Kati Naumann
„Der Rennsteig wird immer meine Heimat bleiben“
Kati Naumann am Rennsteig – hier ist sie groß geworden, hier hatte sie unvergessliche Erlebnisse als Mädchen und Teenagerin. Eigentlich lebt sie in Leipzig, doch sie schreibt am liebsten am Rennsteig. Nach der Wende verliebten sich ihre Kinder, ihr Mann, Tobias Künzel und sie sich in London, verbrachten dort viele Monate. Doch, egal, wie reizvoll die pulsierende, britische Hauptstadt auch sein mag, für Kati Naumann hat der Rennsteig mehr zu bieten, nämlich Bodenständigkeit, Erdung und inneren Halt. Foto/Copyrigt: Oliver Giel
Wandern am Rennsteig mit Schriftstellerin Kati Naumann, die mit „Was uns erinnern lässt“ 2019 einen wunderbaren Familienroman veröffentlicht hat. Darin geht es um ein Tabuthema aus DDR-Zeiten, deutsch-deutsche Beziehungen nach der Wende, eine berührende Familiengeschichte und eine außergewöhnliche Freundschaft. Kaum hatte ich den Roman in der Hand, konnte ich ihn nicht mehr loslassen und habe die Seiten „gefressen“.
Ich hatte an einem Sonnabend bei der Rückfahrt von Biederitz bei Magdeburg nach Bad Wimpfen am Neckar im Radio bei MDR-Kultur ein Interview mit ihr gehört und wollte unbedingt mit Kati Naumann wandern gehen. Nach anfänglichem Zögern willigte sie ein und wir trafen uns für ein Interview oder eine Reportage am 24. Mai 2019. Anfangs verlief das Gespräch verhalten und zögerlich, so als ob Ost und West sich erst einmal abchecken wollten, aber dann entwickelte sich ein lebhafter Dialog und eine tolle Diskussion.
Mit dabei war der Fotograf Oliver Giel, (Giel-Bildwelten) aus Haßfurt. Er machte den ganzen Marsch mit, hielt sich dezent im Hintergrund und hat Kati Naumann perfekt ins Bild gesetzt. Dafür vielen Dank.
Auch diese Reportage war eigentlich für die Stadtgottes bestimmt, ist aber leider nie erschienen. Jetzt findet sie hier einen gebührenden Platz und hoffentlich viele Leser und Leserinnen.
Mit Kati Naumann wanderte ich für das Interview, aus dem dann eine Reportage wurde, am Rennsteig. Während der Wanderung kam mir immer wieder ein Satz meines verstorbenen Bruders Wolf-Michael in den Sinn: „Auch Schweigen will gelernt sein.“ Tatsächlich wechselten Kati Naumann und ich oft minutenlang kein Wort, sondern ließen die Stille der Natur auf uns wirken. Aber eigentlich war es gar nicht so still, denn sobald wir schwiegen, konnten wir von überall her Geräusche hören: Zwitschern, raschelndes Laub, das Singen des Winds in den Bäumen. Herrlich! Foto/Copyrigt: Oliver Giel
Aufgewachsen ist Kati Naumann in Leipzig. Sie besuchte die Thomasschule, hatte Altgriechisch und Latein im Unterricht. Nach dem Abitur studierte sie Museologie und arbeitete danach im Buchmuseum der Deutschen Bücherei Leipzig und später im Musikinstrumenten-Museum der Universität: „Ich hatte ganz tolle Eltern. Mein Vater arbeitete als Fotograf bei der Leipziger Volkszeitung, meine Mutter hat gemalt. Beide waren Künstler und erfolgreiche Sportler. Für mich war selbstverständlich, dass die Meinung meiner Mutter genauso viel galt wie die meines Vaters. Meine Eltern hatten viele Interessen und waren oft unterwegs.“ Lachend fährt sie fort: „Eigentlich waren meine Schwester und ich super Schülerinnen. Wäre es nach unseren Eltern gegangen, hätten wir aber immer noch einen Zacken drauflegen können. Es hat nie so ganz gereicht…
Aber bei unseren Großeltern haben wir immer alles richtig gemacht und wurden in allem ehrlich bestätigt. Mit ihnen konnten wir auch alles besprechen. Wirklich alles.“
Über uns kreist ein Bussard, stößt ganz plötzlich vom Himmel herab, verschwindet für einen Moment, stößt dann mit seiner Beute wieder nach oben. „Das habe ich hier immer wieder erlebt“, erinnert sich Kati Naumann, „wir waren ja auch jeden Tag mit unseren Großeltern im Wald. Sie waren ganz wunderbare Menschen, großherzig. Sie hatten ein humanistisches Weltbild und unglaubliche naturwissenschaftliche Kenntnisse. Beide konnten jedes Käferchen benennen, jede Pflanze identifizieren. Sie wussten alles über die jeweilige Funktion im Ökosystem, und was es bedeutet, wenn man dieses fragile System zerstört.“
Grenzscheinwerfer sorgten in der Küche ständig für Licht
Dann beschreibt Kati Naumann ihre Erinnerungen an den Wald: „Er war so tief und undurchdringlich, mit seinen mächtigen, riesigen Bäumen und dem weichen Moos. Und er lag so dicht an der Grenze, dass meine Schwester und ich schnell begriffen, bestimmte Wege sind für uns verboten. Da war die Welt zu Ende.“
Der Grund: Das DDR-System hatte nicht nur die große Sperrzone eingerichtet, sondern auch fünfhundert Meter vor der Grenze alles dichtgemacht. Aber auch hier lebten noch Familien – manchmal sogar zwischen zwei perfekt gesicherten Stacheldrahtzäunen.
