Michael Meisheit
„Wir brauchen mehr Pragmatismus“
Michael Meisheit vor einem stählernen Zaun am Kriminalgericht Moabit. Hier verfolgte er den Prozess um die gestohlene 100-Kilogramm-Goldmünze aus dem Bode-Museum. Im Februar 2020 wurden die Täter, drei Männer, zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Zwei von ihnen im Alter von 23 und 21 Jahren, die zu einem bekannten arabischstämmigen Clan gehören, wurden wegen Diebstahls zu einer Jugendstrafe von viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Ein 21-jähriger Wachmann aus dem Museum erhielt eine Haftstrafe von drei Jahren und vier Monaten.
Foto/Copyright: Erik Weiss
Es waren der Titel Watch und der Klappentext, die mich neugierig machten. Der Name des Schreibers sagte mir nichts: Michael Meisheit. Also recherchierte ich ein wenig im Netz, bevor ich das Buch zu lesen begann.
Michael Meisheit ist Jahrgang 1972. Nach dem Abitur studierte er zunächst in Köln Lehramt für Sonderpädagogik, nahm dann sein Film-Studium an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg auf. Schwerpunkt: „Drehbuch“.
Erste Meriten verdiente er sich bei der inzwischen eingestellten Fernsehserie Lindenstraße. Folge 651, Rückkehrer, war Meisheits Lindenstraßen-Debüt.
Fast 400 Folgen hat er für die ARD-Serie geschrieben. Eine Menge, würde ich sagen.
Auch für die Telenovela Rote Rosen war Michael Meisheit mit Feder und Tinte im Einsatz.
Darüber hinaus ist Michael Meisheit im Netz aktiv, betreibt einen eigenen Blog, schrieb Bücher im Netz (zum Beispiel Vanessa X).
2012 erschien dann sein erster Roman Soap, in dem er den Lesern Einblicke hinter die Kulissen einer Serienproduktion vermittelte.
2019 erschien bei Heyne Wir sehen Dich sterben und jetzt Watch.
Nachdem ich den Roman über Überwachung und kriminelle Gangs gelesen hatte (meine Meinung zu dem Buch lesen Sie hier), wollte ich Michael Meisheit kennenlernen. Mich interessierte seine persönliche Meinung über die fortschreitende Digitalisierung und die Macht der Bilder. Und ich war fasziniert von seinem Satz auf Seite 413 des Romans: „Ich verspreche auch, ich antworte auf jede Mail.“
Das machte mich besonders neugierig. Also nahm ich Kontakt auf und wir verabredeten uns für den 18. Januar.
Ich bat ihn um ein Telefongespräch am Nachmittag, da ich später noch einiges zu erledigen hatte. Seine Antwort kam prompt: „Hallo Herr Pfundtner! Morgen Nachmittag bin ich die meiste Zeit (Gott sei Dank) mit meinen Kindern im Schwimmbad, aber wenn es Ihnen zwischen 16:30 und 18:00 Uhr passt, würde ich mich freuen, wenn Sie anrufen.“
Dadurch erschien mir Michael Meisheit sehr sympathisch. Ein Eindruck, der nach dem Telefonat Bestand hat.
Lesen Sie hier, was Michael Meisheit so alles zu sagen hat.
Michael Meisheit klettert über eine kleine Luke auf das Dach des Hauses, in dem er mit seiner Familie lebt. Hier bietet sich ein sensationeller Ausblick über Berlin. Für den Drehbuch- und Romanautor ein ruhiger Ort, wo er entspannt und Ideen entwickelt.
Foto/Copyright: Erik Weiss
Herr Meisheit, wie entstand die Idee zu Watch?
Michael Meisheit: Anfangs ging es mir nicht um Überwachung. Ich hatte irgendwo gelesen, dass es eine Theorie über Doppelgänger gibt.
Welche?
Dass jeder Mensch irgendwo auf der Welt sieben Doppelgänger hat, die diesem total ähnlich sehen. Es gibt sogar eine Internetseite, auf der jeder sein Foto hochladen kann. Dann werden automatisch die Doppelgänger gesucht und gezeigt (https://twinstrangers.net/).
Ich habe mich gefragt, wie würden Kriminelle dies für ihre Geschäfte ausnutzen? Das war der Anfang.
Und dann?
Na ja, über diesen Gedanken kam ich schnell zu einem der großen Themen unserer Zeit – die Überwachung der Menschen und wie weit diese gehen darf. Plötzlich sprudelten die Ideen und ich konnte das Grundgerüst bauen. Natürlich musste ich noch viel recherchieren. Aber noch wichtiger war, dass ich überall dorthin gereist bin, wo der Roman spielt. Ich bin nach Den Haag gereist und habe Europol besucht, war in Cambridge und London …
… eine Stadt mit über einer Million Überwachungskameras …
Richtig. Ich glaube in England gibt es mehr als vier Millionen von ihnen. In London wird, bis auf den persönlichen Wohnbereich, so ziemlich alles mit Kameras überwacht. Niemand kann sich dem entziehen. Es sei denn, er weiß genau, wo die Kameras installiert sind.
