Interview mit Daniele Ganser

Daniele Ganser

 

„Das UN-Vetorecht verhindert Frieden“

 

Daniele Ganser traf ich am 26. Mai 2018 im Hamburger  Grand Hotel Elysée  an der Rothenbaumchaussee. Bei strahlendem Sonnenschein verlegten wir das Gespräch kurzerhand ins Freie und setzten uns mit einem Kaffee an einen größeren Tisch unweit des Hoteleingangs. Tatsächlich wurde Daniele Ganser von Passanten und Hotelgästen erkannt und angesprochen. Sie hatten seine Vorträge gehört oder seine Bücher gelesen und wollten so einiges wissen. Geduldig beantwortete er ihre Fragen und nahm sich Zeit für seine „Fans“. Unserem Gespräch tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil, so ergaben sich neue Gesprächsansätze, die sich auch im Interview niederschlugen. Foto/Copyright: Jörg Böthling

Dr. Daniele Ganser (48) ist ein Name, der polarisiert. Für viele gilt er als abgedrehter Historiker, der Verschwörungstheorien verbreitet. Zum Beispiel zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001: Bis heute zweifelt der Schweizer Historiker öffentlich die ermittelten Ursachen für die Angriffe auf das Pentagon und das World Trade Center an und behauptet, dass Unbekannte in der US-Regierung die Anschläge absichtlich zugelassen oder  geplant hätten. Für andere ist Daniele Ganser ein Friedensforscher, der in den USA den stärksten Kriegstreiber der Welt sieht. Darüber mag jeder denken, wie er will …  Tatsache ist: Daniele Ganser hat Alte und Neue Geschichte, Philosophie und Englisch studiert und dabei seinen Schwerpunkt auf Internationale Beziehungen gelegt. 2000/2001 promovierte er zum Doktor der Philosophie. Nach dem Studium arbeitete Daniele Ganser bei Denkfabriken, Forschungsstellen und an Schweizer Universitäten. Da viele Professoren seine Theorien, insbesondere zu 9/11, ablehnten, wurden seine Lehraufträge eingestellt. Grund: Reformen des Studiengangs.
Seit 2011 vermarktet die von Daniele Ganser gegründete SIPER AG seine Bücher und Vorträge.
Monatelang hatte ich mich mit Dr. Ganser beschäftigt – seine Bücher gelesen, Vorträge gehört, mich mit seinen Unterstützern und Gegnern auseinandergesetzt. All das machte mich neugierig auf den Menschen Daniele Ganser. Also nahm ich Kontakt auf und vereinbarte einen Interviewtermin in Hamburg, nahe der Alster. Mit der Chefredakteurin der mittlerweile eingestellten Stadtgottes, Isabel Damm-Jacobs, vereinbarte ich, dass das Gespräch im Dezember 2018 veröffentlicht werden sollte, also stand fest, dass sich Anfang und Ende um Weihnachten und den Jahreswechsel drehen sollte. Über zwei Stunden unterhielten wir uns bei strahlendem Sonnenschein über seine Thesen, Theorien und Denkansätze. Mein Fazit: Ich teile nicht alle Ansichten Daniele Gansers – insbesondere zu 9/11 – aber vielen seiner Überlegungen kann ich folgen, wenn … … aber lesen Sie selbst.

Egal, wie man es auch sehen will: Daniele Ganser argumentiert überzeugend und sachlich. Und, er lässt seinen „Gegnern“ den Raum, den sie ihm manchmal nicht geben. Vor wenigen Wochen ist sein Buch „Imperium USA – die skrupellose Weltmacht“ erschienen. Foto/Copyright: Jörg Böthling

Herr Dr. Ganser, wenn Sie auf die weltweiten Kriege schauen, mögen Sie dann noch Weihnachten feiern?
Ich muss trennen zwischen meiner Arbeit als Friedensforscher und meinem privaten Leben. Was nicht immer einfach ist. Aber ja, natürlich kann ich noch Weihnachten feiern. Mit meiner Frau und unseren beiden Kindern erinnern wir uns an den Sinn des Festes und genießen die Freuden einer glücklichen Familie. Und dann auch beim Jahreswechsel schauen viele Menschen auf ihr eigenes Leben und denken über die Zukunft und das neue Jahr nach. Welche Ziele hat man erreicht? Für welche Werte möchte man sich engagieren? Viele wünschen sich Frieden für sich und für ihre Familie und Freunde. Aber auch ganz generell für die Welt. Für mich als Friedensforscher ist es immer wichtig, auch das Gute zu erkennen, so bleibt man in der Balance. Denn es gibt natürlich auch das Gute.

Was ist für Sie gut?
Vor kurzem habe ich wieder Achtsamkeitsübungen gemacht, also meine eigenen Gedanken und Gefühle beobachtet. Hierbei habe ich mich auf die Symmetrie in der Natur konzentriert. Als der erste Schnee fiel, habe ich meine Augen und Ohren ganz bewusst auf Schneeflocken gelenkt. Ich dachte, das ist doch unglaublich. Selbst wenn ich jetzt Wasser und ein Kühlgerät hätte und sollte eine Schneeflocke nachbauen. Das wäre nicht zu schaffen. Schneeflocken, in ihrer Kleinheit und Exaktheit sind einfach perfekt symmetrisch. Kopieren unmöglich.
Oder im Sommer, nehmen Sie den Stand der Blumen. Zum Beispiel Sonnenblumen. Wie exakt sie ausgerichtet sind, wie perfekt sie sich gen Sonne richten. Phantastisch, was die Natur alles geschaffen hat und immer wieder erschafft…

Also nichts Gutes bei den Menschen …
Natürlich schaue ich auch bei den Menschen immer auf das Gute. Da sehe ich zum Beispiel eine Mutter, die ich kenne, mit zehn Kindern. Kürzlich ist ihr Mann verstorben, sie steht allein da. Wie sie das bewältigt, nicht klagt und die ganze Situation meistert – also, das ist nicht nur gut. Das ist phantastisch. Ich sehe in jedem Menschen grundsätzlich sehr viel Potential, sehr viel Kraft. Das beeindruckt mich.
Sicher, wenn ich auf die Kriege schaue, dann finde ich das traurig und es zieht mich runter. Insbesondere, wenn ich sehe, wozu die Führer vieler Nationen fähig sind und welches Leid sie damit auslösen. Auch dazu ist der Mensch leider fähig: Folter, Kriegslügen, Atombomben.
Stehen wir vor einem neuen Weltkrieg?
Das ist eine Frage der Definition. Meiner Meinung nach sehen wir schon heute internationale Kriege, an denen sich mehrere Staaten aus verschiedenen Kontinenten beteiligen, also Weltkriege.

