Sarah: „Mama, ich will noch nicht in den Himmel!“
Sarah: „Mama, ich will noch nicht in den Himmel!“
Schokoladenpudding gehört mit zu Sarahs Leibspeisen. Davon kann sie nicht genug bekommen. Aber auch zu Pommes, Kartoffelsalat oder Haribo sagt sie nicht nein. Foto/Copyright: Jörg Böthling
Die Geschichte von Sarah begleitet mich seit 2017. Damals befand ich mich nach einem sechswöchigen, künstlichen Koma im Neurologischen Zentrum Magdeburg in der Reha.
Die einzige Abwechslung am Abend – der Fernseher. Eine Sendung, die ich mir seit vielen Jahren immer wieder gern ansehe, ist die „Bambi“-Verleihung von Hubert Burda Medien.
2017 wurde der Charitypreis an eine Krankenschwester verliehen, die im Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg seit vielen Jahren ausschließlich mit der Betreuung von NCL-Kindern befasst ist.
Darüber wollte ich mehr wissen und auch eine Geschichte schreiben. Leider war nach der Preisverleihung der Medienandrang so groß, dass ein Termin frühestens im Sommer 2018 möglich gewesen wäre.
So lange wollte ich natürlich nicht warten. Deshalb recherchierte ich im Netz und stieß auf die Hamburger NCL-Stiftung (siehe Kasten im Text).
Ich vereinbarte einen Termin mit dem Geschäftsführer, Dr. Frank Stehr.
Nach unserem Gespräch brachte er mich mit einer Familie in Kontakt. Aus dem Interview wurde mehr. Viel mehr. Sarahs Geschichte erschien nicht nur in der ehemaligen Stadtgottes, sondern auch in weiteren Magazinen. Und der Kontakt zur Familie besteht bis heute. Ich verfolge nicht nur Sarahs Entwicklung, nein, auch ihre Geschwister und ihre Familie liegen mir am Herzen. In einer zweiten Geschichte berichte ich, wie es mit Sarah weiterging.
Familienglück pur: Mika und Yvonne Marquard mit ihren Kindern: Fynn, der Älteste neben seiner Mutter. 16 Monate später kam Sarah auf die Welt, dann folgten Mikko und Nick. Bis auf Sarah sind alle Kinder kerngesund. Ganz rechts auf dem Foto: Oma Sonja, die mithilft, wo sie nur kann. Foto/Copyright: Jörg Böthling
Sie heißen Timo, Johannes, Clara oder Michaela. Sie kennen sich nicht und werden sich wahrscheinlich auch nie begegnen. Aber sie haben etwas gemeinsam. Etwas, das sie wie ein unsichtbares Band auf immer und ewig miteinander verbindet. Timo, Johannes, Clara und Michaela sind vier von circa 700 Kindern in Deutschland, die an einer sehr seltenen, teuflischen und unheilbaren Krankheit leiden: Neuronale Ceroid-Lipofuszinose, kurz NCL.
Eine Krankheit, die im Volksmund Kinderdemenz genannt wird. Eine Krankheit, die bei allen Betroffenen fast immer mit der Einschulung beginnt. Eine Krankheit, die bis vor einigen Jahren für die Wissenschaft noch ein Buch mit sieben Siegeln war und bis heute von vielen behandelnden Ärzten weder vermutet, geschweige denn erkannt wird.
So war es auch bei Sarah Marquard, 11, aus Hamburg, deren Geschichte wir hier erzählen. „Als Sarah im September 2007 auf die Welt kam, war sie ein quietschfideles Baby mit wachen Augen und unbändiger Energie“, erzählt ihre Mutter Yvonne, 36. Auch Bruder Fynn, 12, der gut 16 Monate zuvor das Licht der Welt erblickt hatte, war von seinem Schwesterchen begeistert. Und Papa Mika, 37, sowieso.
Mika und Yvonne sind waschechte Hamburger, mit Elbwasser getauft. Sie lernten sich in der Hansestadt kennen und lieben, heirateten vor 12 Jahren und hatten immer den Wunsch nach einer großen Familie: „Ich bin eine Glucke, die gern viele Kinder um sich hat“, erzählt die Angestellte in einer Anwaltskanzlei lächelnd.
Auch Ehemann Mika, der damals als Zugführer im Schichtdienst U-Bahnen durch die Stadt fuhr, wünschte sich viele lachende, fröhliche Mädchen und Jungen im Haus. Das Glück schien perfekt als 2011 Mikko geboren wurde. „Drei gesunde Kinder, Herz, was willst Du mehr?“, erzählt Yvonne.