„Ich erinnere mich an eine enge Freundin meiner Mutter, die in der 500-Meter-Sperrzone in einem Haus wohnte und auch nicht weg wollte. Sie und die anderen Menschen, die in diesem Gebiet lebten, wurden unvergleichlich stärker überwacht und reglementiert als in dem großen 5-Kilometer-Sperrgebiet. Im Laufe der Jahre wurde es ihnen immer schwerer gemacht, dort ein normales Leben zu führen.“
Als wir auf einen Schotterweg einbiegen, fährt Kati Naumann fort: „Eine Familie hat mir nach einer Lesung erzählt, dass sie in ihrer Küche nie Licht einzuschalten brauchten – die Grenzscheinwerfer sorgten für ausreichende Helligkeit.
Am Tag nach dem Mauerfall wurde der Strom abgestellt. Als es am Abend dunkel wurde, musste die Familie erst mal ihre Lichtschalter suchen, die hatten sie noch nie benutzt.“
Wir sind an einem Rastplatz angekommen. Grob behauene, hölzerne Bänke und Tische. „Setzen wir uns einen Moment“, sagt Kati Naumann und lässt sich auf eine Bank fallen. Sie blickt auf die Bäume, genießt den atemberaubenden Ausblick ins Tal.
„Das ist meine Heimat. Wissen Sie, damals wurde ich in einem Leiterwagen durch diesen magischen Wald gezogen. Das Licht flackerte durch die Äste, Vögel zwitscherten. Es raschelte im Gebüsch und wir wussten nicht, ob nicht gleich eine Maus oder eine Märchenfee herausspringt.“
Gezielte SED-Aktionen „Ungeziefer“ und „Kornblume“
Sie blickt mich an: „Bis zur Wende wusste ich überhaupt nicht, dass der Rennsteig eigentlich viel länger ist und nicht in Ernstthal endet, sondern danach mehrere Male die bayerische Grenze überquert und bis Blankenstein führt. Hinter Ernstthal stand ein Schild mit der Aufschrift „Ende des Rennsteigs“. Und die alten Wanderkarten in meiner Kindheit waren einfach abgeschnitten worden, so als hätte die Welt kurz vor der DDR-Grenze aufgehört.“
Für einen Moment bleibt die Zeit stehen. Nach diesem tiefen Moment der Stille und der inneren Ruhe fährt Kati Naumann fort: „Damals wusste ich noch nichts von den Zwangsumsiedlungen und der großen Vertreibung aus den Sperrgebieten. Darüber sprach niemand. Auch in meiner Familie nicht, obwohl ich denke, dass sie davon wussten.“
Kati Naumann meint die Verschleppung unzähliger Dorfbewohner an der innerdeutschen Grenze, die offiziell als politisch unzuverlässig galten.
Es war eines der schlimmsten und bis heute nicht aufgearbeiteten Verbrechen in den 40 Jahren der SED-Diktatur: Geschätzte 11.000 Bewohner wurden bei den Aktionen „Ungeziefer“ (1952) und „Kornblume“ (1961) entlang der 1400 Kilometer langen innerdeutschen Grenze umgesiedelt.
