Der Vogelpapst vom Bodensee

Der Vogelpapst vom Bodensee

 

Peter Berthold: Ein Leben für die Piepmätze

 

Ornithologe-Peter-Berthold-mit-Fernglas-beobchatet-die-Vogelwelt-in Billafingen an der Feldstation am Heinz-Siemann-Weiher.

Mittlerweile ist Professor Doktor Peter Berthold 82 Jahre. Dennoch beobachtet er täglich Vögel, beringt die Tiere und kümmert sich aktiv um Artenschutz. Fakt ist: Seit dem 18. Jahrhundert ist in Deutschland die Zahl der Brutpaare von einst 300 Millionen auf knapp 60 Millionen gesunken. Wenn wir im Umweltschutz und bei der Klimapolitik nicht radikal umdenken, wird die Zahl rapide weiter nach unten gehen. Davon ist nicht nur Peter Berthold fest überzeugt, sondern auch seine Ornithologenkollegen auf der ganzen Welt. Nur in der Politik scheint niemand diese Zahlen zu kennen. Foto/Copyright: Lennart Preiss

Zum Thema Peter Berthold, Deutschlands bekanntestem Ornitholgen, kam ich über die zahlreichen Talkshows in den Dritten Programmen der ARD. Seit Herbst 2018 hatte ich das Gefühl, wohin ich auch zappte, überall bei den Dritten saß in den Talkrunden ein Mann mit weißem Rauschebart und Kugelbauch.
Redegewandt, schlagfertig und ganz besonders publikumswirksam verkaufte Dr. Peter Berthold den Zuschauern seine Anliegen und Ideen für Umwelt- und Naturschutz. Doch, das war längst nicht alles. Er ließ auch kein gutes Haar an Politikern, kritisierte unser Bildungssystem und verzweifelte an der überforderten Jugend. Alles mit viel Humor und einem förmlichen Schalk im Nacken. In den Talkshows erfuhr ich auch, dass Peter Berthold einer der bekanntesten Ornithologen Deutschlands, Europas, ja wenn nicht sogar der ganzen Welt ist.
Diesen schrulligen Professor, Vogelexperten und Gesellschaftskritiker wollte ich unbedingt kennenlernen und eine Reportage über ihn schreiben. Ich war sicher, das würde eine spannende Geschichte für alle Leser.
Meine Chefin war ebenfalls vom dem Vogelpapst am Bodensee sehr angetan, meinte nur: „Ja, das machst Du. Er begeistert unsere Leser bestimmt.“
So kam es auch – selten gab es so viele Leserreaktionen, wie bei Prof. Dr. Peter Berthold. Auch für mich war es ein besonderes Erlebnis, diesen Piepmatz-Fanatiker zu treffen.
Im Januar 2019 war es so weit. Wir trafen uns in seinem kleinen Büro in Radolfzell. Dies hat er im Januar 2005 bezogen. Damals war er nach 38 Jahren (davon die letzten 14 Jahre als Leiter) im Max-Planck-Institut für Ornithologie in den wohlverdienten Ruhestand gegangen.
Aber, so ganz ohne Arbeit wollte er auch nicht sein.
Die Fotos zu dieser Reportage lieferte der Münchner Top-Fotograf Lennart Preiss.
Wichtig für Sie, liebe Leser: Die Reportage wurde in zwei Teilen erstellt. Erst traf sich Lennart Preiss mit Professor Dr. Peter Berthold und verbrachte mit ihm viele Stunden in der wunderbaren Natur am Bodensee.
Nachdem die Redaktion und ich seine Fotos gesehen hatten, entschieden wir uns dafür, kein Interview zu veröffentlichen, sondern eine Reportage. Es hat sich gelohnt…, finde ich.
Übrigens: Für den Sommer 2019 hatten Professor Berthold und ich uns noch einmal für ein Treffen am Bodensee verabredet. Ich wollte noch mehr über seine Arbeit und seinen Umgang mit der Natur erfahren.
Leider mussten wir den Termin um ein Jahr verschieben, der dann durch Corona platzte. Aber ich bin sicher, es wird noch klappen. Und dann werde ich hier wieder berichten.