Stehen wir vor einem neuen Weltkrieg?
Das ist eine Frage der Definition. Meiner Meinung nach sehen wir schon heute internationale Kriege, an denen sich mehrere Staaten aus verschiedenen Kontinenten beteiligen, also Weltkriege.

Das müssen Sie erklären.
Gern. Nach dem Zweiten Weltkrieg, also seit 1945, gab es an verschiedenen Orten der Welt immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen. Diese sind aber zum Glück nicht derart eskaliert, dass es zu einem dritten Weltkrieg kam. Trotzdem haben wir Weltkriege.
Betrachten wir doch einmal Syrien etwas genauer. Allgemein wird hier von einem Bürgerkrieg gesprochen, in dem sich ein Volk gegen einen Diktator auflehnt. Natürlich gab es in Syrien unzufriedene Menschen, die Präsident Baschar al-Assad und sein Regime nicht mehr erdulden wollten. Natürlich hat Assad gefoltert, das ist belegt und das ist falsch. Menschenrechtsaktivisten argumentieren nun, gerade weil es diese Verbrechen gab, muss Assad gestürzt werden. Doch das ist illegal. Viele Länder foltern, leider. Man darf nicht einfach ein Land überfallen und die Regierung stürzen. Was dabei herausgekommen ist, erleben wir jeden Tag.
Wer also genau hinsieht, weiß, der Syrienkrieg war nie ein Bürgerkrieg, sondern seit Beginn ein internationaler Konflikt.

Das bedeutet?
Beginnen wir mit Saudi Arabien und Katar. Die unterstützen die syrische Opposition. Denen geht es bestimmt nicht um Menschenrechte, denn in ihren Ländern gibt es auch Enthauptungen, Folter und keine Gleichstellung der Frauen. Es geht um territoriale Macht und um Öl. Ebenso bei den USA, Frankreich, Großbritannien und der Türkei. Diese sechs Staaten haben Syrien offen und verdeckt angegriffen. Der Syrienkrieg ist also schon ein großer Krieg.
Jetzt gehen wir einen Schritt weiter und nehmen die Freunde Assads, Russland und den Iran, dazu. Dann haben Sie bereits acht Länder. Und wenn Sie die alle auf einer Karte farbig markieren, ja dann, dann sieht es schon ziemlich weltkriegsmäßig aus. Obwohl ich den Begriff ablehne und lieber von einem Nationalitätenkonflikt mit hochexplosiver Brisanz spreche.
Auch Israel zählt zu den Konfliktparteien. Also sind es schon neun. Benjamin Netanjahu schickt Bomben nach Syrien. Assad wehrt sich und beschießt die von Israel besetzten Golanhöhen, die ja zu Syrien gehören und von Damaskus beansprucht werden. Damit bekommt die Kriegskarte eine weitere Farbfläche. Außerdem schwelt so natürlich der seit 1973 bestehende Konflikt, der Kampf um die Golanhöhen wieder hoch. Betrachten wir die bunte Weltkarte, dann sind wir nicht weit von einem Weltkrieg entfernt. Das Tragische: Der Angriff auf Syrien war von Anfang an illegal.

Wieso?
Die am Syrienkrieg beteiligten Länder handeln wider Artikel 2 der UN-Charta von 1949. Dort ist das Gewaltverbot deutlich und klar formuliert: „Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, dass der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden. Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ Das ist doch eindeutig, oder…?

Ja, aber da gibt es einen kleinen Haken, das Vetorecht…
…genau, dieses Vetorecht hemmt alles.  Die fünf Gründernationen, also China, Russland, die USA, Frankreich und Großbritannien können gegen jeden Beschluss des Sicherheitsrates, der über den Weltfrieden wachen soll, ihr Veto einlegen. Und wir wissen ja, wie häufig das passiert. Damit wird alles blockiert und die illegalen Kriege oder Konflikte gehen weiter. Die NATO-Mitgliedstaaten USA, Frankreich und Grossbritannien haben Syrien überfallen. Und im UNO Sicherheitsrat verhindert, dass sie dafür bestraft wurden.

Also sollte das Vetorecht abgeschafft werden…
…das wäre mein Traum. Es gehört wirklich abgeschafft. Dumm nur, dass die ständigen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat auch gegen so einen Vorschlag ihr Veto einlegen können. Das ist doch diese verrückte Konstellation.

Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die jetzige Politik Donald Trumps in diesem internationalen Geschäft?
Donald Trump ist für mich sehr undurchsichtig. Man weiß nie, was er am nächsten Tag macht. Ich persönlich halte ihn für einen Kriegsverbrecher und sage das auch in meinen Vorträgen. Denn auch er hat mit seinen verbalen Drohungen und der Bombardierung von Syrien gegen Artikel 2 der UN-Charta verstoßen.

Auffällig ist, dass Sie eigentlich Ihren Fokus immer auf die USA legen.
Es ist schon so, dass ich meine Blicke stark auf das US-Imperium richte. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Ich habe Englisch studiert. Aber ich kann kein Chinesisch oder Russisch. Ich weiß über diese Länder viel zu wenig und kann die Originaldokumente nicht lesen. Aber seien wir auch ehrlich, vor dieser Sprach- und Wissensbarriere stehen wir alle. Für Historiker aber ist es unerlässlich, die Quellen im Original zu lesen – nicht in einer Übersetzung. Daher arbeite ich zu den USA. Denn die USA sind derzeit das Imperium, also das mächtigste Land. Vergleichbar mit dem Römischen Reich vor gut 2000 Jahren, dem spanischen Imperium aus dem 16. Jahrhundert oder dem britischen im 19. Jahrhundert.

