Interview über NCL-Kinder

 

Dr. Frank Stehr: „Eines Tages wird auch NCL geheilt“

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Mit Dr. Frank Stehr sprach ich ausführlich über NCL. Das Interview zu Kinder-Demenz erschien in Auszügen in der ehemaligen Stadtgottes. Hier lesen Sie jetzt das komplette Gespräch. Bis heute bin ich im Austausch mit Dr. Frank Stehr, der Vorstand der gemeinnützigen NCL-Stiftung ist. Übrigens: Schirmherr ist der Schauspieler Jan Josef Liefers. Er hat schon im Fernsehen viel Geld für die wichtige Arbeit der Stiftung erquizzelt“. Foto/Copyright: Jörg Böthling

Der Biochemiker und Molekularbiologe Dr. Frank Stehr arbeitet seit 2003 hauptamtlich für die Hamburger NCL-Stiftung, ist seit 2013 geschäftsführender Vorstand. Ich traf ihn zum ersten Mal 2017 in Hamburg zum Gespräch.

Herr Dr. Stehr, seit einem Jahr steht Kinderdemenz verstärkt im öffentlichen Fokus. Aber, was ist das für eine Krankheit?

Eigentlich heißt die Krankheit NCL. Das bedeutet Neuronale Ceroid Lipofuszinose. Aber mit dem Begriff kann niemand etwas anfangen. Also hat sich im Volksmund Kinderdemenz durchgesetzt, obwohl dies nur das Hauptsymptom ist.

Bevor Sie die Krankheit beschreiben, wann wurde sie entdeckt?

1826 wurde sie von dem Arzt Otto Christian Stengel das erste Mal beschrieben. 

Er lernte in Norwegen eine Familie mit zwei betroffenen Kindern kennen. In skandinavischen Ländern kommt NCL oft vor. Im englischen Sprachgebrauch wird NCL auch als Battens Desease bezeichnet. Frederic Batten war ein englischer Kinderarzt, der um 1906 ebenfalls NCL beschrieb. Dank der Forschung wissen wir, NCL tritt in unterschiedlichen Arten auf. Mittlerweile kennen wir dreizehn unterschiedliche NCL-Formen, die sich immer in Kleinigkeiten unterscheiden.

Was ist gleich?

Es ist eine Erbkrankheit und es ist immer ein bestimmtes Gen betroffen. 

Beschreiben Sie bitte die Krankheit und den Verlauf.

Bis zur Einschulung entwickeln sich die Mädchen und Jungen völlig normal. Es gibt bei den U-Untersuchungen keine Auffälligkeiten, obwohl sie den genetischen Defekt bereits in sich tragen und er ausbrechen wird. Bis zu den ersten Symptomen ist es eine unsichtbare Krankheit, die aber aufgrund der Seltenheit meist erst sehr spät erkannt wird. Doch dann erleiden die Kinder wie aus heiterem Himmel eine Sehschwäche. Die Kinder bekommen Probleme, etwas zu erkennen oder scharf zu sehen. Natürlich bekommen die Betroffenen eine Brille verschrieben. Aber die hilft nichts,…

Warum…?

… in der Netzhaut sterben mit rasanter Geschwindigkeit die Nervenzellen ab, so dass die Kinder in maximal drei Jahren vollständig erblinden. 

Und dann?

Gleichzeitig zur Erblindung findet ein geistiger Abbau statt – die Demenz setzt ein. Die Kinder bekommen Probleme in der Schule, weil sie alles Gelernte schnell wieder verlernen. Die schulischen Leistungen fallen ab. Viele denken dann, das Kind ist faul. Aber das Mädchen oder der Junge kann nichts dafür, denn seine Nervenzellen im Gehirn sterben ab. Auch werden sie immer unbeholfener, fallen oft hin, können nicht mehr laufen und müssen in den Rollstuhl.

Im Teenageralter kommen dann noch epileptische Anfälle dazu. Auch Angstzustände und der Verlust der Sprachfähigkeiten treten ein.

Wie geht es weiter?