Nachts oder in den frühen Morgenstunden donnerten Laster und Rollkommandos der Volkspolizei in die Ortschaften, stürmten in die Wohnungen und Häuser und forderten die verängstigten Bewohner – alles angebliche Staatsfeinde – auf, zu packen, da sie noch am gleichen Tag abtransportiert würden. Wohin, wurde ihnen nicht verraten. Auch wurde ihnen bei Strafe verboten, über ihre Zwangsumsiedlung zu sprechen.
Kati Naumanns Augen funkeln: „Die Umsiedlungsopfer wurden in verfallenen Wohnungen und unmöglichen Unterkünften untergebracht. Eine Familie hat mir erzählt, dass sie zwei Jahre in einer Schule gelebt haben und dort die öffentlichen Toiletten und Waschräume benutzen mussten.“
Auch soziale Kontakte wurden erschwert: „Die Neuankömmlinge wurden als Verbrecher aus dem Grenzland angekündigt, mit denen niemand Kontakt aufnehmen solle. So kam es dann auch. Aus den Zwangsumgesiedelten, völlig verzweifelten Menschen, wurden nun auch Ausgestoßene. Das muss das Schlimmste für sie gewesen sein…“, fügt sie leise hinzu.
SED-Regime hatte Angst vor dem Volk
Ich möchte wissen, was sie glaubt, warum das alles gemacht wurde.
„Ich denke, bei den Verantwortlichen saß die Furcht vor einem Volksaufstand, wie dem vom 17. Juni 1953, sehr tief. Gerade bei der zweiten Zwangsaussiedlungswelle acht Jahre später.
Das Regime wollte nicht, dass die Zwangsumsiedlungen bekannt wurden, um den Volkszorn nicht erneut zu entfachen und einen neuen Aufstand zu vermeiden. Deshalb das strenge Verbot, darüber zu reden. Auch deshalb wurden die Zwangsumsiedler so schlecht gemacht. Niemand sollte ihnen glauben. Freundschaften unmöglich sein. Also hat das System alles getan, um diese Zwangsumsiedlungen geheim zu halten. Das hat geklappt.
Dazu kommt: Die DDR wurde in den 50er Jahren stark geprägt vom Stalinismus und der russischen Militäradministration. Gerade bei den ersten Zwangsumsiedlungen ist dieses totalitäre Denken stark zu spüren. So wie bei der Niederschlagung des Volksaufstandes. Die DDR war eine Dikatur des Proletariats.
Dass auch die Proletarier selbst zu Opfern wurden, spielte offensichtlich keine Rolle.“
Kati Naumann: „Mit dem Schreiben kamen die alten Erinnerungen zurück“
Kati Naumann: „Mit dem Schreiben kamen die alten Erinnerungen zurück“
Unweit vom Naturpark-Informationszentrum, nahe der Kalten Küche begannen wir unsere Wanderung (auf der Karte ganz oben zu erkennen) für die geplante Reportage. Wir spazierten durch den kleinen Ort Spechtsbrunn. Überall begegneten uns die handgemalten Richtungsweiser und folgten den kleinen Straßen zum Rennsteig.
Auf dem Weg dorthin kamen wir auch an einer verfallenen Kaserne der ehemaligen DDR-Grenztruppen vorbei, die zu jeder Tag- und Nachtzeit im Sperrgebiet auf Streife gingen, und, wann immer sie Lust dazu hatten, die verbliebenen Anwohner schikanierten. Wahrhaftig ein trauriges Kapitel DDR-Geschichte. Bis heute nicht aufgearbeitet!Und ein neues Thema für eine Reportage. Fotos/Copyright: Thomas Pfundtner
Bevor wir weitergehen, kommt Kati Naumann noch einmal auf das Grenzgebiet zu sprechen: „In dem 500-Meter-Schutzstreifen gab es keine öffentlichen Einrichtungen, keine Gaststätten, dafür Ausgangssperren bei Dunkelheit und es konnten nur die vorgeschriebenen Wege benutzt werden. Nur Verwandte ersten Grades durften zu Besuch kommen.
Es gab sogar Jungverheiratete, die keinen Zuzug in die Schutzzone zu ihrem Ehepartner genehmigt bekamen. Aber sie haben das alles kommentarlos hingenommen und ertragen, denn sie wollten ihre und die Heimat ihrer Vorfahren nicht verlieren. Und viele Menschen haben sich mit diesem Leben auch arrangiert und sind dort glücklich gewesen.“
Dann erzählt Kati Naumann ihre eigene Geschichte: Das Leben in der Messestadt Leipzig war ein ganz anderes, weltoffeneres. Sie lernte dort ihren Ehemann, den Sänger und Komponisten Tobias Künzel, kennen. Sie heirateten, studierten, lebten in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, wurden Eltern. Ihre beiden Töchter sind inzwischen erwachsen. „Mittlerweile sind sie ebenfalls Eltern und beruflich selbständig wie wir“, fügt sie hinzu.