Woran machen Sie das fest?
Ein Imperium ist die größte militärische und wirtschaftliche Macht innerhalb einer Epoche. Wenn wir uns das Bruttoinlandsprodukt der USA ansehen, liegt die USA noch weit vor China auf Platz 1. Zudem ist der Dollar die Weltwährung schlechthin, was zusätzlich ein immenses Machtpotential darstellt. Auch militärisch beherrschen die USA die Welt. Das sehen wir deutlich bei den atomar angetriebenen Flugzeugträgern. Das Land besitzt zehn, die anderen vermeintlichen Großmächte jeweils einen.
Dann die Militärausgaben. Für das kommende Jahr 2019 hat Präsident Trump ein Militärbudget von 716 Milliarden Dollar durchgesetzt. Das ist verrückt. China, weit abgeschlagen, plant mit rund 200 Milliarden Dollar. Russland weniger als 100 Milliarden.
Schon diese Zahlen machen die Kluft deutlich. Nicht zu vergessen, auch bei den Waffenexporten liegt Amerika weit vorn auf Platz 1, der Marktanteil beträgt weit über 30 Prozent. Die USA besitzen zudem mehr als 700 Militärstützpunkte in der Welt. Der bekannteste ist Guantanamo auf Kuba. Aber auch in Deutschland sind 35’000 US Soldaten stationiert. Die USA haben das UNO-Gewaltverbot immer wieder gebrochen. Das alles ist doch nicht mehr normal und widerspricht den UN-Grundsätzen.

Und die Rolle der Geheimdienste?
Ja, wir dürfen auch die Geheimdienste nicht außer Acht lassen, die immer wieder im Hintergrund Einfluss auf Ereignisse in anderen Ländern genommen haben. Nicht nur in den USA. Sondern zum Beispiel auch in Italien. Während meiner Studien zu Geostrategien, habe ich viel zu Italien und der Operation Gladio gearbeitet. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Amerikaner große Sorge, dass die Kommunisten an die Macht kommen würden. Dank einer für damalige Verhältnisse unvergleichlichen CIA-Kampagne wurde dies verhindert. Die Amerikaner entwickelten die „Strategia della Tensione“  (Strategie der Spannung)…

Erzählen Sie mehr.
Gern! 1984 begann der venezianische Untersuchungsrichter Felice Casson ein nicht aufgeklärtes Bombenattentat von 1972 zu untersuchen. Damals untersuchten fünf Carabinieri nahe der Ortschaft Peteano einen an einer Landstraße abgestellten Fiat 500. Als sie den Kofferraum öffneten, wurden drei von ihnen durch eine dadurch ausgelöste Bombe getötet. Für den Anschlag wurden Terroristen der linksextremen „Roten Brigade“ verantwortlich gemacht. Die Täter konnten aber nicht ermittelt werden. Casson entdeckte zahlreiche Unstimmigkeiten in den Ermittlungsakten. Ungereimtheiten, die auf gezielte Manipulationen und ganz gezieltes Fälschen von Beweisen hinwiesen. Schließlich führten ihn seine Ermittlungen auf die Spur des eigentlichen Täters. Es war ein Rechtsextremer, namens Vincenzo Vinciguerra. Er legte ein umfangreiches, ziemlich erschreckendes Geständnis ab.

„Zuerst hat Frankreich die UN-Charta ausgehöhlt“

 

Daniele Ganser ist ein aufmerksamer Zuhörer. Er unterbricht den Reporter nur selten, sondern konzentriert sich voll und ganz auf die gesamte Frage. Seine Grundthese für alle kriegerischen Auseinandersetzungen nach dem Zweiten Weltkrieg ist die UN-Charta von 1949, die nicht nur Stück für Stück ausgehöhlt wurde, sondern ein problematisches Vetorecht der Siegermächte beinhaltet, durch das viele Kriege nicht verhindert wurden. Foto/Copyright: Jörg Böthling

Was sagte er aus?
Er gab zu, dass er von einflussreichen Personen aus dem Staatsapparat gedeckt worden sei. Damit nicht genug: Vinciguerra gestand, dass das Attentat auf die Carabinieri Teil einer umfassenden Strategie gewesen sei. Dieses nannte Casson später Strategie der Spannung. Im weiteren Verlauf seiner Ermittlungen und Recherchen in den Geheimakten des militärischen Geheimdienstes SISMI deckte der umtriebige Untersuchungsrichter auf, dass eine geheime, komplexe Struktur innerhalb des italienischen Staates existierte.  Casson bewies, dass Mitglieder des SISMI, Neofaschisten sowie Teile des von NATO und CIA organisierten Gladio-Netzwerks bis in die 1980er Jahre zahlreiche, politisch motivierte Terroranschläge und Morde in Italien begangen hatten. Dabei hatte ein ausgeklügeltes Netzwerk durch Verbreitung von Fake-News und Fälschung von Beweisen dafür gesorgt, dass alle diese Verbrechen linksextremen Terroristen zugeordnet wurden. Hauptsächlich von den Roten Brigaden. Diese Vorgehensweise zielte auf die bewusste Diskreditierung der in Italien schon immer stark gewesenen Kommunistischen Partei (KPI). Einziges Ziel: Deren Regierungsbeteiligung mit allen Mitteln zu verhindern.

Geben Sie noch ein Beispiel.
Sie erinnern sich an die Kubakrise 1962. Auch dazu habe ich als junger Student in der Schweiz geforscht. Ich habe gedacht, es geht ja gar nicht, dass die Amerikaner vor ihrer Haustür so bedroht werden von den Russen. Ich war fest davon überzeugt, nicht zuletzt daher, weil auch ich ein Kind des Kalten Krieges war. Die Russen sind unberechenbar, ganz besonders Chruschtschow. Das sind böse Menschen, die mit ihren Raketen die Welt vernichten wollen. So hieß es immer und das habe ich geglaubt.
Später dann, ich war so um die 25, habe ich mich während meines Studiums in Basel wieder mit der Kubakrise beschäftigt. Ich habe viel Zeit investiert und ganz verschiedene Quellen studiert und musste erfahren: Die Amerikaner hatten vorher atomare Jupiter-Raketen in der Türkei stationiert und in Kuba versucht Fidel Castro zu stürzen. Völlig illegal. Nur wusste ich lange nichts davon. Da wurde mir klar, dass sowohl in der Schweiz als auch in Westdeutschland oder Österreich immer ein proamerikanisches und antirussisches Bild geprägt wurde. Ausnahme waren vielleicht die 1968er Jahre.

