebildeten Pflegefachkräften betreut werden, die stationäre Versorgung gestärkt werden soll. Deshalb sollen die Krankenkassen jeden einzelnen Fall prüfen.“
Markus Behrendt: „Genau hier liegt eines der zentralen Probleme.

Zwischenzeile: Eine Wohngruppe für junge Intensivmenschen

Da die Krankenkassen untereinander im Wettbewerb stehen, werden sie vorrangig nach wirtschaftlichen Aspekten prüfen und handeln. Es ist doch klar, dass es billiger ist, wenn eine Pflegekraft mehrere Patienten stationär gleichzeitig betreuen kann. Die Teilhabe am Leben in der Familie, in Schule und Werkstatt oder an anderen Orten ist dann aber nicht mehr möglich, da die Versorgung nur noch in der Einrichtung gewährleistet ist. Die Mehrkosten sind mit Blick auf die Lebensqualität und die Lebensperspektive der Betroffenen daher absolut gerechtfertigt. Die jungen Menschen aufgrund ihrer Diagnose zu reinen Pflegefällen zu reduzieren ist menschenunwürdig und steht im Widerspruch zum Grundgesetz und anderen geltenden Rechten von Menschen mit Behinderung.“
Im Klartext würde das bedeuten: Intensivpflegepatienten liegen den ganzen Tag auf der Station, können nichts, aber auch gar nichts machen. „Wir gehen mit Jascha in den Park, besuchen Theater und Kino oder sitzen im Eiscafé. Das ist sicherlich jedes Mal sehr aufwändig. Doch, all diese Dinge, die zu seinem Alltag gehören, sind das, was sein Leben trotz der erheblichen Einschränkungen immer noch lebenswert macht“, ergänzt Christine Wagner-Behrendt.

Ein Thema, das auch alle Eltern im Intensiv-Café umtreibt und das heftig diskutiert wird. „Wir wollen mit unseren Kindern leben und dafür sorgen, dass es ihnen, den Umständen entsprechend gut geht“, ist die einhellige Meinung, „wir lassen nicht zu, dass sie auf eine Pflegestation abgeschoben werden.“

Damit nicht genug: Die Eltern haben Angst, was passiert, wenn sie eines Tages nicht mehr in der Lage sind, ihre Intensivpflegekinder zu Hause zu versorgen oder wenn sie sterben.
Markus Behrendt: „Das ist ein wirklich großes Problem. Bislang gibt es kaum geeignete Wohnformen, die sowohl dem Intensivpflegebedarf als auch dem Assistenzbedarf unserer Kinder in angemessener Weise gerecht werden.“

Getrieben von diesen Sorgen und von dem festen Willen, den jungen Erwachsenen mit Intensivpflegebedarf eine Lebensperspektive zu bieten, entwickelte IntensivLeben gemeinsam mit der Lebenshilfe Region Kassel ein neuartiges Projekt: Den Aufbau einer selbstbestimmten Wohngruppe für junge Menschen, wie Jascha, Fabian oder Ella.

„Wir stehen noch ganz am Anfang, aber das zum 1. Januar 2020 in Kraft getretene Bundesteilhabegesetz eröffnet hierfür neue Möglichkeiten.
Deshalb ist es für uns unverständlich, dass durch das geplante Gesetz des Bundesgesundheitsministeriums jetzt wieder neue Hindernisse geschaffen werden sollen“, sagt Markus Behrendt.

Ich frage ihn, ob es nicht fast unmöglich ist, bei den vielen Problemen, Sorgen und Stolpersteinen, die Kraft und den Glauben aufzubringen, dass der Weg weitergehen kann.
Markus Behrendt schaut einen Moment gedankenverloren an die Decke vom Gemeindesaal, sagt dann: „Wissen Sie, noch vor einigen Jahren schauten Passanten betreten weg oder reagierten vorwurfsvoll, wenn Menschen wie Jascha in der Fußgängerzone unterwegs waren. Heute begegnet man uns mit viel mehr Selbstverständlichkeit und häufig auch mit Interesse. Daraus entwickeln sich dann oft Gespräche und sogar Unterstützung für den Verein. Viele Kirchengemeinden in Kassel helfen uns, sei es mit einem Adventsbasar, dem Raum, den wir hier nutzen dürfen, oder durch andere Formen der Unterstützung. Ganz ehrlich, ich glaube fest daran, dass unsere Gesellschaft bereit ist, sich für die Schwächeren einzusetzen. Das gibt uns allen viel Kraft und Zuversicht und ist für uns unverzichtbar.

Der Kaffeenachmittag im Intensiv-Café geht zu Ende. Beeindruckende, intensive Stunden. Während ich mich von den Eltern und ihren liebenswerten Kindern, die wahrhaft ein schweres Schicksal meistern müssen, verabschiede, schießt mir ein Gedanke durch den Kopf: Das einzig Entscheidende im Leben ist, dass wir geliebt werden und diese Liebe auch zu spüren bekommen. Genau dies beweisen hier in diesem Raum alle Menschen. Alle!