Koma-Report: Das Interview

 

Tobias Leis: Ich hatte große Angst, Sie zu verlieren

 

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Vom behandelnden Arzt zum Freund – Tobias Leis. Wochenlang hatte sich der Münchner Mediziner in der Lungenklinik Tag und Nacht um mich gekümmert und immer daran geglaubt, dass ich es schaffen werde. Monate nach meiner Zeit in Klinik und Reha habe ich ihn zum ersten Mal besucht. Seitdem treffen wir uns, wann immer es geht. Tobias wechselte kurz nach meiner Entlassung ans Klinikum Fulda und ist mittlerweile Chefarzt an der Helios St. Marienberg Klinik in Helmstedt. Logisch, dass ich alle meine Nachuntersuchungen und Kontrollen nur bei ihm machen lasse. Oder…? Foto/Copyright: Jörg Böthling

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Gespräche und Diskussionen mit Tobias Leis, meinem behandelnden Arzt sind immer ein Erlebnis. Am meisten freut mich bis heute, dass auch er aus meinem Fall gelernt hat und sich seitdem für mehr Mitgefühl und Transparenz bei seinen Patienten und deren Angehörigen einsetzt. Gerade in Coronazeiten scheint mir dies ganz wichtig zu sein. Foto/Copyright: Jörg Böthling

Können Sie meine Krankheit beschreiben?

Sie litten unter einer schwergradigen, lebensbedrohlichen Lungenentzündung verbunden mit einer Blutvergiftung und dem Versagen von Lunge und Kreislauf. Entscheidend aber war das Lungenversagen. Das Organ konnte eine ihrer lebenswichtigen Funktionen, den Organismus über die Atmung mit Sauerstoff versorgen, nicht mehr erfüllen.

Kommt das selten vor?

Sie hatten eine ambulant erworbene Pneumonie. Diese Form ist weltweit die am häufigsten tödlich verlaufende Infektionserkrankung. Etwas weniger als die Hälfte der Fälle werden im Krankenhaus behandelt, ein kleiner Anteil davon auf der Intensivstation, wie in Ihrem Fall.
Der größte Anteil der Lungenentzündungen sind durch eine bakterielle Infektion bedingt. Auch in Ihrem Fall waren die Kriterien einer bakteriellen Infektion erfüllt.
Im weiteren Verlauf ergaben dann zusätzliche spezielle Untersuchungen den Nachweis einer sehr seltenen Form einer Entzündung der Lunge, einer sogenannten akuten eosinophilen Pneumonie. Ab da wurde es schwierig.

Warum musste ich ins Koma gelegt werden?

Es kam zu einer rasch fortschreitenden respiratorischen Ateminsuffizienz. Das bedeutete:  Die Sauerstofftherapie über eine Nasenbrille oder Maske und auch die High-Flow-Oxygen-Behandlung waren nicht mehr ausreichend. So kam es zu dem lebensbedrohenden Lungenversagen.
Um Ihr Überleben zu sichern war eine künstliche, maschinelle Beatmung über einen Endotrachealtubus notwendig. Hierzu mussten Sie in ein künstliches Koma gelegt werden, da die Prozedur im Wachzustand nicht erträglich ist.
Normalerweise toleriert der Patient den Endotrachealtubus und eine gleichzeitige maschinelle Beatmung mit hohem Beatmungsdruck ohne künstliches Koma oder schmerzstillende Medikamente nicht.
Bei Ihnen kam erschwerend hinzu, dass infolge Ihrer Vorgeschichte, nämlich der Krebserkrankung der Tonsillen mit Operation und Chemo- sowie Strahlentherapie, die anatomischen Verhältnisse in Ihrem Mund- und Rachenbereich außergewöhnlich verändert waren und die Intubation dadurch sehr schwierig war.

Wie ging es weiter?

Durch die genannte Behandlung besserten sich die Organfunktionen und die Gesamtsituation. Allerdings trat weiterhin regelmäßig Fieber auf, auch unter antibiotischer Behandlung und trotz rückläufigen Entzündungszeichen.
Wir suchten also händeringend nach selteneren Ursachen. Eine Entzündung der Herzinnenhaut konnte ebenso ausgeschlossen werden wie seltene Erreger. Später wurde durch eine ganz spezielle Untersuchung der Lunge eine sehr selten auftretende Form einer Lungenentzündung, eine akute eosinophile Pneumonie diagnostiziert. Das heißt, es traten vermehrt weiße Blutkörperchen in der Lunge und im Blutkreislauf auf. Unter der entsprechenden Behandlung besserte sich Ihr Zustand dann sukzessive, so dass wir mit der Entwöhnung von den Atemgeräten beginnen konnten. Dafür wurde dann noch ein Luftröhrenschnitt mit Einlage einer Beatmungskanüle am Hals komplikationslos durchgeführt.

Also verlief alles wie erwartet?

Eigentlich ja. Aber, die Komazeit verlängerte sich aufgrund der schweren lebensbedrohlichen Erkrankung mit der invasiven Beatmung. Als später der sichere Atemweg vorlag, wurde Ihre Entwöhnung eingeleitet. Dabei wurde auch versucht, Sie aus dem künstlichen Koma zu holen, das heißt die Schmerzmedikamente und sedierenden Medikamente wurden reduziert. Aber es kam zu einer akuten, organisch bedingten Psychose mit Bewusstseinsstörungen (Delirium) wie Bewusstseinstrübungen, Aufmerksamkeits-, Orientierungs- und Wahrnehmungsstörungen. Dadurch kam es zu Verzögerungen und Schwierigkeiten, aufgrund von Unruhezuständen und vegetativen Entgleisungen wie zum Beispiel Blutdruckkrisen oder extrem erhöhtem Puls. Die Delirbehandlung gestaltete sich schwierig und verlängerte damit das künstliche Koma.
Wir ergänzten die Diagnostik um eine Computertomographie des Schädels, so konnte eine Hirnblutung ausgeschlossen werden und es gab keine Hinweise auf einen Schlaganfall als mögliche Ursache. Das alles zog sich über Wochen hin. Dann erfolgte eine weitere Medikamentenumstellung und Dosisanpassung auf Empfehlung des hinzugezogenen Neurologen, Dr. Ron Lenz. Sie wachten kurz darauf endlich auf.