Das war vor den beiden Weltkriegen aber eigentlich anders.
Wenn man zurückblickt, stimmt das. So gab es zum Beispiel enge deutsche Verbindungen ins Zarenreich. Oder das Magdeburger Recht, das bis an die Grenzen Chinas Gültigkeit besaß. Aber, ich forsche über die Geschichte nach 1945. Und da ist es genau andersrum. In den Massenmedien heißt es immer: USA gut. Russland böse. Das ist die Propaganda des US-Imperiums, und die stellt die USA viel zu positiv dar. Das heißt aber nicht, dass ich alles gutheiße, was die Russen machen oder gemacht haben.

Auch das dürfen Sie erklären.
Die Gulags unter Stalin und die damalige Verfolgung und Ermordung von Millionen Russen. Untragbar.
Oder die brutale Niederschlagung des Prager Frühlings vor 50 Jahren. Bis heute nicht hinnehmbar.
Oder die Invasion von Afghanistan 1979. Eindeutig ein illegaler Krieg, der durch nichts gerechtfertigt war. Aber …

… aber …?
… wenn wir uns die Zeit von 1945 bis heute anschauen und eine nüchterne Rechnung aufmachen, dann kommen wir ganz schnell zu dem Ergebnis: Die US-Amerikaner haben mehr Länder bombardiert als irgendeine andere Nation. Das ist meine Kritik, die ich explizit an die US-Regierung und nicht an die Bevölkerung der USA richte. In den USA leben über 300 Millionen wunderbare Menschen, von denen ich während meiner USA-Reisen immer freundlich behandelt wurde. Natürlich gibt es leider auch viele US-Amerikaner, die applaudieren und für jeden kriegerischen Einsatz ohne UNO-Mandat eine Erklärung finden. Aber ein anderer Teil – vor allem sehr gut ausgebildete Menschen – findet Folter und Kriege ohne UNO-Legitimation eben nicht gut und wehrt sich dagegen. Auch gegen die extreme, militärische Expansions- und Drohpolitik von Donald Trump. Auch in den USA gibt es eine Friedensbewegung, das darf man nicht vergessen.

Sie weisen 22 illegale Kriege nach, 13 beschreiben Sie ausführlich. Wann begann eigentlich die Aushöhlung der UN-Charta?
Oh, schon sehr früh. Es waren die Franzosen, die damit begannen. Ein Jahr nachdem sie die Charta unterzeichnet hatten. Frankreich versuchte in Indochina seine Vorherrschaft gegen die Viet Minh, die einen unabhängigen vietnamesischen Staat wollten, zu verteidigen.
Die französische Kolonialmacht wurde durch die japanische Einflussnahme und Besetzung der Kolonie im 2. Weltkrieg entmachtet, was die Viet Minh für die Machtübernahme im Nordteil des Landes nutzten. Nach einer kurzen Phase der Koexistenz zwischen den Viet Minh und den wieder erstarkenden Franzosen, kam es 1946 zum Ausbruch gewalttätiger Auseinandersetzungen. Der erste Teil des Krieges um Indochina begann. Frankreich bombardierte die Stadt Haiphong, es gab 6000 Tote. Das war reine Kanonenbootdiplomatie und Machterhalt. Die „Grande Nation“ hätte dafür vom UNO-Sicherheitsrat verurteilt werden müssen. Doch, das passierte nicht, weil Frankreich ja mit Vetorecht im Sicherheitsrat sitzt.
Während die kämpferischen Auseinandersetzungen in vollem Gange waren, kam es vier Jahre später in der französischen Nationalversammlung zum Eklat. Am 28. Januar 1950 protestierte die französische Abgeordnete der Kommunistischen Partei, Jeannette Vermeersch: „Die Vietnamesen haben Marseille nicht bombardiert. Aber ihr habt Haiphong bombardiert!“ Die mutige Frau scheute sich auch nicht, den französischen Krieg in Vietnam mit dem Angriffskrieg von Deutschland zu vergleichen. „Indem jetzt Franzosen Dörfer in Vietnam verbrennen, begehen sie die gleichen Verbrechen, welche die Nazis in Frankreich vor wenigen Jahren begangen haben.“
Das löste natürlich einen riesigen Tumult in der Nationalversammlung aus. Die Kommunisten klatschten begeistert, die konservativen Parteien riefen: „Genug! Genug! Es reicht mit dem Unsinn. Raus mit dir.“ Oder: „Du bist es nicht wert, Französin genannt zu werden.“
Und der damalige Präsident der Nationalversammlung, Édouard Herriot, schleuderte der mutigen Frau entgegen: „Madame, ich muss Ihnen höflichst sagen, dass Sie auf unerträgliche Art dieses Parlament und die ganze französische Nation beleidigen“, worauf Vermeersch entgegnete: „Dann frage ich – haben wir Haiphong bombardiert oder haben wir Haiphong nicht bombardiert…?“
Was weiter folgte ist bekannt: Die Amerikaner unterstützten ab 1950 die Franzosen mit Waffen und Flugzeugen. Dennoch wurden die Franzosen 1954 nach der Schlacht von Dien Bien Phu zum Abzug gezwungen. Das empfand Frankreich als eine große Schmach.

Aber der Krieg um Vietnam ging weiter?
Damals gab es in Vietnam, wie heute in Korea auch, zwei Länder. Der kommunistische Norden, der von den Chinesen unterstützt wurde. Und den Süden, in dem die USA einen Katholiken als Präsidenten installierten, um den Vormarsch des Kommunismus zu verhindern. Doch 1963 wurde Diem, der im Süden ein äußerst brutales Regime führte und gegen Buddhisten und Kommunisten radikal vorging, gestürzt und erschossen. Damals taten die Amerikaner überrascht, aber durch die Pentagon Papers wissen wir heute, dass die USA gezielt den Sturz und die Ermordung von Diem herbeiführten. Wie sagte seine Witwe schon drei Tage nach dem Tod ihres Mannes so treffend: „Wer die Amerikaner als Alliierte hat, braucht keine Feinde.“ Dann führten die USA Krieg gegen Vietnam, unterlagen aber 1975. Mehr als 3 Millionen Vietnamesen wurden getötet. Aber auch das Vietnam-Debakel war nie von der UNO genehmigt, weder bei den Franzosen, geschweige denn bei den US-Amerikanern.