Das-kleine-Buero-von-Ornithologe-Peter-Berthold
Ornithologe-Peter-Berthold-im-Gespraech-mit-Journalist-Thomas-Pfundtner

Das kleine Büro im ersten Stock rechts des Max Planck Instituts für Ornithologie in Möggingen ist eigentlich mehr ein Schlauch, aber dennoch gemütlich.
Links am Eingang thront ein altes, dunkelbraunes Stehpult. Übersät mit Fotokopien, Blättern und Notizen.
An der rechten Wand gerahmte Bilder der ehemaligen Leiter der Vogelwarte Radolfzell-Rossitten.
Davor stehen Aktenschränke, vollgepropft mit Leitzordnern: Korrespondenz, Notizen. Außerdem, ordentlich nummeriert und beschriftet, sämtliche gehaltenen Vorträge – bis heute 595!
Gehalten hat sie Professor Dr. Peter Berthold (80), Deutschlands bekanntester Vogelkundler und Naturschützer. Seit der Kindheit ist er, wie er sagt, „den Piepmätzen verfallen.“

Rückblick. Geboren im sächsischen Zittau beobachtete Peter Berthold bereits als 10-Jähriger mit dem Fernglas seines Großvaters die vielfältige Vogelwelt. Besonders angetan hatten es ihm Schwanzmeisen, der Eisvogel und Dompfaffen-Männchen. „Sie waren alle wunderschön und äußerst geschickt“, erinnert sich der Ornithologe.
„Doch so richtig infiziert wurde ich am 19. November 1952“, erinnert sich Peter Berthold, „unter dem Fensterbrett meines Kinderzimmers hatte ich Zigarrenkisten montiert, in die Vögel hineinschlüpften. An diesem Mittwoch landete eine Kohlmeise mit einem Aluminiumring am Bein. Eingeprägt war H69870 Radolfzell Germania.“
Der 13-Jährige machte sich schlau und erfuhr, dass die Meise von einem Lehrer aus der Nachbarschaft für wissenschaftliche Zwecke beringt worden war: „Er war ehrenamtlicher Mitarbeiter und Beringer der Vogelwarte Radolfzell, die damals für Ostdeutschland zuständig war.“
Allerdings: Peter Berthold wollte damals nicht nur ehrenamtlicher Beringer werden. Er wollte mehr: Vogelforscher, nach Möglichkeit in Radolfzell.
Der Zufall. „Mein Vater war nach dem Krieg auf Umwegen auf der Schwäbischen Alb gelandet und hatte begonnen, eine neue berufliche Existenz aufzubauen. Also beantragte meine Mutter eine Ausreisegenehmigung bei der Kommandantur.“

Zwischenzeile: Abenteuerliche Flucht über Dresden in den Westen

Diese wurde ihr problemlos erteilt, allerdings sollte Peter Berthold im Osten in einem Internat bleiben, um beim Aufbau des Sozialismus mitzuhelfen.
„Das war für meine Mutter undenkbar, also wurde mit Unterstützung eines Onkels die Flucht über Dresden und Berlin in den Westen organisiert.“
Während Mutter Berthold im Abteil Blut und Wasser schwitzte, erlebte ihr Sohn Peter die Reise als „ein spannendes Abenteuer.“
Er erinnert sich: „Später als anerkannter Wissenschaftler, wurde ich immer wieder zu Kongressen und Vorträgen in die DDR eingeladen. Da ging es mir als sogenannter VIP immer besonders gut.“
Ein Lächeln huscht über Bertholds Gesicht, als er fortfährt: „Ich hatte damals einen Assistenten, der begleitete mich besonders gern in den Osten: „Mit Dir im Auto gibt es keine Kontrollen.
Da kann ich beruhigt Verbotenes für meine Verwandten mitnehmen ….“
Abitur.  1954 bestand Peter Berthold die Aufnahmeprüfung für ein „Aufbaugymnasium mit Internat“ in Nagold.
„Die idyllische Kleinstadt am Schwarzwald war meine erste Heimat. Und es war der Ort, an dem alle wichtigen Weichen für mein späteres Leben gestellt wurden.“