Fast alle NCL-Kinder entwachsen dem Teenageralter und werden selber junge Erwachsene. Irgendwann beginnen sie unter Schluckstörungen zu leiden, weil sie vergessen haben, wie das geht. Schlucken ist ein unbewusster Reflex, der angeboren ist, aber NCL-Patienten scheinen das zu vergessen. Aus Angst vor dem Verschlucken des Essens, verweigern sie die Nahrungsaufnahme.

Jetzt müssen – in den meisten Fällen – die Eltern entscheiden, ob sie ihrem bettlägerigen und pflegebedürftigen Kind eine Magensonde legen lassen oder nicht. Entscheiden sie sich für die künstliche Ernährung, können die NCL-Patienten bis zu 30 Jahre alt werden. 

Das heißt, NCL-Kinder sind zum Tode verurteilt – entweder früher oder später.

Letztendlich ist es so. Mit Wissen um die Diagnose steht fest, dass die Kinder vor den Eltern gehen werden. Was eigentlich nicht sein sollte. Für Eltern und Angehörige bedeutet dies eine extreme psychische und physische Belastung.

NCL ist genetisch bedingt, sagen Sie. Bitte erklären Sie das. 

Alle NCL-Krankheitsformen werden autosomal rezessiv vererbt. Das heißt, beide Elternteile, also Vater und Mutter haben einen Gendefekt, der sie selbst nicht krank macht, weil unsere Erbanlagen doppelt vorhanden sind. Dieser Gendefekt wird also durch ein gleichartiges gesundes Gen ausgeglichen. Nur wenn ein Kind diesen Defekt von beiden Eltern erbt, erkrankt es an NCL. Es ist tatschlich eine der seltensten Krankheiten überhaupt. 

Wenn die Mutter schwanger wird, besteht – statistisch gesehen – ein Risiko von 25 Prozent, dass das Kind später an NCL erkrankt. Aber das ist nur Statistik. Ich kenne eine Familie im Stuttgarter Raum mit mehreren Kindern. Sie bekamen Zwillinge, bei denen NCL diagnostiziert wurde. Als die Eltern das erfuhren, haben sie die Geschwister testen lassen – und auch bei einem jüngeren Bruder wurde die Krankheit entdeckt. 

Das bedeutet, das Kind trägt den Träger im Körper, die Krankheit muss aber nicht ausbrechen?

In diesem Fall weiß man, es kommt zum Ausbruch. Dem Kind fehlt in der Zellmembran ein Protein, dessen Wirkung wir noch nicht erforscht haben. Bei anderen muss es nicht sein. Aber, es ist wahrscheinlich, dass ein Kind mit NCL-Eltern genauso wieder Träger ist. Wenn er später mit einer Partnerin, die ebenfalls NCL in sich trägt, ein Kind bekommt, liegt die Wahrscheinlichkeit bei 50 Prozent, dass es ebenfalls NCL-Träger ist und die Krankheit ausbricht. 

Was können werdende Eltern tun?

Ich denke, es macht Sinn vor einer Schwangerschaft Mutter und Vater auf den Gendefekt hin untersuchen zu lassen. In diesem Fall wird von präkonzeptioneller Diagnostik gesprochen. Allerdings müssen hier auch ethisch moralische Fragen berücksichtigt werden.

Die NCL-Stiftung geht an 20 Hamburger Gymnasien in den Genetik-Unterricht und bespricht genau diese Themen, da es die jungen Leute sind, die in Zukunft von möglichen Erbkrankheiten betroffen sein könnten.

Wie läuft das ab?

Ein Beispiel: Eine Lerneinheit ist die sogenannte Konsensus- Konferenz. Wir lassen die Schülerinnen und Schüler sich in verschiedene Interessengruppen aufteilen: Kirche, Politiker, Versicherer, Betroffenenverbände, Mediziner. 

Dann sollen sie darüber diskutieren – was wäre, wenn Menschen sich testen lassen könnten, ob sie Träger für autosomal rezessiv vererbte Krankheiten sind. Macht das Sinn? Sollte das gemacht werden? Was wäre die Konsequenz daraus? 