Ist diese Ignoranz gegenüber der UN-Charta nicht irgendwie zu stoppen?
Schwer! Meiner Meinung nach sind wir in einem Prozess, bei dem immer offensichtlicher wird, dass die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates die Regeln missachten. Das ist, als ob bei einer Fußball-WM fünf Spieler auflaufen, die ständig Fouls begehen, aber nie die Rote Karte bekommen. Warum? Weil die Verantwortlichen für die WM fünf „Permanent Player“ festgelegt haben. Das ist weder im Sport noch bei der UNO zu akzeptieren.
Die einstigen Siegermächte beherrschen die UNO und den Sicherheitsrat. Das ist tatsächlich nicht mehr zeitgemäß.

 

Im Gespräch vor dem Hamburger Grand Hotel Elysée an der Rothenbaumchaussee: Friedensforscher Daniele Ganser und Reporter Thomas Pfundtner. Eines der schönsten Friedensprojekte für Daniele Ganser ist die Wiedervereinigung 1990. „Darauf kann die Menschheitsfamilie stolz sein“, sagte er im Interview. „Ich habe während der Wendezeit, wann immer es ging, vor dem Fernseher gehockt und die Reportagen über den Fall der Mauer und die folgenden Ereignisse in Ostdeutschland gespannt verfolgt. Das war sehr bewegend.“ Foto/Copyright: Jörg Böthling

Also müssten doch die anderen 188 Länder ein Interesse an einer Veränderung haben…
Richtig. Die UNO ist eine Zweiklassengesellschaft mit Ober- und Unterschicht. Dazu gehören natürlich auch Deutschland, die Schweiz oder Österreich. Im Moment ist es in der UNO so, dass eine Reform zwingend nötig wäre, aber der Vorstand das nicht will.
Andererseits, 188 Länder mit den unterschiedlichsten geostrategischen und –politischen Interessen. Wie soll da eine Änderung durchgesetzt werden?  Ein Aufstand der anderen Länder scheitert mit Sicherheit an Interessenskonflikten. Der Sicherheitsrat ist blockiert von fünf Ländern, die im Interesse ihrer eigenen Nationen nicht gerade zimperlich mit Recht und Gesetz umgehen. Das ist bewiesen – durch den Vietnamkrieg, den Irankrieg und viele andere illegale – ich sage sogar – kriminelle Aktionen.

Ihre Kritiker sprechen von Verschwörungstheorien…
… das weiß ich. Aber alles, was ich darlege, sind Fakten, schwierige Fakten, das stimmt. Wir haben schwere Missstände in der UNO und in der internationalen Politik, die wir korrigieren müssen. Nur, wo ist der Schlüssel dazu?
Machen wir uns nichts vor: Die fünf Vetostaaten sind alle irgendwie in politische Verbrechen verwickelt, wenn man die UN-Charta als Maßstab nimmt. Die Amerikaner, die Briten und die Franzosen am meisten, die Russen und Chinesen weniger, das ist meine Analyse. Bei den Russen sind die offensichtlichen Beispiele die Invasion von Afghanistan 1979 oder der Prager Frühling 1968. Bei den Chinesen stufe ich vor allem die Besetzung von Tibet ab 1951 als illegal ein. Bei den Amerikanern reicht die Zeit nicht, um alle Kriege aufzuzählen.

Unabhängig von den Amerikanern, wir wissen ja gar nicht, was alles in Russland oder China passiert.
Was in den Ländern passiert, wissen oder erfahren wir oft nicht. Das ist richtig. Aber die internationalen Konflikte, die kennen wir. Bei meinen Forschungen betrachte ich 193 Staatsgrenzen und schaue, ob es hier widerrechtliche Verletzungen gibt. Wird hier internationales Recht gebrochen?  Es geht mir nicht um nationales Recht. Auch da passieren schreckliche Gräueltaten. Sie sind aber nicht Teil meiner Forschung. Und das vergessen meine Kritiker oft. In der UN-Charta heißt es, alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen  jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.
Auch wenn heute einige Völkerrechtler argumentieren, wenn schwere Verbrechen in anderen Ländern begangen werden, passt die sogenannte Verantwortung für Schutz (Responsibility to Protect) und deshalb dürfen Grenzen überschritten werden. Aber das führt uns ins Chaos, wenn wir die Landesgrenzen nicht mehr achten.
Deshalb sage ich zum Beispiel immer wieder: Deutsche Soldaten sollten weder in Afghanistan noch in Syrien oder Mali sein, sondern in ihren Heimatkasernen. Die Freiheit wird am Hindukusch verteidigt – so ein Quatsch!

 Das widerspricht aber den Bündnisverpflichtungen gegenüber der NATO.
Nein, jedes Land kann selber entscheiden, wann und wo es Krieg führt. Aber, wer hat bei der NATO den größten Einfluss? Die USA. Auch hier ist wieder Erinnerung gefragt: Als 1949 die NATO gegründet wurde hieß es, sie wird nur aktiv, wenn ein Bündnispartner angegriffen wird. Außerdem wollte sie nie außerhalb der NATO-Länder operieren.
1955 wurde Deutschland feierlich in die NATO aufgenommen. Und das, obwohl die NATO auch gegründet wurde, um sich vor einer möglichen erneuten Bedrohung durch Deutschland zu schützen. Nun ging es nur vorrangig nur noch um ein Bollwerk gegen den Kommunismus. Das hat mehr oder weniger gut geklappt.

Bis wann?
1989 mit dem Fall der Mauer änderte sich viel. Damals standen wir für einen Moment vor einem neuen Krieg. Wenn die Russen mit ihren Truppen in der ehemaligen DDR die Öffnung der Grenzen mit Gewalt verhindert hätten, wäre es wahrscheinlich zum Krieg gekommen.
Zum Glück hat Michail Gorbatschow keine Eskalation gesucht.
Die Wiedervereinigung – von der ich ein großer Freund bin – ist wirklich ein wunderbar gelungenes Friedensprojekt. Darauf kann die Menschheitsfamilie stolz sein. Aber dann wurde 1990 der – für mich – entscheidende Fehler gemacht, Deutschland nicht als neutrales Land auf der Weltkarte zu positionieren. Stattdessen wurde das gesamte wiedervereinigte Deutschland in die NATO integriert. Auf Druck und ausdrücklichen Wunsch der US-Amerikaner. Dem hat sich Deutschland gebeugt. Vielleicht auch, weil es für sie geostrategisch interessant war. Was damals niemand ahnen konnte, passierte. Deutschland zog wieder in den Krieg.