Ornithologe-Peter-Berthold-füllt-Vogelfutter-in-eine-Futterstelle

Schon lange ist das Füttern überwinternder Vögel bei uns in der Kritik – völlig zu Unrecht, wie Prof. Dr. Peter Berthold festgestellt hat. In Zeiten, in denen der natürliche Lebensraum und damit auch die Nahrungsgrundlage der Vögel immer stärker gefährdet sind, leistet das Zufüttern nach seiner Erfahrung einen wichtigen Beitrag zum Tierschutz und trägt zum Erhalt der Artenvielfalt bei.
Mehr noch: Berthold plädiert sogar dafür, die Piepmätze das ganze Jahr über zu füttern, denn ihnen fehlt es andauernd an ausreichendem Futter. Sie müssen immer weiter fliegen, um satt zu werden.

Er sagt: „Man sollte ein Mischfutter mit vielen Sämereien und mit möglichst wenig Weizenkörnern nehmen. Dann geben Sie ein wenig weiches Fettfutter dazu, also weiche Getreideflocken, die mit Öl angereichert wurden.
Und das Wichtigste: Fett. „Das Beste ist der Meisenknödel!“  Fazit: Wer den gefiederten Gästen das ganze Jahr gutes Futter anbietet, schadet ihnen nicht, sondern leistet tatsächlich einen wichtigen Beitrag zum Vogelschutz. Foto/Copyright: Lennart Preiss

Das waren unter anderem: Mitgliedschaft in der Deutschen Ornithologen Gesellschaft (DO-G). „Zu meiner ersten Mitgliederversammlng in Frankfurt bin ich mit dem Rad gefahren“, erzählt Peter Berthold. „Um rechtzeitig anzukommen, musste ich am letzten Schultag vor Beginn der Sommerferien starten. Doch ich hätte nie freibekommen.“
Also griff der junge Mann zu einem Trick: Er simulierte bei den Bundesjugendspielen beim Hochsprung eine Verletzung und konnte losradeln. Auf der Versammlung erhielt Peter Berthold dann die Genehmigung als ehrenamtlicher Beringer für die DO-G zu arbeiten.
„Der erste Schritt Richtung Ornithologe war geschafft“, schmunzelt er.
Doch wie sollte der Schüler gute Noten und Beringen unter einen Hut bringen? Zumal Peter Berthold beim Beringen von Vögeln aller Arten wirklich überdurchschnittliche Zahlen vorlegen konnte. Darunter litten seine Noten. Also musste der Schüler auf den Internats-Drill noch einen draufsetzen. In Nagold wurden die Schüler morgens um sechs mit einem schrillen Läuten geweckt. Kalt waschen, Vokabeln pauken beim Frühstück, Arbeitsstunden den ganzen
Nachmittag – da blieb nicht viel Freizeit, um Meisen, Spechte, Drosseln oder Stare zu beringen.

