Preisträgerinnen und Preisträger des Leipziger Buchpreises

 

In den drei Kategorien – Übersetzung, Sachbuch und Belletristik – sind der Preisträger und die Preisträgerinnen ermittelt

 

 

Mit dem Preis der Leipziger Buchmesse werden seit 2005 herausragende deutschsprachige Neuerscheinungen geehrt. Das Besondere daran: Er wird in gleich drei Kategorien vergeben – Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung – und ist damit ein gelungenes Abbild preiswürdiger Gegenwartsliteratur. Der Preis ist mit insgesamt 60.000 Euro dotiert.
Für ein vielfältiges Meinungsbild sorgt die siebenköpfige Jury. Die Journalistinnen und Journalisten und Lieraturkritikerinnen und Literaturkritiker werden für jeweils drei Jahre berufen und prägen so über einen gewissen Zeitraum das Gesicht des Preises.

Kristine Bilkau –Halbinsel– vorgestellt hier am 6.März 2025

Kategorie Belletristik

Kristine Bilkau: „Halbinsel“

Annett, Ende vierzig, lebt seit vielen Jahren auf einer Halbinsel im nordfriesischen Wattenmeer. Ihre Tochter Linn, Mitte zwanzig, ist nach dem Abitur voller Energie in die Welt gezogen, hat sich in schwedischen und rumänischen Wäldern als Umweltvolontärin engagiert, arbeitet für ein Aufforstungsprojekt. Für Annett ist ihre Tochter die Verkörperung von Hoffnung, Sinn und Zukunft. Doch auf einer Tagung kippt Linn um, Kreislaufzusammenbruch, Erschöpfung. Annett holt sie für eine Woche zu sich nach Hause. Aus einer werden zwei, dann drei Wochen, dann Monate. Zerrieben zwischen Leistungsdruck und Sinnsuche, scheint Linn mit Mitte Zwanzig an einem Nullpunkt. Annett fühlt sich hilflos angesichts der Antriebslosigkeit ihrer Tochter. Mit der Zeit brechen Konflikte auf, zwischen Mutter und Tochter, aber auch zwischen zwei Generationen. Die eine muss die Lebenswirklichkeit der anderen neu verstehen lernen.
Zur Begründung der Jury
Leicht nacherzählbar scheint dieses Buch zunächst, doch das ist eine Täuschung. Kristine Bilkau trägt sukzessive Schichten von Fragen ab, die verunsichern. Das unerwartet zusammengeführte Duo aus Mutter und erwachsener Tochter braucht mehr als guten Willen für ein neues Lebensmodell. Halbinsel ist ein sensibel gebauter Roman über emotionale Altlasten, über Großzügigkeit und über das Geschäft mit dem Klima-Gewissen.
Über die Autorin
Kristine Bilkau, 1974 geboren, studierte Geschichte und Amerikanistik in Hamburg und New Orleans. Bereits ihr Romandebüt Die Glücklichen wurde mit dem Franz-Tumler-Preis, dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Mit ihrem Roman Nebenan  stand sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Kristine Bilkau lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Die Autorin im Interview
Die Fragestellung zum Anlass des Buches: Wie bringt man am besten ein Kind in diese krisenhafte schwierige Welt? Die Sprache muss bei erwachsenen Kindern geändert werden. Welten prallen aufeinander. Eltern wollen ihren Kindern Zuversicht mitgeben -Tochter will aber Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit. Wie sprechen die Generationen miteinander? Generationenkonflikt ist jedem bewusst, aber es wird nicht richtig umgesetzt.

Beim Schreiben arbeitet Kristine Bilkau an der Sprache der Personen und die Mitmenschen. Mit dem, was wir sagen oder nicht sagen, erschaffen wir diese Welt. Die letzten Krisenjahre sind für junge Menschen ihr halbes Leben und hat sie geprägt.

Kategorie Sachbuch 

Irina Rastorgueva: „Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung“

In Russland führt das Verbot kritischer Medien und die Gleichschaltung der staatsnahen Sender zu einer fast karikaturhaften Darstellung von „traditionellen Werten“ und der „Militärischen Spezialoperation“. Hinzu kommt die weltweite Destabilisierung demokratischer Gesellschaften durch gezielte Propagandakampagnen. Ein orchestrierter Wahnsinn breitet sich aus, erkennbar auch in überstrapazierten Euphemismen, Hassreden und einem ausgeklügelten Strafsystem. Dieser Irrsinn ist tief in der Geschichte verwurzelt und setzt die paranoide Feindsuche, willkürliche Verhaftungen, Folter und Gulags der Sowjetzeit fort – jetzt in neuer, gewalttätiger Aufmachung. Die russische Kulturjournalistin Irina Rastorgueva analysiert in ihrem scharfsichtigen Werk anhand eigener Erfahrungen, Zeitungsartikeln, Berichten und Studien die russische Selbstvergiftung und Sprache der Verschwörungsnarrative des Kremls.
Zur Begründung der Jury
Der Comic in der Mitte zeugt von bitterem Humor. Der Ernst der Lage zeigt sich im Text, der so einige Rätsel löst, die sich seit dem russischen Überfall auf die Ukraine angestaut haben. Irina Rastorgueva seziert die Gesellschaft, indem sie die Sprache analysiert. Was sie Pop-up-Propaganda nennt, ist eine Art LTI für Putins Russland, eine Bestandsaufnahme diktatorischen Sprechens in dem Sinne, wie Victor Klemperer es einst tat.
Über die Autorin
Irina Rastorgueva, 1983 in Juschno-Sachalinsk geboren, ist Autorin, Grafikerin und Übersetzerin. Sie studierte Philologie an der Staatlichen Universität Sachalin und arbeitete als Kulturjournalistin und Dozentin für Journalistik. 2011 gründete sie das Kulturmagazin ProSakhalin. Von 2011 bis 2017 war sie Dramaturgin am Tschechow-Theater Sachalin. Gemeinsam mit Thomas Martin gibt sie die Werke von Georgi Demidow im Verlag Galiani heraus.