Serbien?
Genau. Jugoslawien, seit 1945 Mitglied der UNO, brach in den 1990er Jahren auseinander. Durch eine Reihe von kriegerischen Auseinandersetzungen, an denen auch die NATO beteiligt war. Aber konzentrieren wir uns auf 1999: Am 24. März beginnt die NATO unter Führung der USA und des damaligen Präsidenten Bill Clinton ohne UNO-Mandat, Serbien anzugreifen. Das war illegal. Auch Clinton ist daher ein Kriegsverbrecher. Mit dabei: Großbritannien, Frankreich, Dänemark, Norwegen, Italien, Niederlande, Portugal, Belgien, Türkei, Spanien…

… und Deutschland …
…  und Deutschland! Ein Land, das 50 Jahre kein anderes Land bombardiert hatte. Ein Land, in dem der edle Grundgedanke „Nie wieder Krieg“ in der Bevölkerung fest verankert war und der von allen politischen Parteien respektiert wurde. Ausgerechnet unter einer rot-grünen Regierung mit dem grünen Außenminister Joschka Fischer und dem SPD-Verteidigungsminister Rudolf Scharping, zieht das Land in den Krieg.
Wohl gemerkt: ohne UNO-Mandat. Das hat der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder ja auch später eingeräumt, als er während einer Diskussionsrunde zum Krieg in der Ukraine erklärte, dass man gegenüber den Russen in der Krimfrage nicht zu vorlaut auftreten sollte. Es sei unglaubwürdig, wenn der Westen stets auf das Völkerrecht verweise, „weil ich das nämlich selbst gemacht habe. Ich habe gegen das Völkerrecht verstoßen. Als es um die Frage ging, wie entwickelt sich das in der Republik Jugoslawien, da haben wir unsere Flugzeuge, unsere Tornados losgeschickt und wir haben zusammen mit der NATO einen souveränen Staat bombardiert, ohne dass es einen Sicherheitsbeschluss gegeben hätte.“ 

Wie konnte es dazu kommen?
Ein Grund war der massive Druck der Amerikaner auf Europa. Ein anderer sicherlich eine perfekt arbeitende Propagandamaschine.

Was meinen Sie damit?
Die amerikanische PR-Firma Ruder Finn erhielt Anfang der 90er Jahre mehrere Aufträge von Bosnien, den Kroaten und den Kosovo-Albanern. Die Agentur sollte die Serben als Unterdrücker und Aggressoren darstellen und die Auftraggeber als Opfer. Das ist gelungen, durch zahlreiche Veröffentlichungen und Sendungen in den weltweiten „Massenmedien“. Ich finde es zynisch, dass James Harff, einflussreicher Mitarbeiter bei der PR-Firma, sagte: „Als die NATO 1999 angriff, haben wir eine Flasche Champagner geöffnet.“

Ein wichtiger Punkt war ja damals, dass es in Serbien Konzentrationslager gegeben haben soll. Sie und andere Friedensforscher bestreiten das.
Ja. Es gab keine Konzentrationslager. Das war eine Lüge.

Wie findet man die Wahrheit, die Objektivität?
Wenn es Fakten gibt, die eine Position untermauern. Das Problem ist aber, dass man Millionen von Fakten hat und damit ganz verschiedene Positionen untermauern kann. Daher muss der Historiker immer versuchen, sich ein globales Bild zu machen, was nicht einfach ist. Niemand hat alle Fakten oder den völligen Überblick. Alles Sehen ist perspektivisches Sehen, wie der Philosoph Friedrich Nietzsche richtig sagte.

Was bedeutet die UNO für Sie?
Vor der Gründung der Vereinten Nationen gab es kein weltweit festgeschriebenes Kriegsverbot. Wir haben uns in allen möglichen Varianten umgebracht: Es gab auch viele Religionskriege. Wir sind mit Spitzhacke und Bajonett aufeinander losgegangen. Wir haben uns beschossen und bombardiert. Wir haben Giftgas eingesetzt. Wir haben in Konzentrationslagern die Menschen verrecken lassen. Wir haben Städte ausgehungert. Wir haben wirklich nichts ausgelassen.
Dann kam der Zweite Weltkrieg mit über 65 Millionen Toten. Das war ein Schock. Ein Schock, aus dem die UN-Charta entstand mit der Vision: Nie wieder Krieg – das war ein Bewusstseins-Sprung der Menschheitsfamilie. Und diese Vision darf nicht sterben. Sie ist der wichtigste Referenzpunkt für alle Menschen und für alle Politiker.
Ich komme noch einmal zurück auf Objektivität. Wenn heute Politiker oder Experten sagen, was sollen wir mit der alten Charta, das ist doch nicht mehr zeitgemäß, dann sage ich: Es muss nur ein Punkt verändert werden, das Vetorecht. Alles andere ist wichtig für unser Überleben. Es wäre eine Rückkehr in ein internationales Chaos. In einer Zeit, in der in neun Ländern über 15000 Atombomben bereitstehen. Das kann doch nicht sein.

Auch für Daniele Ganser steht fest, dass Rechtspopulismus und extremer Nationalismus eine große Gefahr für die Nationen bedeutet. Auch deshalb hat er sich zum Ziel gesetzt, die Menschen mit seiner Arbeit aufzuklären – in einer Zeit, in der es unendlich mehr Informationen gibt als früher. Nach seiner Meinung waren die Menschen früher sehr viel politischer, während sie heute schon an einfachen historischen, gesellschafts- oder sozialpolitischen Fragen scheitern.
Foto: Copyright: Jörg Böthling

Bei unberechenbaren Politikern wie Donald Trump oder Kim Jong-un kann es gefährlich werden, oder?
Das ist so. Deshalb ist ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit, die Friedensbewegungen zu stärken. Vorbild sind für mich die 68er Jahre. Wie sich die Menschen damals gegen den Vietnamkrieg aufgelehnt haben. Wie die politischen Machtverhältnisse beeinflusst und verändert wurden. Ich war damals nicht dabei, ich wurde erst 1972 geboren. Aber was ich darüber gelesen habe oder in Gesprächen erfahren konnte – eine unglaubliche Zeit.
Ich habe mir zum Ziel gesetzt, die Menschen mit meiner Arbeit aufzuklären. In einer Zeit, in der es unendlich mehr Informationen gibt als damals. Damals haben die Menschen weniger Informationen bekommen, waren meiner Meinung nach, aber sehr viel politischer. Heute scheitern doch viele schon an Fragen wie, „Was bedeutet Völkerrecht?“ oder „Wie funktionieren die Medien?“ Ein Ziel ist für mich, viele Menschen auf ein viel klareres Niveau zu bringen im Bereich der Information über Krieg und Frieden.