Ist das nicht erschreckend?
Ja, das ist es. Aber das war ja auch genau meine Idee. Der Schutz vor Kriminalität oder Terrorismus ist die eine Seite. Aber wie sieht es mit der Privatsphäre aus. Und wie werden unschuldige Menschen geschützt, wenn die vermeintlichen Bilder aus den Kameras eine ganz andere Sprache sprechen.
Da kommt der menschliche Faktor der Entscheidung ins Spiel.
Das ist der Punkt. Kein System ist sicher. Es wird immer Kriminelle geben, die bestimmte Dinge zu ihrem Vorteil umdrehen, sei es zum Beispiel mit Fake News oder dem Eindringen in andere digitale Netze. Menschen können Systeme manipulieren, das ist kein Geheimnis.
Deshalb habe ich versucht, mich dem Thema Überwachung wertfrei zu nähern: Warum machen Kameras Sinn? Wie weit sollte Überwachung gehen? Welche Gefahren birgt diese Art der Kontrolle. Tatsächlich bin ich dann schnell zu dem Schluss gekommen, dass es in unserer digitalisierten Welt auch kein Problem ist, diese Bilder zu manipulieren, und dass das dann auch wieder Konsequenzen hat für Personen, die eigentlich völlig unschuldig sind.
Glauben Sie, dass es schon Überwachungssysteme wie in Watch gibt?
Das kann ich nicht beantworten. Aber ganz ehrlich, ich bin davon überzeugt, dass wir längst auf dem technischen Stand sind, meine literarische Erfindung umzusetzen. Ich denke nur, es ist politisch noch nicht gewollt. Ich glaube aber, es ist nicht mehr weit bis dahin, und bestimmt sagen auch viele Ermittler, dass ein so perfektes Überwachungssystem, wie das von mir im Buch beschriebene, „ein Segen“ wäre. Die damit verbundenen – möglichen negativen – Folgen werden in dem Moment ausgeblendet.
„Wir müssen die Unschuldigen besser schützen“
Bücher, Bücher, Bücher: Stolz umfasst Michael Meisheit seinen zweiten Heyne-Roman Watch, der am 14. Juni in die Buchhandlungen kam. Sein erster Titel in dem Verlag Wir sehen dich sterben, erschien wenige Monate vor der Corona-Pandemie. Obwohl der Autor mit dem Urteil der Leser sehr zufrieden war, konnten die Verkaufszahlen nicht so ganz überzeugen. Der Grund lag aber nicht an mangelndem Interesse, sondern an der Pandemie. Zu Beginn der Corona-Zeit hatten die meisten Menschen anderes im Kopf als Bücher, sagen Experten. Tatsächlich wurde wegen Corona der Erscheinungstermin von Watch dann auch verschoben, vom Herbst 2020 auf den 14. Juni 2021. „Aber jetzt ist Watch da“, freut sich Michael Meisheit, „ich könnte nicht nur die Bücher, sondern die ganze Welt umarmen.“
Foto/Copyright: privat
Dass wir schon heute mit Überwachung leben, wird niemand mehr anzweifeln. Aber muss nicht schon jetzt mehr getan werden, um den Einzelnen besser zu schützen?
Sicherlich. Aber machen wir uns nichts vor, das ist eine Aufgabe der Politik und ihrer Repräsentanten. Ohne allzu viel verraten zu wollen, genau diesen Punkt spricht meine Hauptprotagonistin am Ende des Romans ja auch an. Sie nimmt die Politiker in die Pflicht, verlangt ein Umdenken.
Meinen Sie, dass das auch passiert?
Schwierige Frage. Im Juni hat der Bundestag beschlossen, dass Bundespolizei sowie unsere 19 Nachrichtendienste Computer und Smartphones hacken dürfen. Das ist doch ein Zeichen dafür, dass der Staat immer mehr in die Überwachung geht. Die große Frage ist, ob es genügend Kontrollinstanzen gibt, die Unschuldige schützen und nicht ihre Existenzen vernichten.
Wie in Heinrich Bölls Buch
„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“?
Wenn Sie so wollen, ja. Damals wurde die Tür eingetreten, die Unschuld einer Frau massiv infrage gestellt und eine aggressive Massenpresse urteilte ohne Fakten.
Heute können Überwachungskameras oder Fake News in den sozialen Medien dich und dein Leben in den Abgrund stürzen. Die Methoden haben sich weiterentwickelt, der Effekt ist der gleiche. Und genau da muss Politik ansetzen…
… glauben Sie daran?