Zwischenzeile: „Die Gesellschaft bröckelt an allen Ecken und Enden“

Also beschloss Peter Berthold, seinen Arbeitstag zu verlängern: „Ich war oft schon morgens um vier Uhr wach. Zwei Stunden, die ich für die Vögel nutzen konnte. Also bin ich ausgestiegen, habe mich aufs Rad geschwungen und Beringungsfrühdienst abgeleistet.“ Anders als beim nächtlichen Aussteigen, dem durch das Auflauern von Erziehern oft ein jähes Ende bereitet wurde, interessierte sich niemand für die frühmorgendlichen Exkursionen des Abiturienten.
„Am Frühaufstehen habe ich mein Leben lang festgehalten, bin jahrzehntelang um 4.15 Uhr aufgestanden und war um 5.30 Uhr frisch und ausgeruht am Arbeitsplatz.“
Professor Berthold lehnt sich in seinem Stuhl zurück: „Mit heute ist das nicht zu vergleichen – unser Schulsystem ist kaputt. Lehrer, die in psychiatrischer Behandlung sind oder kurz davorstehen. Schüler, die nur noch mit Tabletten Klassenarbeiten überstehen. In unserer Gesellschaft bröckelt es an allen Ecken und Enden. Da ist es doch kein Wunder, dass überall große Verunsicherung herrscht.
Als meine Tochter Birgit zur Schule ging, habe ich mich bei den Elternabenden immer über die vielen Problemchen und Nebensächlichkeiten aufgeregt und entsprechende Kommentare losgelassen. Es war ja damals schon fast nicht mehr zum Aushalten. Das ging so weit, dass Birgit mich vor den Versammlungen flehentlich bat, dort nicht aufzutauchen: „Ich muss mir dann am nächsten Tag sagen lassen, was du wieder für fromme Sprüche abgelassen hast.“ Sie litt tatsächlich darunter“.
Studium. Nach dem Motto: Je schneller ich das Studium hinter mich bringe, desto eher kann ich an der Vogelwarte Radolfzell eigenständige Forschungen betreiben. Also belegte Peter Berthold ab dem Sommersemester 1959 alles, was sich an Vorlesungen, Praktika und Seminaren irgendwie im Wochenstundenplan unterbringen ließ. Die Folge: Das Studium verging wie im Flug. Während der Semesterferien verdiente Peter Berthold Geld auf dem Bau oder arbeitete als studentische Hilfskraft an der Vogelwarte: „So blieb ich aber auch immer in Kontakt mit den hohen Herren des Instituts.“ Im Dezember 1961 war es so weit: Student Berthold hatte alle erforderlichen Scheine für eine Promotion zusammen und konnte an der Vogelwarte am Bodensee mit der Doktorarbeit beginnen.
1964 bestand er alle Prüfungen mit der Bestnote: „Die Strategie für ein effektives Studium hatte sich ausgezahlt – zehn Semester, inklusive Doktorarbeit, das war in Tübingen das kürzeste naturwissenschaftliche Studium mit Promotion in der Nachkriegszeit.“

Zwischenzeile: War das nicht langweilig, dieses Strebertum?

„Wir waren keine Streber, sondern haben unser Studium in vollen Zügen genossen“, lacht Peter Berthold, „besonders im Feiern waren wir ganz groß. Einmal waren wir in Hohenentringen, um in dem alten Bergschloss zu feiern wie die Rittersleut. Als der Most alle war, bin ich in den Keller geschlichen, um Nachschub zu holen. Als ich wieder durch ein Fenster verschwinden wollte, packte mich der Wirt am Schlafittchen und es setzte eine deftige Standpauke.“
Oder die Mopedfahrt, die in einer Baugrube am Straßenrand ihr Ende fand.
Oder die Wette um ein gebratenes Meerschweinchen.
Oder die durchzechte Nacht, die im Körbchen der Dogge von Peter Bertholds Vermieterin endete. „Wir haben auch nichts ausgelassen“, sagt Peter Berthold mit entwaffnender Ehrlichkeit. Dann schweift sein Blick aus dem Fenster: „Hübsche, intelligente Frauen waren für mich – neben den Piepmätzen – die schönsten Mitlebewesen, die ich mir vorstellen konnte.“
In Tübingen war er da sehr pragmatisch: „Ich habe meiner dritten Jugendliebe Heidi vorgeschlagen zu heiraten, damit wir nicht ständig Ärger von Wirtsleuten oder missgünstigen Nachbarn bekamen.“

Portrait-des-Ornithologen-Peter-Berthold, der-einen-langen-weißen-Bart-trägt-ein-blaues-T-Shirt-anhat-und-in-der linken-Hand-ein-Fernglas-haelt-mit-Fernglas

Im Gespräch erzählte Peter Berthold mir, wie er zu seinem Bart kam: „Viele Jahre war ich immer glattrasiert. 1990 kutschierten meine zweite Frau Gabriele und ich im Volkswagenbus durch Spanien. Ich fing an, mir einen Bart stehen zu lassen. Gabi fand das völlig in Ordnung, meinte, sie liebe mich auch mit Gestrüpp. Aber ich zögerte, sollte ich doch wenige Wochen später den Festvortrag zum 100-jährigen Bestehen der Deutschen Ornithologischen Gesellschaft in Frankfurt halten. Was würden die hohen Herren sagen, wenn plötzlich ein Waldschrat auf der Bühne steht …