Glauben Sie, das interessiert?
Zumindest eine Minderheit. Ich halte meine Vorträge nur in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Dort leben etwa 100 Millionen Menschen. Mit meinen Büchern, Vorträgen und den Views im Internet erreiche ich vielleicht ein bis 1,5 Prozent des deutschsprachigen Raumes. Ja, das ist eine Minderheit. Aber eine engagierte. Und es gibt eine Menge, die diese Menschen vereint: Sie wollen keine Kriege, keinen Terrorismus, keinen Rassismus. Ihnen ist das Leben heilig. Egal, ob sie aus der christlichen Tradition, aus der muslimischen oder jüdischen Welt stammen. Auch Atheisten, die Werten wie Mut und Wahrheit verpflichtet sind, kommen zu meinen Vorträgen. Es kommen junge und ältere Menschen, einige sind spirituell, andere ökologisch orientiert. Noch ist es eine Minderheit, aber es werden immer mehr, die keine Kriege und keine Kriegspropaganda mehr wollen und auf der Suche nach einem alternativen, und vor allem glücklichen Leben sind. Wir leben in einer Zeit, in der das alte römische Prinzip „Brot und Spiele“, also der Ablenkung von Realitäten und Problemen eine völlig neue Bedeutung bekommen hat. Glanz und Glamour, royale Hochzeiten, Mode und Schönheit, ewige Jugend, Profisport , die Unendlichkeit des Internets – all das scheint wichtiger zu sein, als das, was wirklich passiert auf der Welt.
Das geht aber nur solange gut, bis der Leidensdruck nicht mehr zu ertragen ist. Bester Beweis dafür waren die zwanziger Jahre – es war wie ein Tanz um das Goldene Kalb, bevor alles zusammenbrach.
Hier spüre ich die Veränderungen. Die Menschen, die in meine Vorträge kommen, sind Flüchtlinge aus Syrien oder aus Afghanistan. Es sind Bundeswehrsoldaten, die im Ausland im Einsatz waren. Und es sind Menschen, die nicht mehr alles glauben, was ihnen vorgesetzt wird. Es sind Politikverdrossene, die sich nicht mehr von der Elite vertreten fühlen. Da tut sich eine Menge. Das stimmt mich optimistisch.

Philosophisch betrachtet könnte das aber auch bedeuten, die Menschen müssen immer erst schlimme Erfahrungen machen oder enttäuscht werden, bevor sie umdenken. Kein Syrer, der vor dem Krieg nach Deutschland geflüchtet ist, wird sagen, Bomben und Tod sind nicht schlimm.
Stimmt. Es ist aber nicht nur eine pädagogische Katastrophe, sondern es sind auch die radikalen Entwicklungen, die wir gerade erleben:
Wir leben in einer Welt, die jederzeit von 15000 Atombomben zerstört werden könnte. Das gab es noch nie in der Geschichte der Menschheit.
Wir erleben eine digitale Revolution, die alles verändert. Noch stärker als die Erfindung des Buchdrucks. Alles wird auf den Kopf gestellt. Alle Menschen müssen umdenken, da alles digital wird – von der Banküberweisung, über die Fotografie bis hin zum Homeoffice. Das wird viel verändern, zum Positiven.
Negativ und bedrohlich aber ist: Die digitale Revolution hat auch die Kriegsführung erfasst.
Seit 2001 kreisen Drohnen über unseren Köpfen, die Raketen abschießen und Menschen töten können. Noch werden sie von Menschen gesteuert …

… die aber ganz woanders sitzen …
Richtig, ganz woanders. Noch. Aber das ist auch nur noch ein Übergang, irgendwann wird das alles über Rechner und Server gesteuert. Dann haben wir das, was wir die sogenannten Killerroboter nennen.
Killerroboter kommen in diesem Jahrhundert. Das ist Realismus, kein Kaffeesatzlesen. Darauf müssen wir uns einstellen. Deshalb dürfen wir die UN-Charta nie abschaffen, weil sie die Staaten noch ein wenig an die Kandare nimmt. Das erkennen immer mehr Menschen und deshalb wird die Friedensbewegung wachsen und hoffentlich ein Korrektiv gegen unbeschränkte Macht, Kriegstreiberei und Profitdenken.

Ein gutes Stichwort. Profitdenken. Welche Rolle spielen denn wirtschaftliche Interessen in dem System?
Unternehmen haben grundsätzlich nur ein Ziel: Geld verdienen oder Gewinnmaximierung. Jetzt kommt es aber darauf an, womit Geld verdient wird – mit Kriegsgerät oder zum Beispiel mit Solarenergie. Solarenergie ist gut, denn es entsteht eine dezentrale Energieversorgung, die unabhängig ist von fossilen Brennstoffen. Oder man kann Landminen herstellen. Sie können mit beidem Geld verdienen. Kriegsgerät ist natürlich schlecht, das brauche ich nicht weiter auszuführen.
Jetzt haben wir aber das Banken- und Börsensystem, und da zählt ausnahmslos nur eins: der Profit und immer höhere Renditen. Oft gnaden- und rücksichtslos auf ethische, moralische Fragen oder auf Nachhaltigkeit und Verantwortung. Aber dieses ethische Investieren oder diese Corporate Social Responsibility das sind Themen, die rumgereicht werden, Nachhaltigkeit, Pensionskassengelder, wo sind die investiert? Auch hier gibt es viel Potential, um eine Entwicklung zum Guten zu stärken.

