Maman

Auf den Spuren der eigenen Familiengeschichte

Die Deutsch schreibende französische Autorin Sylvie Schenk versucht in ihrem neuen Roman dem Geheimnis ihrer Mutter auf die Spur zu kommen: Warum war diese Frau für ihre fünf Kinder so unnahbar, warum konnte sie nie zärtlich zu ihnen sein? Die angestrebte Beantwortung dieser Frage wird zum ergreifenden Porträt einer selbst nie geliebten Frau. Eine Annäherung an die eigene Mutter und eine schmerzhafte Abrechnung: 1916 wird Sylvie Schenks Mutter geboren, die Großmutter stirbt bei deren Geburt. Angeblich war diese eine Seidenarbeiterin, wie schon die Urgroßmutter. Aber stimmt das? Und welche Geschichte wird den Nachkommenden mit auf den Weg gegeben? Als Kind leidet Sylvie Schenk unter dieser Unklarheit, als Schriftstellerin ist sie deshalb noch immer von großer Unruhe geprägt. Mit poetischer Präzision spürt sie den Fragen nach, die die eigene Familiengeschichte offenlässt. Maman ist ein waghalsiges Unterfangen und explosive Literatur zugleich. Nach Schnell, dein Leben hat die Autorin erneut einen Text voll Schönheit und Temperament geschrieben.

„‚Du darfst alles aufschreiben, ich weiß, dass du es aufschreiben wirst‘, soll Maman schließlich auf dem Sterbebett gesagt haben. Vielleicht hat Sylvie Schenk nun wirklich Frieden mit ihr, mit sich und der eigenen Herkunft geschlossen. Dieses Buch widmet sie ihrer Mutter mit ihrer komplizierten Lebensgeschichte.
Die Großmutter Cecile stirbt bei der Geburt ihrer unehelichen Tochter Renée. Es ist mitten im Krieg im Jahr 1916. Das Krankenhaus in Lyon ist überfüllt mit Kriegsverwundeten. Die Nonnen haben daher nicht viel Zeit, sich um die Mutter zu kümmern, doch das Mädchen überlebt.

Es kommt ins Waisenhaus, wird bald armen Bauern in der Ardèche zur Pflege übergeben, die wollen nur das Pflegegeld. Das Kind ist ihnen lästig, dementsprechend behandeln sie es auch. Im Alter von zehn Jahren wird Renée von Marguerite und ihrem Mann, einem wohlhabenden Ehepaar, adoptiert. Ihre Adoptivmutter kümmert sich liebevoll um das Kind und versucht, es an Kultur heranzuführen. Doch Renée bleibt unzugänglich, störrisch und zeigt überdies wenig Talent. Mit zwanzig heiratet sie einen Zahnarzt – eine Vernunftehe. Obwohl die Zukunft der künftigen Familie materiell gesichert ist, bleibt Renée verschlossen, unnahbar für ihre Kinder. Sie spielt und singt nicht mit ihnen, erzählt ihnen keine Geschichten. Die Mutter von vier Töchtern und einem Sohn hat ihr Leben lang nur das Allernotwendigste gesprochen. Hat sich ihren Kindern nie mitgeteilt, war in sich gekehrt und abweisend. Unnahbar für die Kinder.„Ich könnte verzweifeln, wenn ich merke, dass ich ihr nur negative Eigenschaften anhängen kann, sonst sehe ich sie als Nichts, eine leere Blase. Es kommt mir vor, als habe sie zwar leibhaftig gelebt, aber nur als angerichtetes Wesen. Als habe man ihre Seele und ihren Körper in den ersten sechs Jahren zum Schweigen gebracht.“

Sylvie Schenk versucht, sich in ihre Mutter hineinzuversetzen: Auf der Spur der wenigen Äußerungen, an die sie sich erinnern kann, empfindet sie nach, wie die Mutter ihre Kinder und ihren Mann erlebt haben mag.

Und ob sie sich wirklich so klaglos mit der Opferrolle, in der die Tochter sie jetzt sieht, abgefunden hat, zeitlebens hart und unzugänglich geblieben ist. Im Gespräch mit ihrer jüngsten Schwester Lisa findet sie heraus, dass das nicht ganz so war.

Und ob sie sich wirklich so klaglos mit der Opferrolle, in der die Tochter sie jetzt sieht, abgefunden hat, zeitlebens hart und unzugänglich geblieben ist. Im Gespräch mit ihrer jüngsten Schwester Lisa findet sie heraus, dass das nicht ganz so war: „Die steife, gleichgültige Mutter war beim jüngsten Kind weicher geworden, hatte mit Ende Vierzig wieder Freude verspürt, es gab warme Gefühle zwischen ihr und dem Kind.“

  • Herausgeber ‏ : ‎ Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG; 1. Edition (20. Februar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 176 Seiten
  • Preis ‏ : ‎ 22 Euro
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3446276239

Sylvie Schenk wurde 1944 in Chambéry, Frankreich, geboren, studierte in Lyon und lebt seit 1966 in Deutschland. Sylvie Schenk veröffentlichte Lyrik auf Französisch und schreibt seit 1992 auf Deutsch. Sie lebt bei Aachen und in La Roche-de-Rame, Hautes-Alpes. Bei Hanser erschienen ihre Romane Schnell, dein Leben (2016), Eine gewöhnliche Familie (2018), Roman d’amour (2021) und Maman (2023).