Natürlich wurde es in ihrer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung zu eng. Also mieteten sie eine größere Wohnung, die von außen wie ein kleines Häuschen aussieht, im Stadtteil Wandsbek, richteten auf 95 Quadratmetern ihr persönliches Paradies ein. „Es war eine heile Welt“, sagt Mika, „wir genossen das Leben mit den Kindern. Wir unternahmen viele kleine und größere Ausflüge, besuchten Freizeitparks und Tiergärten.“ Sarah immer an vorderster Front dabei: „Aus dem Streichelzoo haben wir sie nie weggekriegt, weil sie immer noch mal die kleinen Ziegen streicheln wollte“, erinnert sich ihre Mutter, „und nach einer Karussellfahrt bestand Sarah auf einer weiteren Runde.“
Das Schönste aber waren aber die Campingurlaube in Plön: Mit Begeisterung plantschte Sarah im Wasser. „Sie war eine richtige, kleine Wasserratte und sogar Mitglied im Schwimmverein.“
Sarah lauschte in den Fernseher
Daheim in Wandsbek in ihrem kleinen Zimmer hörte Sarah mit Begeisterung CDs von Bibi Blocksberg oder dem kleinen Vampir.
Bilderbücher schaute sie voller Freude mit ihren Eltern an. Und wenn Sarah kuscheln wollte, rannte sie mit weit geöffneten Armen zu Mama, Papa oder ihren Brüdern und wollte dann nicht mehr aufhören zu knuddeln. „Im Kindergarten hatte Sarah viele Freundinnen, die bei uns ein und aus gingen“, erzählt Mika Marquard, „wir hatten immer ein offenes Haus.“
Bevor Sarah mit sieben eingeschult werden sollte, ging sie wie viele andere Kinder auch, zur Vorschule. Und plötzlich fing es an, mit Kleinigkeiten: „Alles begann damit, dass Sarah immer schlechter sehen konnte“, erinnern sich die Eltern, „es fiel uns besonders auf, wenn sie ein Buch durchblätterte.“
Sarah musste die Seiten immer näher an die Augen halten: „Ich dachte, sie sei kurzsichtig, weil ihr Vater es auch ist“, erzählt Yvonne Marquard. Schnell ging es zum Augenarzt.
„Als ich erzählte, dass Sarah bei Kindersendungen im Fernsehen sich immer direkt neben das Gerät stellte, um sehen zu können, hieß es, sie hätte sich das falsch angewöhnt: „Sie müssen Ihr Kind hinten auf die Couch setzen. Bleibt sie nicht sitzen, schalten Sie das Gerät ab. Sie werden sehen, wie schnell Sarah beim Fernsehen in vernünftiger Entfernung sitzen bleibt“, meinte der Arzt.
Das klappte aber nicht. „Sarah kroch zwar nicht mehr zum Fernseher, aber sie schaute auch nicht, sondern lauschte in das Gerät hinein. Das konnte doch nicht sein.“
Sobald Mika Marquard von seiner Arbeit beim Hamburger Verkehrsbund nach Hause kommt, nimmt er sich viel Zeit, um mit den Kindern zu spielen: „Sie dürfen nie denken, dass wir sie wegen Sarah vernachlässigen. Wir sind eine Familie und alle Kinder bekommen unsere ganze Liebe und unsere Zeit..“ Foto/Copyright: Jörg Böthling
Also ging’s zum nächsten Augenexperten. Der machte es sich einfach, schickte Mutter und Tochter zum Psychologen. Motto: „Sie haben zwei weitere Kinder. Sarah ist die Mittlere und Sie vernachlässigen deshalb Ihre Tochter. Mit der vorgetäuschten Blindheit will sie auf sich aufmerksam machen.“
„Das konnte ich mir zwar nicht vorstellen, ging aber dennoch mit Sarah zum Kinderpsychologen.“ Ergebnis: „Ich weiß nicht, was Sie bei mir wollen. Ihr Kind ist glücklich. Ich kann Ihnen nicht helfen.“
Auch eine Brille wurde Sarah nicht verschrieben – „der Augenarzt gingen war ja der Meinung, Sarah würde simulieren …“ Aber es wurde immer schlimmer:
„Sie stieß sich an Möbeln, rannte gegen die Tür oder kleckerte ungewohnt viel beim Essen.“
Also wieder zum Augenarzt. Wieder Sehtests. Wieder Gespräche. Und endlich eine Diagnose: Makuladegeneration. Sarahs Sehvermögen betrug nur noch 10 Prozent.
