Zeitreise durch ein Leben am Straßenrand der Geschichte

Der legendäre Kabarettist Dieter Hildebrandt hat auf der Bühne einmal über die Buch-Erinnerungen von Konrad Adenauer gesagt: „Ich muss sagen, für 19 Mark 80 erinnert sich unser Kanzler an zu wenig…“
So viel kann verraten werden: Dieser Satz trifft auf die gerade erschienene Autobiografie des ehemaligen Spiegel-Chefredakteurs Stefan Aust (74) nicht zu. Im Gegenteil: Deutschlands wohl bekanntester Journalist nimmt seine Leser auf 656 Seiten mit auf eine spannende Reise durch knapp 60 Jahre deutsche Geschichte, die er als Journalist und Reporter begleitet hat. Chronologisch erzählt Aust sein Leben und seinen beruflichen Weg, der als Finanzverantwortlicher bei der Schülerzeitung WIR in Stade begann und möglicherweise als Herausgeber von Welt und Welt am Sonntag endet.
Egal, ob er über die RAF und den deutschen Herbst schreibt, die Affäre um den ehemaligen Ministerpräsidenten Uwe Barschel noch einmal aufleben lässt, auf den Mauerfall blickt, an die erfolglose Suche nach dem Bernsteinzimmer erinnert oder den Goldschatz von Eberswalde jagt – alles ist spannend zu lesen.
Es sind die vielen kleinen Details und Feinheiten, die aus vermeintlich Bekanntem neue Geschichten machen.
Doch das ist längst nicht alles: Viele Ereignisse, die uns in Deutschland bewegt und entsetzt haben, hinterfragt Stefan Aust neu und spekuliert anhand von Fakten und Recherchen, ob es nicht doch anders gewesen sein könnte, als die offiziellen Versionen uns sagen.
Das wird besonders deutlich bei seinen Schlussfolgerungen aus den Randereignissen der Barschel-Affäre oder bei den Hintergründen, die Aust im Falle der erschossenen Polizistin  Michèle Kiesewetter auf der Heilbronner Theresienwiese recherchiert hat und die eine Menge Fragen aufwerfen.
Nein, Stefan Aust betätigt sich dabei nicht als Verschwörungstheoretiker – das liegt diesem kühlen Analytiker und unbeteiligtem Beobachter fern – er möchte nur zum Nachdenken anregen und deutlich machen, wie schwer es für uns alle ist, Fakten objektiv zu bewerten.
Deshalb betont Aust auch immer wieder, dass es „so gewesen sein könnte, nicht gewesen sein muss.“
Neben deutscher Vergangenheit erfährt der Leser etwas über das Leben von Stefan Aust, seine Kindheit, seinen beruflichen Weg – von der Schülerzeitung direkt zum Politik-Magazin, dann zu konkret zu den St. Pauli Nachrichten – bis hin in die Chefredaktion des Spiegel.
Er erzählt, wie er zum Fernsehen kam, über die Gründung von Spiegel-TV und seine Probleme beim Spiegel.
Allerdings, und das ist für mich ein kleines Manko, Persönliches erfahre ich nur wenig. Dabei hätte ich gern mehr über den Menschen Stefan Aust gelesen (das reduziert er auf seine Kindheit, seine Liebe zum Pferdesport und einige Reisen) und vielleicht etwas weniger über den erfolgreichen, hochinteressante Reportagen schreibenden Journalisten.
Ein Beispiel: Im Spätsommer 1970 versteckte Stefan Aust kurzzeitig den gesuchten, vermeintlichen Terroristen Peter Homann erst in seiner Wohnung und besorgte ihm dann eine Unterkunft. Homann stand auf der Fahndungsliste ganz oben, stand er doch in dem Verdacht, an der Befreiung von Andreas Baader beteiligt gewesen zu sein. Ein Verdacht, der später entkräftet wurde. Beim Lesen habe ich mich immer gefragt: Hatte Stefan Aust keine Angst, dass Peter Homann verhaftet wird, und er, der aufstrebende Journalist, in einem Strudel unvorhergesehener Folgen möglicherweise untergegangen wäre? Die Frage nach der Angst und anderen Gefühlen, tauchte immer wieder auf. Ganz ehrlich, da fehlt das Emotionale. Ich bin davon überzeugt, dass viele Entscheidungen – gerade im gesamten RAF-Komplex – die Stefan Aust getroffen hat, nicht nur rational und aus beruflicher Neugier getroffen wurden.
Dennoch: Zeitreise ist ein lohnenswertes Buch für Jung und Alt.
Warum?
Ältere Generationen werden sich an ihr eigenes Leben erinnern und sagen: „Ja, so war es wirklich“ oder „Ach, das habe ich nicht gewusst.“
Für jüngere Leser ist Austs Reise in die Vergangenheit ein bunter, rasanter Trip, fernab vom oft ziemlich öden Geschichtsunterricht. Wer das Buch gelesen hat, wird leicht zu dem Ergebnis kommen, dass das damals schon eine ziemlich spannende Welt war.
Übrigens: Wie faszinierend diese Zeitreise ist, habe ich spätestens ab Seite 115 gespürt: Dort schreibt Stefan Aust: “ … ich drehte zwei kleine Reportagen … … und eine mit dem Titel „Besuch bei vier alten Damen“ über die legendäre Klofrau in der Diskothek „Grünspan“ in der  „Großen Freiheit auf St. Pauli.“ Plötzlich wurde diese Zeit wieder lebendig: Die überdimensionale Leinwand, die silbrig glänzende Tanzfläche, der Biertresen, die Eingangskontrolle. Der stampfende Rock von „Can“, „Steamhammer“ oder das virtuose Gitarrenspiel von „Wishbone Ash“.
Und natürlich die beliebte Klo-Omi am Toiletteneingang. Immer ein nettes Wort. Immer hilfsbereit. Besonders, wenn nach 22 Uhr die Polizei im Grünspan auftauchte, um die Ausweise zu kontrollieren. Und ich durch das Toilettenfenster abhauen musste. Klo-Omi hat es nie verschlossen, denn nach der Kontrolle sollte der Tanz ja weitergehen …
Stefan Aust Zeitreise – die Autobiografie, Piper Verlag,  26 Euro. ISBN-Nummer: 9783492070072