Aus dem Interview mit der Autorin

Irina Rastorgueva war sehr überrascht über den Preis. Sie fühlt sich verwirrt, andere sitzen im Gefängnis und sie bekommt einen Preis. In Russland werden verdrehte Wahrheiten verbreitet und überall Fake News. Unabhängige Medien sind verboten, es herrscht ein Informationsvakuum, nur Propaganda wird verbreitet. Öffentlich verbreitete Informationen sind Desinformationen.

2008 wollte sie Russland schon verlassen, beim Angriff auf Georgien..alle anderen sagten beruhige dich, das ist alles weit weg. Wir sind hilflos mit Worten.
Putin meint, niemand braucht Freiheiten. Seine Weltsicht: Ukraine muss befreit werden, Krim kam zurück nach Haus.

Kategorie Übersetzung
Aus dem Belarussischen von Thomas Weiler
Ales Adamowitsch, Janka Bryl, Uladsimir Kalesnik:
„Feuerdörfer. Wehrmachtsverbrechen in Belarus - Zeitzeugen berichten“
Über das Buch
In diesem bewegenden Werk kommen die Überlebenden der NS-Wehrmachtsverbrechen in Belarus zu Wort. Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik haben die Überlebenden der Massaker 1970-1973 in den belarussischen „Feuerdörfern“ aufgespürt und ihre Erlebnisse auf Tonband aufgenommen. Die verstörenden Erinnerungen wurden sorgsam transkribiert, zu einer vielstimmigen Erzählung verwoben und von den Autoren kontextualisiert. Das Buch ist keine bloße Chronik. Es hält das menschliche Leid fest, während es gleichzeitig das Schweigen bricht und einen Blick auf eine mögliche Zukunft eröffnet. Vor dem Hintergrund heutiger Kriege und antidemokratischer Tendenzen ist das Werk erschreckend aktuell und beleuchtet einen blinden Fleck der deutschen Geschichte. Die präzise Übersetzung von Thomas Weiler ins Deutsche ist ein berührendes Beispiel der Aufarbeitung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Zur Begründung der Jury
Anfang der 70er-Jahre haben Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik mit Hunderten Überlebenden aus von der Wehrmacht niedergebrannten belarussischen Dörfern gesprochen. Thomas Weiler macht die unvorstellbaren Aussagen der Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner nun erstmals einer deutschen Leserschaft zugänglich. Seine am Mündlichen orientierte Übersetzung entlarvt die entsetzliche Grausamkeit des Erlebten und zeigt die Grenzen der Sprache in der brennenden Wahrheit dieser Berichte auf.
Über den Übersetzer
Thomas Weiler, 1978 im Schwarzwald geboren, absolvierte ein Diplom-Übersetzerstudium in Leipzig, Berlin und St. Petersburg. Seit 2007 ist er als freier Übersetzer aus dem Polnischen, Russischen und Belarusischen tätig. Thomas Weiler übersetzt Belletristik, Lyrik und Kinderbücher. Er erhielt u. a. den Deutschen Jugendliteraturpreis, den Karl-Dedecius-Preis, den Paul-Celan-Preis und die August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur für Poetik der Übersetzung.

Aus dem Interview mit dem Preisträger
Thomas Weiler befindet sich in ungewöhnlicher Situation: Erst wurde ein von ihm übersetztes Buch ausgezeichnet. Dann ist er jetzt selbst Preisträger für Feuerdörfer - genretechnisch war es eine Herausforderung, weil es weder Roman, noch Reportage oder Bericht ist. Es entstand aus Interviews, die 30 Jahre nach dem Überfall mit Überlebenden geführt wurden. Dazu gab es Berichte über die Vernichtung.
Thomas Weiler war im FSJ in Belarus und war auf das Thema vorbereitet. Trotzdem war es für ihn schockierend zu lesen und dann schwierig in rechte Worte zu übersetzen. Es fiel ihm auch schwer, sich immer wieder daranzusetzen und sich mit den Interviewten zu identifizieren.
Februar 2022 bekam der Übersetzungsvertrag, also kurz vor dem Angriff auf die Ukraine. Er stellt heraus, dass es wichtig ist Originalstimmen zu hören.