Ich äußerte meine Bedenken, doch meine Frau meinte nur, wenn der Vortrag gut sei, sei es den Anwesenden egal, wie der Redner aussieht. Sie hatte recht. Zwar erkannten mich zu Beginn nur die wenigsten Gästen, aber der Vortrag überzeugte und niemand kümmerte sich darum, dass ich plötzlich einen dichten, langen, schwarzen Bart trug.“
Mittlerweile ist der Bart grau-weiß geworden und ein untrügliches Markenzeichen für konsequenten Natur- und Artenschutz. Fotos/ Copyright: Lennart Preiss

Karriere. Peter Bertholds jahrelangen Kontakte zur Vogelwarte Radolfzell und zu namhaften Biologen, wie zum Beispiel Konrad Lorenz, Ernst Schütz oder Erwin Stresemann sollten sich auszahlen. Nach einem Vortrag über die Jahresperiodik von Staren und das Zusammenwirken von Zug und Reproduktion, der Konrad Lorenz begeisterte, führte Peter Berthold mit dem damaligen Direktor der Vogelwarte Radolfzell, der Max-Planck-Forschungsstelle für Ornithologie, Jürgen Aschoff in einem Clubraum auf Schloss Andechs sein einziges Bewerbungsgespräch.
Am 1. September 1967 konnte er anfangen und blieb bis zum Januar 2005, davon die letzten sechs Jahre selbst als Max-Planck-Direktor. Eine Zeit voller Höhen und Tiefen. Oberste Priorität seiner Forschung war dabei immer der Gedanke, dass sich mit solider Grundlagenforschung so zweifelsfreie Fakten schaffen lassen, dass entsprechende Gesetze für die politische Umsetzung sorgen. Weit gefehlt: „Es gibt bei uns keine Möglichkeit, etwas auf eine politische Ebene zu heben, um etwas zu verändern. Die meisten Politiker haben keine Ahnung, worüber sie reden, sondern sind nur darauf bedacht, so lange wie möglich in Amt und Würden zu bleiben, um ihre Pension zu sichern. Pläne, Ideen und zwingend notwendige Veränderungen scheitern an faulen Kompromissen, Unwissen und Desinteresse.“
Naturschützer. Für Peter Berthold war der Weg vom renommierten Grundlagenforscher zum engagierten Naturschützer ein schleichender Prozess. „Als ich 1953 in den Westen kam, gab es Vogelleben überall, fast noch wie im Paradies. Zwar gab es damals kaum Reichtum, erst recht keinen Überfluss, sondern durchweg bescheidene Verhältnisse. Doch die waren Ansporn für Fleiß, Verbesserung und gegenseitige Hilfe. Das war erfolgreich: Wir hatten Aufschwung, das Wirtschaftswunder, regelmäßige echte Lohnerhöhungen etc.“