Grundsätzlich glaube ich nach wie vor an eine vernünftige Zivilgesellschaft, die das Individuum schützt. Ich glaube auch, dass in einer Zivilgesellschaft immer wieder Korrektive gefunden werden, die die schlimmsten Auswüchse verhindern. Aber, ich weiß auch, dass es Missbrauch geben wird, von Menschen, die sich persönliche Vorteile verschaffen wollen und denen das Schicksal anderer völlig egal ist. Deshalb habe ich meine Zweifel und sehe die Problematik, die in den nächsten Jahren auf uns zukommt. Aber…
… ja …?
… Überwachung funktioniert ja nicht nur durch Kameras. Es gibt viele andere Möglichkeiten in unserer digitalen Zeit. Dabei ist doch interessant, dass viele Menschen sich freiwillig in die sozialen Medien begeben, darin überhaupt kein Problem sehen. Also stelle ich mir doch die Frage: Kann es sein, dass die Jüngeren diese ganzen Überwachungsmechanismen gar nicht als Problem sehen. Eben, weil sie damit aufwachsen, für sie das also völlig normal ist.
Also eine normale Entwicklung?
Für uns Ältere sicherlich nicht. Machen wir uns doch nichts vor: Der Punkt, an dem wir das alles hätten besser kanalisieren, vielleicht sogar besser eindämmen können, ist doch längst vorbei. Das hat doch zur Folge: Wir brauchen entweder einen pragmatischeren Umgang mit der Überwachung oder wir müssen die Kontrollsysteme verschärfen. Ich bin für eine Mischung aus beidem.
Bitte ein Beispiel.
Gern. Nehmen wir die Pandemie und den Schulunterricht. Kommunikationsplattformen wie zum Beispiel Zoom hätten den täglichen Home-Unterricht enorm entlastet. Aber da kamen dann sofort Lehrer und Offizielle um die Ecke und warnten: „Das geht nicht. Die Server stehen in den USA. Da wissen wir nicht, was mit unseren Daten passiert.“ Bei solchen Themen fehlt es mir an Normalität und Pragmatismus.
Böse gefragt: Dann brauchen wir auch keinen Datenschutz mehr …
… natürlich brauchen wir vernünftige Datenschutzgesetze. Jeder sollte wissen können, was mit seinen Daten passiert. Deshalb ist es wichtig, dass die Unternehmen, die Betreiber von Internetseiten, kurz gesagt alle, die unsere Daten bekommen, offenlegen, was damit passiert und wohin sie gehen. Und wenn ich das nicht will, dann muss ich die Möglichkeit haben, das zu verhindern. Missbrauch wird dadurch auch nicht ausgeschlossen, aber zumindest eingedämmt und erschwert.
Die Digitalisierung ist noch lange nicht an ihrem Ende angekommen und erscheint vielen als eine größere Revolution als die Erfindung des Buchdrucks.
Dem kann ich folgen. Tatsächlich wissen wir nicht, was – im positiven Sinn – mit der Digitalisierung noch alles auf uns zukommt. Ganz ehrlich, ich bin wahnsinnig darauf gespannt, was das sein wird. Alle zehn Jahre, so sagen Forscher und Wissenschaftler, gibt es völlig neue Entwicklungen, die uns zunächst einmal zu überrollen scheinen – in einem Tempo, das besonders die Älteren so nicht gewohnt waren. Vergessen wir aber nicht: Das, was früher unsere Eltern an neuen technischen oder gesellschaftlichen massiven Änderungen erlebt haben, ist heute völlig normal, beziehungsweise selbst schon wieder weiterentwickelt. Selbstverständlich dürfen wir dabei die möglichen Gefahren nicht aus den Augen verlieren, aber spannend bleibt es.
Michael Meisheit und Berlin: "Ich bin damals von Ludwigsburg nach dem Studium nach Berlin gegangen, weil ich unbedingt in einer Großstadt leben wollte", erzählt der Buchautor im Interview. "Ich hatte damals schon eine Menge Freunde hier, die mir zu dem Schritt geraten haben. Ehrlich, ich habe es nie bereut. Die lebhafte Atmosphäre der Stadt, das pulsierende Leben, die unterschiedlichsten Menschen lassen mich mitten im Geschehen sein."
Ruhe dagegen findet er an seinem Arbeitsplatz im fünften Stock eines Mietshauses in Berlin-Kreuzberg. Ohne Fahrstuhl. "Meine Kinder fluchen jedes Mal, wenn sie wieder hochlaufen müssen", erzählt Michael Meisheit lachend. "Aber ich habe mich dran gewöhnt und es tut mir auch gut." Kann er sich vorstellen, woanders zu leben? "Nein, im Moment ist das keine Option. Aber was die Zukunft bringt, weiß ich nicht. Im Moment genieße ich Berlin!"
Fotos/Copyright: Erik Weiss
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