IM GERICHT: Haftstrafe wegen Schokoladen-Diebstahl
Berufungsverhandlung gibt Täter eine letzte Chance
In der Altmark Zeitung stand am Samstag, 17. August 2024, in der Ausgabe für den Landkreis Stendal im Lokalteil Tangermünde / Tangerhütte der Prozessbericht der Berufungsverhandlung gegen einen wegen Diebstahls Angeklagten. Der Bericht trug die Überschrift: „Ronny R. muss nicht ins Gefängnis" mit dem Untertitel: „Landgericht: Haft für zwei gestohlene Schachteln After Eight überzogen".
Ronny R. aus Tangerhütte und sein Anwalt Ulf Drewes haben mit der Berufung Erfolg. Die Haftstrafe wurde aufgehoben. ©T.Pfundtner
Tangerhütte / Stendal – Es ist nicht verwunderlich, dass im Gericht häufig Fälle verhandelt werden, die auf den ersten Blick eindeutig sind und entsprechend bestraft werden. Dass aber hinter jedem Fall oft auch ein trauriges Schicksal steckt, wird erst bei genauerem Hinschauen deutlich und kann für die Zukunft des Betroffenen entscheidend sein. Das passiert fast immer in einer Berufungsverhandlung, wie zum Beispiel der Fall von Ronny R. aus Tangerhütte deutlich zeigt.
Der 35-Jährige ist für Richter und Justiz wahrlich kein unbeschriebenes Blatt: Die Liste seiner Delikte ist so lang wie ein Kassenzettel nach einem Wochenendeinkauf: Diebstahl, Nötigung, Beleidigung, Rauschgiftdelikte, Sachbeschädigung, Einbrüche, Bedrohung, Körperverletzung, Verstoß gegen Bewährungsauflagen und, und, und.
Entsprechend auch sein Strafregister: Geldzahlungen, Gefängnis mit und ohne Bewährung, Arbeitseinsätze, Jugendstrafen – im Verlauf der Jahre kam da so einiges zusammen. Auf den ersten Blick ist es also kein Wunder, dass die Kammer am Amtsgericht Stendal wohl das „Ende der Fahnenstange“ als erreicht ansah und R. wegen Diebstahls von zwei Packungen „After Eight" im Wert von 5,18 Euro zu einer Haftstrafe von vier Monaten ohne Bewährung verurteilte.
Dagegen legte sein Anwalt Ulf Drewes, der den Mann seit vielen Jahren vertritt, Berufung ein, sodass es am vergangenen Donnerstag (15. August) zur Verhandlung vor der 10. Strafkammer am Landgericht Stendal kam.
Da Ronny R. die Tat bereits bei der ersten Vernehmung gestanden hatte, musste die Kammer unter Vorsitz von Richterin Julia Rogalski über die Höhe des Strafmaßes entscheiden. Denn, und das war auch die Berufungsbegründung, bei Verhängung der Strafe hatte das Amtsgericht das Übermaßverbot nicht berücksichtigt. Das bedeutet, dass eine gesetzliche Regelung oder eine andere Maßnahme der öffentlichen Gewalt zu unterbleiben hat, wenn die aus ihr folgenden Nachteile für den Betroffenen in keinem Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg stehen.
Konkret bedeutet dies in diesem Fall, dass vier Monate ohne Bewährung für den Bagatell-Diebstahl bei Netto eindeutig zu hoch sind. Das Amtsgericht hätte demnach das Vorstrafenregister und die kriminelle Vergangenheit des Angeklagten mit der gesamten Situation des Täters und der Schwere der Tat in Zusammenhang bringen müssen.
Denn, so wurde vor Gericht deutlich, R. ist nicht nur Alkohol-, Drogen- und Koffeinabhängig, sondern leidet unter Wahnvorstellungen, Verfolgungswahn sowie weiteren psychischen Störungen. Als er sechs Jahre alt war, starb sein Vater – ebenfalls Alkoholiker. Zur Mutter und den Geschwistern gibt es keinen Kontakt. Die Schule brach R. ohne Abschluss ab. Seine erste Ausbildung – damals noch in Freiheit – zum Lackierer, brach er ab. In der Jugendhaft wollte er Koch lernen, hielt aber auch das nicht durch. Auch an sozialen Kontakten mangelt es. Lediglich zu seiner Nachbarin, eine ältere Dame, die er liebevoll „Mutti“ nennt, hat er Vertrauen und besucht sie regelmäßig. Und, wenn er im Gefängnis saß, rief er „Mutti“ regelmäßig an. Während der Berufungsverhandlung wurde deutlich, dass R. große Probleme damit hat, sich und sein Leben in den Griff zu kriegen und eine gesetzliche Betreuung dafür allein nicht ausreicht. Deshalb bewerteten das Gericht und Staatsanwältin Birte Iliev es auch als besonders positiv, dass R. seit einiger Zeit sein Schicksal selbst in die Hand genommen hat. Gerade erst hat er einen vierwöchigen Alkoholentzug in Uchtspringe bewältigt. Dabei wurde er auch bei zwei sogenannten „therapeutischen Belastungsproben“ – sprich Wochenendausgang – nicht rückfällig. „Und wenn ich nicht ins Gefängnis muss, kann ich sofort mit einer Langzeittherapie beginnen.“ Auch um Bürgergeld und die Krankenversicherung kümmerte R. sich hauptsächlich allein. Nur wenn er nicht weiterkam, sprang ihm die Enkelin von „Mutti“, die als Krankenschwester in Uchtspringe arbeitet, beiseite, war sogar bei der Verhandlung mit dabei.
Positive Veränderungen schaffen Grundlage für letzte Chance
Diese vielen positiven Veränderungen erwähnte Verteidiger Drewes in seinem Plädoyer und machte damit deutlich, dass wohl letztendlich wirklich ein übermäßiges Urteil gesprochen wurde. Außerdem, so erklärte der Anwalt, „Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt und ob mein Mandant den eingeschlagenen Weg wirklich durchhält. Aber er weiß um seine letzte Chance, die er unbedingt nutzen will. Und wir wissen alle, wenn er es nicht schafft, wird er wohl wieder eines Tages vor Gericht stehen.“ Und dann wahrscheinlich einrücken müssen. Am Schluss seiner kurzen Rede bat Drewes das Gericht, anstatt einer Haftstrafe eine Geldstrafe, „die in Ihrem Ermessen liegt“, festzulegen. Das sah die Staatsanwaltschaft ähnlich, forderte allerdings eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu jeweils fünf Euro.
Nach kurzer Beratung kehrten Richterin Rogalski und die beiden Schöffen in Saal 121 zurück, um das Urteil bekanntzugeben: Aufhebung der Haftstrafe ohne Bewährung! Stattdessen wurde eine Geldstrafe in Höhe von 60 Tagessätzen zu 10 Euro verhängt. „Sie können Ratenzahlung beantragen. Doch vielleicht schaffen Sie es ja auch durch das Bürgergeld, den Betrag auf einen Schlag zu bezahlen“, schloss die Richterin die Verhandlung. Da der Angeklagte, sein Verteidiger und die Staatsanwältin auf weitere Rechtsmittel verzichteten, ist der Richterspruch gültig, und ein sichtlich erleichterter R. und die Enkelin seiner „Mutti“ verließen lächelnd gemeinsam das Gericht. „Jetzt liegt alles an ihm“, sagte die Krankenschwester der AZ, „aber ich werde versuchen, ihm dabei zu helfen.“
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