Zwischenzeile: „Was ist nur von unserer Welt übriggeblieben?“

Peter Berthold streicht über seinen Bart, dann fährt er fort: „Was ist davon übrig geblieben? Was ist von unserer Welt übrig geblieben? Wenig! Die Population unserer Vögel und Insekten ist bis heute um 80 Prozent geschrumpft. Unzählige Arten sind ausgestorben. Luftverschmutzung, Waldsterben, Zersiedelung, Verkehrschaos, Flüchtlingskrise, Lebensmittelskandale, Massentierhaltung, Bevölkerungsexplosion, Mietwucher oder Jugendarbeitslosigkeit – das alles angesichts einer Upperclass von Wegwerfgesellschaft. Negativer geht’s nicht mehr und nichts von alledem kannten wir in unserer Zeit.“
Am Scheideweg. Tatsächlich geriet Peter Bertholds Glauben an das Gute der Gesellschaft erstmals 1973 ins Wanken: Für den Max-Planck-Spiegel sollte er einen Bericht über die Zugvogelforschung schreiben. Heraus kam eine kritische Auseinandersetzung der Vogelreduktion durch Anwendung von Pestiziden (z.B. DDT), Quecksilberverbindungen und Industrieabfällen in Boden, Wasser und Luft.
„Es gab einen Aufstand in der Max-Planck-Gesellschaft, bei den Vorständen der Chemieunternehmen und auch in der Politik. Allein meine Forderung nach mehr Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit stieß auf erbitterten Widerstand“, erinnert sich Peter Berthold.
Das ging soweit, dass die Direktoren der Max-Planck-Gesellschaft ernsthafte Überlegungen anstellten, die Zusammenarbeit mit dem Autoren zu beenden. „Später habe ich erfahren, dass Konrad Lorenz meinen Kopf aus der Schlinge zog. Er beendete die Diskussion, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug und nur zwei Worte sagte: Der bleibt!“
Er blieb 38 Jahre. 38 Jahre, in denen Peter Berthold die Vogelwarte Radolfzell weltweit bekannt machte. Nicht nur in der Fachwelt, auch einem breiten Publikum: Seit 2004 war Peter Berthold zu Gast in 120 Fernseh- und 150 Rundfunksendungen. Anschaulich und für jedermann verständlich schildert er dort komplexe Zusammenhänge in der Natur und gibt praktische Tipps, was jeder Mensch dazu beitragen kann, damit die Umwelt doch noch etwas länger erhalten bleibt. Und er kann sich über kleine, erste Schritte freuen: Zum Beispiel über die Bienen-Retter in Bayern, die mit über einer Millionen Bürgerstimmen, ein Volksbegehren zur Artenvielfalt durchgesetzt haben. „Jetzt müssen die Verantwortlichen reagieren und zeigen, dass es ihnen ernst ist mit Natur- und Umweltschutz.“

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Professor Doktor Peter Berthold flicht zur Entspannung Weiden- und Fangkörbe für die Vögel. Jeder Piepmatz, der in einen Korb flattert, wird gewogen, vermessen und – sofern nicht vorhanden – auch beringt. Alles wird dokumentarisch festgehalten und dient der Wissenschaft. Außerdem ist Peter Berthold ein Fan von alten Westernfilmen. „12 Uhr Mittags“, „Weites Land“, „Die glorreichen Sieben“ und alle Filme mit John Wayne. Vorher mochte er sehr gern Krimis im Fernsehen: „Als ich noch gearbeitet habe, haben die so schön abgelenkt vom Alltagstrott. Die früheren Krimis waren um Klassen besser als die heutigen. Früher saß einer am Telefon und hat mit Fragen ermittelt, bis er der Lösung näher kam. Heute schießt irgendetwas durch die Straße, Lichter flammen auf, batsch, putsch, ein Zirkus für nix. Man wird fast deppert im Kopf. Und es werden Geschichten erzählt, bei denen ich mich frage, wer hat sich das ausgedacht? Nein, jetzt stehen Western auf meinem Programm.“ Foto/Copyright: Lennart Preiss

 

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Peter Berthold hat sich einen alten Bauwagen ausgebaut und als Rückzugsort auf seinem Grundstück aufgestellt. Hier entspannt er beim Flechten oder Vögel füttern. Fotos/ Copyright: Lennart Preiss

Offenbarungseid. In seinem Kampf für sinnvollen Umwelt- und Naturschutz setzt Peter Berthold aber nicht nur auf Fakten, auch die Schöpfung und der liebe Gott spielen eine große Rolle: „Ja, es gibt eine Schöpfung“, sagt Peter Berthold mit dem Brustton innerster Überzeugung. „Vor kurzem habe ich wiedermal einen Film über das Leben in der Tiefsee angeschaut. Fische können in bis zu 8.000 Metern Tiefe leben. Tiefer geht nicht, dann stehen die Eiweiße so unter Druck, dass sie in den Zellen nicht mehr funktionieren. Bei 8.000 Metern Tiefe entspricht der Druck ungefähr der übereinander gestapelten Ladung von 50 Jumbos. Da anzunehmen, dass das nur so aus Jux und Dollerei entstanden ist, nur aus etwas Kohlenwasserstoff, das ist vermessen. Mag ja auf der Erde stimmen. Aber bei der Größe des Universums, da muss ja wohl etwas gewesen sein, das sich das Ganze auch ausgedacht hat. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Es wäre von uns Menschen vermessen zu sagen, wir brauchen keinen Schöpfer. Das entsteht von alleine. Das ich nicht lache. Wir können doch noch nicht einmal ein Hühnerei produzieren. Selbst wenn ich alle Wissenschaftler dieser Welt zusammennehme und sage: Ihr braucht nichts anderes mehr zu machen als ein Hühnerei, kriegen sie das nicht hin, sondern müssen den Offenbarungseid ablegen. Nur der Herrgott kann das. Und sogar noch viel kleinere Eier, die wir Menschen überhaupt nicht sehen können.“
Gegenwart. Im Januar 2005 endeten für Peter Berthold seine vielen Jahre im Max-Planck-Institut für Ornithologie. Bis heute aber hat er dort sein kleines Büro, in dem er bestimmt dreimal in der Woche anzutreffen ist.