Familie ist Kati Naumann heilig: „Ich staune manchmal, wie schnell sich manche Paare wieder trennen oder scheiden lassen. Ich habe das Gefühl, heute wird nicht mehr so gekämpft um eine Ehe oder Beziehung. Aber man muss kämpfen. Und man muss Kompromisse machen und Rücksicht nehmen.
Leider vermittelt unsere Gesellschaft heute vor allem Egoismus. Sicher, nicht jede Beziehung ist zu retten. Aber gleich zu resignieren, wenn es anstrengend wird? Familie ist immer anstrengend, aber man bekommt auch unendlich viel zurück.“
„Eine bittere und enttäuschende Erkenntnis“
Ich wechsle das Thema und frage Kati Naumann, was sie denn gedacht hat, als sie bei den Recherchen zu ihrem Buch so viel über die Zwangsumsiedlungen erfuhr.
„Ich habe früher immer geglaubt, wenn einem in der DDR etwas passiert ist, hat es dafür Gründe gegeben. Ich will damit nicht sagen, dass diese Gründe berechtigt waren, aber ich habe gedacht, wenn man sich angepasst und unauffällig verhalten hat, war man sicher. Jetzt zu erkennen, dass es auch Menschen getroffen hat, die völlig unpolitisch waren, einfache, anständige Leute, die nur in ihrer Heimat bleiben wollten, die plötzlich am falschen Ort gelegen war, das hat mich sehr erschüttert und mein Bild von der DDR verändert.
Menschen, die eine Republikflucht geplant haben, wussten, dass sie damit ein hohes Risiko eingehen und sie haben eine bewusste Entscheidung getroffen. Menschen, die zwangsausgesiedelt wurden, hatte keine Chance und keine Wahl. Das ist für mich eine sehr bittere und enttäuschende Erkenntnis.“
Kati Naumann bleibt stehen, denkt einen Moment nach und erzählt: „Als ich mit dem Roman begann, waren plötzlich alle Erinnerungen wieder da: dieses Heimatgefühl. Die Zeiten bei meinen Großeltern. Der wunderbare Wald. Dieses merkwürdige Gefühl, als ich mit Oma und Opa im Wald unterwegs war und wir auf der Kuppe diesen aufregenden Blick in den Westen werfen konnten. In die andere Welt.
Natürlich war das, was ich erst viele Jahre später erfahren habe, eine große Enttäuschung für mich und macht mich immer noch traurig. Es bleiben so viele Fragen.“
Offen und fröhlich. Nachdenklich und kritisch. Verblüffend ehrlich, aber auch zurückhaltend. Kati Naumann ist eine selbstbewusste Frau, die mit beiden Beinen im Leben steht. Eigenständig. Deshalb ist es ihr wichtig, dass sie unabhängig ist. Ihr Mann ist Tobias Künzel, Sänger und Textschreiber der Prinzen. „Aber ich bin Kati Naumann und nicht die Frau eines Popstars.“ Ganz ehrlich: Wo sie recht hat, hat sie recht! Foto/Copyright: Oliver Giel
Kati Naumann erzählt mir, unter welchen Bedingungen sie den Roman am Rennsteig geschrieben hat: „Ich wusste, dass ich die Geschichte hier schreiben musste. Also habe ich mir ein kleines Zimmer am Rennsteig gemietet, habe hier monatelang gelebt, mit vielen Zeitzeugen gesprochen, in Archiven recherchiert und meine Erinnerungen aufleben lassen.“
Und sie erzählt, dass kein Mann bereit war, mit ihr über die Zwangsaussiedlungen zu reden: „Nur Frauen“. Eine berichtete ihr von ihrer Deportation als Zehnjährige: „Sie wusste noch jede schreckliche Einzelheit.“ Als Kati Naumann von diesem Gespräch zurück in ihre Schreibbude fuhr, war sie über das Erfahrene entsetzt. „Ich habe auf der Straße angehalten, denn ich konnte nicht weiterfahren, sondern musste erst einmal weinen.“
Plötzlich wird es noch stiller. Es scheint, als ob die Vögel bei diesen Worten verstummt sind, der Wald sein leises Rauschen eingestellt hat. Ich spüre, wie sehr Kati Naumann jedes einzelne Umsiedlungs-Schicksal berührt haben muss. Besonders aber das der Kinder, die plötzlich heimatlos wurden…
„Ja, Kinder sind mir wichtig. Das spüre ich besonders tief, wenn ich mit meinen Enkeln unterwegs bin. Kinder sind so herrlich unvoreingenommen und neugierig. Und auch ich werde dann wieder „klein“, stelle mir die einfachen Fragen, die sie stellen. Wenn ich mit Kindern zusammen bin, spüre ich, wie viel wir Erwachsenen einfach formelhaft übernommen haben, ohne es auch wirklich begriffen zu haben. Zum Beispiel physikalische Phänomene.