Übrigens: Ein entsprechender Diagnostikchip befindet sich in der Entwicklung. Eine amerikanische NCL Stiftung – die Beyond Batten Desease Foundation – hat sich bereits vor Jahren diese Gedanken gemacht und dann einen Diagnostikchip entwickelt, der mittlerweile 700 verschiedene schwere, bis tödlich verlaufende Krankheiten abdeckt. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Letztendlich würde das auf den geklonten Menschen herauslaufen. Ist das ethisch und moralisch gerechtfertigt? 

Genau das ist die Frage! Darum ist es so wichtig, darüber bereits mit jungen Leuten zu diskutieren. Ich denke, es gibt kein eindeutiges Ja oder Nein. Natürlich steht fest, dass über diese Diagnostikchips möglicherweise Krankheiten verhindert werden könnten. Was wäre, wenn Eltern oder Erwachsene, die einen Kinderwunsch haben, wüssten, dass sie Träger für eine dieser Krankheiten sind. Was wäre dann der nächste Schritt? Entscheiden sie sich gegen Kinder oder eine künstliche Befruchtung, denn die befruchtete Eizelle könnte ja auch getestet werden. Adoptieren sie Kinder? Sagen sie vielleicht: „Wir gehen das Risiko ein.“ 

Es gibt viele Möglichkeiten. Und diese Entscheidung darf nicht per Gesetz geregelt werden, sondern muss eine Individualentscheidung bleiben. Ich denke, zu dem Zeitpunkt, an dem die Tests möglich sind, wird nicht verhindert, dass Kinder mit der Veranlagung geboren werden.

Ich möchte auch daran erinnern, dass Forschung und Lehre auch dazu beitragen, Krankheiten zu besiegen. Bei NCL wurde jetzt für eine Form sowohl in Europa als auch in Amerika eine Enzymtherapie zugelassen. Zuvor gab es eine klinische Studie, die zeigte, dass bei 87 Prozent der behandelten Patienten eine deutliche Verlangsamung des Krankheitsverlaufs eintrat. Das heißt natürlich nicht, dass die Kinder geheilt sind, aber die Krankheit wurde verlangsamt. Ein erster Schritt … 

Wie viele Kinder sind betroffen?

Wir gehen in Deutschland von 700 Fällen aus, weltweit werden es circa 70.000 sein. 

Was erwidern Sie Menschen, die meinen, bei nur 700 Fällen würde sich der Aufwand doch gar nicht lohnen.

Das ist eine gute Frage, denn damit werden wir auch konfrontiert. 

Zum einen sollte sich diese Person erst mal in die Lage einer betroffenen Familie versetzen. Jeder sollte sich klarmachen, es sind ja nicht nur die NCL-Kinder betroffen. Das sind die Eltern, die gesunden Geschwister, verzweifelte Großeltern, die sehen, wie es ihren Enkeln geht, wie ihre eigenen Kinder leiden. 

Es ist eine hohe Belastung für die Pfleger, für die Pädagogen. Das heißt also, ja, ein Kind ist betroffen. Aber, wie viele Menschen in Mitleidenschaft gezogen sind, durch diese eine Erkrankung – dieses Ausmaß ist wirklich nur schwer vorstellbar. 

Wenn ich nur aus Sicht der Forschung antworten müsste, würde ich sagen: Gerade bei der Forschung zur Heilung von seltenen Krankheiten, stellen wir immer wieder fest, dass es Überschneidungen mit sogenannten häufigen Krankheiten gibt. Wenn wir in die Erforschung von NCL investieren, kann es also gut sein, dass wir vielleicht auch etwas finden, von dem andere Patientengruppen profitieren. 

Man darf sich Forschung nicht als Einbahnstraße vorstellen, sondern man wirft schon einen genauen Blick auf verwandte Gebiete zum Beispiel: Was können wir aus der Alzheimerforschung, aus der Augenforschung oder Netzhauterkrankungsforschung lernen für NCL, aber auch umgekehrt. 

Wird Kinderdemenz eines Tages heilbar sein?

Daran glaube ich ganz fest. Wie gesagt, bei einer NCL-Form haben wir schon Fortschritte erzielt. Ich glaube fest daran, dass Kinderdemenz eines Tages heilbar sein wird. Aber wann, das kann ich nicht sagen.