Und die Politik?
Nach den vielen Lügen haben die Politiker stark an Vertrauen verloren. Aber Politiker können auch Überraschendes leisten. Beispiele sind Gandhi mit seinem Friedensmarsch durch das Land oder Nelson Mandela. Der saß Jahrzehnte im Gefängnis, eingekerkert von den Weißen. Dann kommt er raus und denkt nicht an Rache, sondern an Versöhnung und leitet damit das friedliche Ende der Apartheid ein. Das ist Politik für die Menschen. Politik, die auf Bedrohung und atomare Macht setzt, muss beendet werden.
Es ist doch schlimm, dass Milliarden mit Krieg umgesetzt werden und uns juckt das nicht. Mit dem Pentagon Budget von über 700 Milliarden Dollar könnte problemlos der Hunger auf der Welt besiegt werden. Und es bliebe noch genug Geld übrig, um den Menschen in den Entwicklungsländern wirtschaftliche Existenzen zu ermöglich. Aber nein, das passiert nicht. Stattdessen fließt diese Summe in den Verteidigungshaushalt des Pentagons. Dank einer funktionierenden Lobby, die die entsprechenden Hebel ansetzt. Sprich, Beeinflussung, Bestechung und Korruption. Im Grunde genommen ist es den Mächtigen aus der Militär- oder Finanzwirtschaft doch egal, wer an die Macht kommt. Im Wahlkampf werden alle Kandidaten oder Parteien unterstützt, so dass es eigentlich gleichgültig ist, wer die Wahlen gewinnt. Hauptsache das Geschäft floriert weiter.
Politiker sind mittlerweile, besonders in Amerika fällt das sehr auf, eine abgeschottete, elitäre Schicht. Es gibt keine Volksvertreter mehr, die von unten oder aus der Mittelschicht kommen. Die Oligarchen regieren auch in Washington.

An erster Stelle steht für Daniele Ganser Toleranz: „Wir Menschen tendieren leicht dazu, in Dogmatismus zu verfallen und keine anderen Meinungen mehr zuzulassen. Es gibt einen Trick, um aus einem Dogma auszubrechen: „Glaube nicht alles, was du denkst.“ Foto/Copyright: Jörg Böthling

Welchen Einfluss haben dann noch Kirchen oder der Papst?
Ich denke schon, Papst Franziskus ist ein Revolutionär und Humanist, der gehört wird. Er ist ein wahrer Freund der Menschen und er liebt das Leben. Dieses Prinzip „Du sollst nicht töten“ ist ja nicht irgendein Prinzip, sondern ist ein zentrales Grundprinzip, auf dem die Gesellschaft aufgebaut ist. Man muss nicht an Gott glauben, um ethisch zu sein. Für alle Menschen, egal, ob Atheist oder Glaubender sind ethische Prinzipien im Leben verankert. Und da ist natürlich Franziskus ein ethischer Führer. Es gibt Millionen Menschen in den katholischen Ländern, die natürlich viel genauer hinhören, wenn er etwas sagt, als in anderen Ländern. Das haben wir gerade in Irland erlebt. Franziskus hat sich für Kindesmissbrauch und Zwangsadoptionen entschuldigt. Denn auch die Kirche hat ihre Verbrechen, die angesprochen werden müssen, denken Sie an die brennenden Scheiterhaufen und die Religionskriege. Diese Zeit der Verbrechen muss jetzt überwunden werden. Überall auf der Welt sollten sich die geistigen und religiösen Führer für den Weltfrieden einsetzen und ethische und moralische Grundwerte anmahnen.

Wie ist das mit den Zehn Geboten. Reichen die noch als Richtschnur in der modernen Welt?
Das sind sehr wertvolle Gebote. Schon das Gebot: „Du sollst nicht töten“ würde, wenn es denn befolgt würde, eine Revolution auslösen. Leider ist die Menschheitsfamilie zu zerrüttet und gespalten. Und noch immer gibt es geistige Führer, die aus Machthunger alles daran setzen, Einigkeit zu verhindern und zu Gewalt aufrufen.

Was können wir persönlich im Alltag noch tun?
An oberster Stelle steht für mich mehr Toleranz. Wir Menschen tendieren leicht dazu, in Dogmatismus zu verfallen und keine anderen Meinungen mehr zuzulassen. Etwas mehr Toleranz, besonders im Alltag würde uns allen sehr gut tun. Das Beharren auf Dogmen führt zu Terrorismus, Krieg und Zerstörung – physisch und psychisch. Letztendlich führen Dogmen und das sture, uneinsichtige Beharren auf dem einen Standpunkt zur geistigen Diktatur. Scheinbar aber lieben Menschen Dogmen, weil sie so nicht selber zu denken brauchen.
Es gibt einen Trick, um aus einem Dogma auszubrechen: „Glaube nicht alles, was du denkst.“ Das bedeutet, stelle dich kritisch deinen Gedanken! Nimm das auf, was andere meinen. Nur so erweiterst du dein geistiges Spektrum auf Dauer. Und sei achtsam.
„Wir haben alle unsere Maßstäbe in uns selbst, nur werden sie zu wenig gesucht“, schrieb die Widerstandskämpferin Sophie Scholl als 19-Jährige in einem Brief an ihren Verlobten Fritz Hartnagel im Zweiten Weltkrieg. Dieser Satz sollte unsere Richtschnur sein.

Letzte Frage, was wünschen Sie den Menschen für 2019?
Selbstverständlich Gesundheit und Glück. Aber da ist noch etwas. 1982 verfassten die Bürgerrechtler Robert Havemann und Rainer Eppelmann den „Berliner Appell – Frieden schaffen ohne Waffen“. Er wurde damals zu einem mächtigen Schwert der Friedensbewegung. Es wäre schön und wichtig, wenn dieser Satz die Menschheitsfamilie erneut beflügelt, um uns dem Weltfrieden etwas näherzubringen.

Vor dem Hamburger  Grand Hotel Elysée an der Rothenbaumchaussee konnte ich mich über zwei Stunden mit Daniele Ganser unterhalten. Wir diskutierten, insbesondere über die Frage, warum auch er sich ausgerechnet immer wieder an den USA abarbeiten würde. Darauf erklärte er unter anderem: „Die US-Amerikaner haben mehr Länder bombardiert als irgendeine andere Nation. Das ist meine Kritik, die ich explizit an die US-Regierung und nicht an die Bevölkerung der USA richte. In den USA leben über 300 Millionen wunderbare Menschen, von denen ich während meiner USA-Reisen immer freundlich behandelt wurde. Natürlich gibt es leider auch viele US-Amerikaner, die applaudieren und für jeden kriegerischen Einsatz ohne UNO-Mandat eine Erklärung finden.“ Fotos/Copyright: Jörg Böthling

Bücher Daniele Ganser

2022-10-09T12:59:46+02:00
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