„Wir dürfen das Denken nicht vergessen“
Dank meiner Enkel und meiner Arbeit für Kinder erschließe ich mir das alles wieder neu. Das finde ich toll.“
Dann aber sagt sie nachdenklich: „Mein Buch beschäftigt sich ja auch mit Werten, wie Familie, Heimat, Orientierung. Eben das, was für unsere Eltern und Großeltern selbstverständlich war und an Kinder und Enkel weitergegeben wurde. Werte, die auch an den Schulen vermittelt werden sollten.“
Kati Naumann überlegt: „Mich nervt es immer, wenn ich im Radio höre, dass Schulen jetzt alles auf Digitalisierung setzen. Es gibt Studien, dass die Digitalisierung leider dümmer macht. Man begreift die Dinge eben erst wirklich, wenn man sie im wahrsten Sinne des Wortes begreifen und betasten kann.
Ich wünsche mir, dass an den Schulen auch ganz normale Dinge unterrichtet werden. Fächer, in denen Mädchen und Jungs Kochen lernen. Oder Nähen.
Oder ein Regal anbringen. Sie sollten sich im Notfall selbst helfen können. Was ist, wenn hier das Internet mal längere Zeit tot ist.
Dann stehen die alle da und wissen nicht mehr, was sie machen sollen.
Ich wünsche mir nicht die Zeit zurück, in der wir nicht mal ein Festnetztelefon hatten und uns für Verabredungen Ansichtskarten schreiben mussten.
Die neuen technischen Möglichkeiten sind toll, aber wir sollten darüber das eigene Denken nicht vergessen. Unsere Gesellschaft leidet durch das Internet: Sei es die Verrohung der Sprache oder das Pseudowissen. Ich finde es schlimm, dass viele Menschen alles glauben, was im Netz verbreitet wird.
Kinder müssen lernen, wie sie sich im Netz verhalten und warum sie nicht alles glauben sollen, was verbreitet wird.“
Langsam brechen wir auf, marschieren weiter den Schotterweg bergauf. Der Wald wird immer dichter: „Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo mein Hotel „Waldeshöh“ hätte stehen können.“
Kati Naumann eilt voraus, biegt rechts ab und wir stehen auf einer versteckten, von dichten Bäumen umgebenen, hellen Lichtung: „Hier kommt alles zusammen. Einsamkeit, Ruhe, Glück, der Einklang mit der Natur und dieses so berührende, verwunschene Element in unserer Seele.“
Apropos Seele. Woran glaubt Kati Naumann?
„Sehen Sie, ich bin in einem System aufgewachsen, in der die Kirche keinen Platz im Alltag hatte. Mein Elternhaus war humanistisch. Aber natürlich haben wir auch traditionell gefeiert, Ostern oder Weihnachten. Das gehörte auch bei uns dazu. Allerdings hatten wir Weihnachtsplatten mit neutralen, nichtreligiösen Liedern…“
Mit einem Lächeln fährt Kati Naumann fort:
„Mein Mann hingegen stammt aus einer christlichen Familie, dort wurde Weihnachten mit religiösem Hintergrund gefeiert. Und unsere Töchter hatten in der Schule sowohl Religions- als auch Ethikunterricht. Eine hat sich für das Christentum entschieden, die andere nicht.
Das Lustige ist: Die Tochter, die sehr kirchlich geprägt ist, kommt eher nach meinem Mann. Die andere mehr nach mir. Also denke ich mal, es ist auch ein bisschen eine Charaktersache, wo jeder seinen Halt sucht und was er braucht.
Meiner Meinung nach müssen wir das meiste, das wir erfahren oder lernen, ohnehin einfach nur glauben. Wissenschaft, Naturwissenschaften, das finde ich alles sehr spannend, und ich lese immer noch viel darüber.