Zwischenzeile: „Ich bin im Einvernehmen mit dem Universum“

Hier erledigt er die üblichen Dinge wie Briefe schreiben, telefonieren oder Ablage.
Seit seinem 80. Geburtstag hält er keine Vorträge mehr. Auch das Bücher schreiben hat er erheblich reduziert.
Nur Fernsehauftritten, Rundfunkgesprächen oder Interviews verwehrt er sich nicht: „Besser kann ich die Öffentlichkeit nicht auf meine Ziele aufmerksam machen.“
Alltag. Noch immer beringt Peter Berthold so oft es seine Zeit erlaubt Vögel. Traurig: Fast die Hälfte aller Brutvögel in Deutschland stehen auf der Roten Liste.
Besonders früher weit verbreitete Vögel sind im Schwinden begriffen: „Früher kamen Bluthänfling, Grauschnäpper, Klappergrasmücke oder Gartenrotschwanz in meinen Garten. Die sind verschwunden, aber auch Waldlaufsänger, Braunkehlchen oder Kuckuck locke ich vergebens an.“
Mit seiner zweiten Frau Gabriele bewirtschaftet er nach wie vor eine kleine Landwirtschaft: Schafherde, Hühner und Hofhund. Er betreut die dazugehörige Streuobstwiese, schneidet und pflegt die Obstbäume: „Ich brauche diese Verbindung zur Erde und mache es, solange ich noch kriechen kann.“
Ruhezeit. Allerdings gönnt er sich jetzt mehr Ruhe. So steht er morgens nicht mehr um 4.15 Uhr auf, sondern lässt den Wecker erst um 5 Uhr schellen.
Und Förster aus der Umgebung haben ihm zum Geburtstag eine Sitzbank geschenkt, die nahe des Hauses steht: „Da stelle ich fest, dass ich mich pudelwohl fühle. Ich bin in der Mitte meines Universums, ohne Wünsche.

Einfach nur ich. Es ist ein Bewusstsein auf ein langsames Zugehen auf das Ende. Ich bin im positiven Einvernehmen mit meinem Universum, meiner Welt, mir und dem Herrgott…“
Wer Peter Berthold kennt, weiß, dass dieses Philosophieren oft in einer Idee zum Schutz der Natur und seiner geliebten Vogelwelt endet! Und der weiß auch, dass Peter Berthold immer noch Hoffnung hat, Hoffnung, dass sich vielleicht doch noch alles zum Guten wendet…
Nach drei Stunden verabschiede ich mich von dem großen Ornithologen und als ich gehe, fällt mir eine Bibelzeile ein aus dem Buch Hiob: „Frag doch die Tiere, sie werden dich lehren, und die Vögel des Himmels, sie erzählen es dir.“

Bücher von Peter Berthold

2021-11-13T11:02:02+02:00

Ein Kommentar

  1. Hans-Otto Solty März 14, 2024 um 01:22 Uhr - Antworten

    Danke für Ihre erfrischende Reportage. Leider habe ich erst jetzt, Anfang 2024, Ihre Zeilen gelesen. Jetzt hoffe ich, daß Ihr eingangs erwähnter Wunsch, Prof. Berthold noch einmal zu treffen in Erfüllung gegangen ist und Sie noch einen neuerlichen Bericht veröffentlichen werden.
    Herzliche Grüße
    Hans-Otto Solty

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