Welche Probleme traten auf?

Die Phase Ihres Deliriums war ein kritischer Punkt der gesamten Behandlung auf der Intensivstation. Der Grund: Entscheidend wichtig war Ihnen – und Ihre Ehefrau hatte das wiederholt zum Ausdruck gebracht – dass Ihr körperlicher und insbesondere Ihr geistiger Zustand in Zukunft wieder ein Niveau erreichen würde, auf dem Sie sich ohne größere Einschränkungen frei bewegen können. Das heißt auch ohne pflegerische Hilfe, insbesondere ohne Notwendigkeit einer Versorgung in einer pflegerischen Einrichtung.  Noch wichtiger war Ihnen, dass Ihr geistiger Zustand wieder voll hergestellt werden würde. Dies hatten Sie im Vorfeld mit Ihrer Frau festgelegt.
Sofern die Befunde beziehungsweise Ihr medizinischer Gesamtzustand eine solche positive Prognose nicht mehr zugelassen hätte, sollte im Sinne Ihres Patientenwillens die intensivmedizinische Maximaltherapie einschließlich der maschinellen Beatmung beendet werden.
Es gab grundsätzlich in jeder Krankheitsphase intensive Therapie-Gespräche mit Ihrer Ehefrau und Ihren Kindern hinsichtlich Ihres aktuellen Zustands, der Befunde, der Maßnahmen sowie der Prognose.
Auch in kritischen Krankheitsphasen, zum Beispiel im Rahmen der schweren Infektion mit Sepsis und Mehrorganversagen, waren aus meiner medizinischen Sicht dennoch alle genannten Ziele potentiell erreichbar. Zum Zeitpunkt des schwergradigen und prolongierten Delirs war die Verunsicherung hinsichtlich der Prognose auf Seiten Ihrer Ehefrau sehr groß, Sie hatte Angst, dass Sie am Ende in körperlich und geistig „behindertem“ Zustand in einer pflegerischen Einrichtung „enden“.
Ein Zustand, den Sie strikt ablehnen würden und der großes Leid für Sie bedeuten würde. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass Sie bereits einige Wochen auf der Intensivstation in Behandlung waren (intensivmedizinische Langzeitbehandlung und Langzeitbeatmung), was die Verunsicherung und Angst Ihrer Frau zusätzlich förderte. Natürlich konnte ich nicht mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit versichern, dass unsere Ziele sicher erreicht werden. Dennoch glaubte ich weiter an die potentielle Besserung des Delirs und nachfolgend an eine weitere Verbesserung des körperlichen Zustands nach einer Rehabilitation. Es gab in diesen Gesprächen mit Ihrer Ehefrau natürlich Tränen und die Emotionen „kochten hoch“. Letztlich war es aber möglich, Ihrer Ehefrau die Ängste zu nehmen und Hoffnung zu vermitteln, und die Behandlung konnte fortgesetzt werden.

Hatten Sie Angst, den Patienten zu verlieren?

Ja, ich hatte auch Angst Sie zu verlieren in kritischen Krankheitsphasen, vor allem aber hatte ich Angst, dass die Therapieziele nicht erreicht werden können und am Ende ein Zustand resultiert, den Sie eindeutig nicht gewünscht hätten und unter dem Sie leiden würden – als Pflegefall oder in geistig eingeschränktem Zustand.
Das Entscheidende ist aber: Ich habe immer mehr daran geglaubt, dass Sie die schwere Krankheit überstehen und wieder in einen für Sie zufriedenstellenden, lebenswerten Zustand gelangen können!

Was bleibt Ihnen besonders in Erinnerung?

Oh, einiges: Medizinisch ist es der Erfolg, dass wir Ihre seltene Form einer Lungenentzündung erfolgreich behandeln konnten. Menschlich gesehen, der unermüdliche Einsatz Ihrer Ehefrau und Ihrer Kinder. Das beweist, wie wichtig es ist, dass der behandelnde Arzt und die Angehörigen in ständigem Austausch sind, auch wenn die Gespräche hin und wieder emotional werden. Aber, man darf nie vergessen: Es geht um das Leben des Patienten.
Positiv überrascht hat mich Ihre schnelle Rekonvaleszenz und dass Sie so um Ihre Gesundheit gekämpft haben. Selten habe ich einen Patienten erlebt, der so schnell wieder in die Spur gekommen ist. Es wäre schön, wenn alle Koma-Patienten ihr Schicksal so annehmen wie Sie und an eine Zukunft glauben.

 Was können wir aus der Krankheit und ihrem Verlauf lernen?

Ich glaube, die Liebe und Fürsorge Ihrer Familie während des künstlichen Komas hat neben der medizinischen Betreuung eine entscheidende Rolle gespielt. Und auch Ihr Kampfeswille darf nicht unterschätzt werden. Als Arzt durfte ich lernen, dass der menschliche Faktor und der Glaube an ein gutes Ende nicht unterschätzt werden darf.