„Wer sich verloren fühlt, braucht feste Strukturen“
Letztendlich ist das aber auch nur Glauben, denn herausgefunden haben das andere und ich muss ihnen vertrauen. Insofern besteht die ganze Welt nur aus Dingen, die wir glauben müssen. Außerdem bin ich der Ansicht: Wer sich verloren fühlt, braucht feste Strukturen, die Halt geben.
Die wenigsten Dinge sind wirklich real und für uns erfahrbar. Insofern bin ich eigentlich für alles offen.“
So langsam geht die Wanderung zu Ende. Fast drei Stunden waren wir unterwegs. Zwei Welten hat mir Kati Naumann in dieser kurzen Zeit auf beeindruckende Art und Weise nähergebracht: zum einen die des sagenumwobenen, idyllischen Rennsteigs.
Zum anderen die 500-Meter-Schutzzone der DDR, eine Welt voller Schrecken und Menschenverachtung.
Für mich steht fest: Das Thema Zwangsumsiedlungen durch das SED-Regime wird uns alle noch lange beschäftigen und darf nicht unter den Mantel der Geschichte gekehrt werden…
Bevor wir uns endgültig verabschieden, möchte ich noch wissen, ob es eine Fortsetzung von dem Roman geben wird, schließlich möchte ich doch erfahren, wie es mit Christine und Milla weitergeht.
„Nein“, sagt Kati Naumann, „keine Fortsetzung. Die Geschichte ist erzählt, der Kreis ist geschlossen…“
„Schade“, will ich antworten. Doch sie kommt mir zuvor: „Als Nächstes schreibe ich einen Roman über einen Familienbetrieb der Spielzeugindustrie in Sonneberg. Vorbild sind meine Urgroßeltern, wir besitzen noch viele Unterlagen.“
Ganz ehrlich, auf das Buch freue ich mich jetzt schon …
PS: Am Ende unserer Reportage-Wanderung und dem Interview sagte mir Kati Naumann, dass sie eine neue Buchidee im Kopf habe. Eine Spielzeugpuppe aus der einstigen Spielzeugmetropole Sonneberg hatte sie auf die Idee gebracht. Dieses Buch ist mittlerweile erschienen. Mehr Informationen bekommen Sie, wenn Sie auf den Buchlink unten klicken.
Von einem Wanderparkplatz nahe Spechtsbrunn wanderten Kati Naumann und ich fast drei Stunden über den Rennsteig. Unberührte Natur, Kühe auf saftigen Weiden, Piepen und Zwitschern, Greifvögel, die am Himmel ruhig ihre Bahnen zogen – das war (fast) wie Urlaub. Nicht verwunderlich, dass Kati Naumann als Kind so oft es ging zu ihren Großeltern nach Sonneberg fuhr, um dort die Ferien zu verbringen. Noch heute zieht es sie immer wieder zurück zu ihren Familienwurzeln. Übrigens: Auf dem zweiten Foto in der unteren Reihe gehen Kati Naumann und Fotograf Oliver Giel etwas tiefer in den Wald hinein – Motivsuche. Da habe ich schnell mein Handy gezückt …
Am Abend nach unserer Wanderung besuchte ich dann in der Buchhandlung am Marktplatz von Hildburghausen eine Lesung mit Kati Naumann, bei der sie ihr Buch „Was uns erinnern lässt“ vorstellte. Nachdem sie herzlich von Inhaberin Alexandra Messerschmidt begrüßt wurde, stellte sich schnell heraus, dass Kati Naumann keine Lesung abhielt, sondern sie berichtete von ihrer Kindheit im Sperrgebiet und ließ sich die Geschichten ihrer Zuhörer erzählen. Es war eine lebhafte Diskussion, die etwas bestätigte, was auch in dem Buch beschrieben wird: Das ehemalige DDR-Sperrgebiet entlang der Grenze zur Bundesrepublik war bis weit in die 2000er Jahre ein Tabuthema. Mit ihrem Roman hat Kati Naumann ein dunkles Kapitel DDR-Geschichte ans Licht gebracht. 4 Fotos und Copyright: Oliver Giel. 4 Fotos/Copyright: Thomas Pfundtner
Wunderbares Gespräch, das Buch habe ich bereits zweimal gelesen. Ich finde mich selbst wieder, denn mein zu Hause lag nur 300 Meter entfernt vom Wohnort ihrer Großeltern.