„Das wird so bleiben“, erklärte uns der Arzt und meinte weiter, dass Sarah trotzdem ein glückliches Leben führen könne in Hamburg“, erzählt ihre Mutter.
Dann verabschiedete sich der Doktor mit den Worten: „Auch wenn Ihre Tochter nur wenig sieht, kann sie gut damit leben.“
Für die Familie war die Diagnose ein schlimmer Schlag, doch ans Resignieren dachte niemand: „Wir unternahmen noch mehr mit Sarah.
Sie sollte so lange es noch ging, so viel wie möglich mit ihren eigenen Augen sehen und als Erinnerungen in ihr Herz schließen.“
„Du bist eine böse Mama“
Auf Drängen der Schulbehörde wurde Sarah in einer Grundschule eingeschult: „Als die Behörden von Sarahs Erblindung erfuhren, bestanden sie darauf, dass sie in eine normale Schule kommt. Inklusion war damals das pädagogische Zauberwort“, sagt Yvonne Marquard. Aber das funktionierte nicht – Sarahs Freundinnen zogen sich zurück und Sarah kam mit dem Stoff nicht zurecht. „Ich dachte, es würde an ihrer Erblindung liegen“, sagt die Mutter, „deshalb meldete ich sie auf der Blindenschule an.“ Sarah reagierte wütend: „Du bist eine böse Mama, da gehe ich nicht hin“, rief sie laut und versteckte sich in ihrem Zimmer.
„Das war natürlich ein Schock. Wir wollten doch nur das Beste für Sarah.“
Während dieser Zeit begann die unsichtbare Krankheit NCL schleichend von Sarah Besitz zu ergreifen. „Mir fiel auf, dass Sarah immer öfter wegzutreten schien und träumte. So, als ob sie in einer eigenen Welt leben würde. Sie war ganz weit weg und nicht zu erreichen. Niemand kam in diesen Momenten an sie ran. Wenn ich jemanden fragte, auch den Kinderarzt, hieß es immer: Ist doch klar. Sarah träumt, weil sie nicht mehr sehen kann. Sie schafft sich ihre Welt.“
Aber Mütter fühlen und erleben ihre Kinder anders. Ihr Instinkt lässt liebende Mütter wissen – ohne dass sie es erklären können – dass etwas nicht stimmt. Egal, was andere sagen oder denken.
Die Situation verunsicherte die ganze Familie: „Aber mein Mann, meine Eltern und Schwiegereltern standen immer hinter mir und machten sich ebenfalls große Sorgen. Wir wussten ja nicht, was wir machen sollten, geschweige denn, wer uns helfen konnte.“
Die Hilfe kam dann von einer völlig anderen Seite – von einer Lehrerin der Blindenschule, die Verständnis zeigte und die Beobachtungen der Mutter bestätigte.
Die Lehrerin hatte ebenso wie Sarahs Mutter bemerkt, dass sich der Gang der Kleinen stark verändert hatte. Sarah wurde immer unbeholfener.
Auch bei Sarahs schulischen Leistungen waren Mutter und Lehrerin der gleichen Meinung: Das Kind verlor von Tag zu Tag den Anschluss – sie vergaß den gesamten Stoff nach ganz kurzer Zeit.
Yvonne Marquard: „Eines Tages erzählte ich der Pädagogin, dass Sarah sich so ganz anders benehmen würde als unsere beiden Jungen und dass es nichts damit zu tun hätte, dass Mädchen nun mal anders seien.
Ich könne das zwar nicht näher erklären, aber ich hätte so ein ungutes Bauchgefühl … Was meinen Sie, fragte ich, ich würde mein Kind so gern ins MRT schicken, damit wir wissen, ob und was in ihrem Kopf nicht stimmt?“
Die Lehrerin hielt dies für eine sehr gute Idee und schlug vor, Sarah solle im Universitätsklinikum Eppendorf untersucht werden – dort gibt es die besten Ärzte und eine Superbetreuung.
Mehr als drei Jahre waren bis zu dieser Zeit vergangen. Tage und Monate voller Angst, Bangen, Verzweiflung und ungezählter Tränen: „Ich weiß nicht mehr, wie oft Mika und ich nachts im Bett lagen, nicht einschlafen konnten und uns schluchzend unsere Ängste und Sorgen gestanden.“
„Und plötzlich blieb die Welt stehen …“
„Was ist bloß mit unserer geliebten Sarah los?
Warum vergisst sie alles?
Ist die Erblindung nicht schon genug?
Was hat Sarah noch?
Wie können wir ihr helfen?
Wer kann uns helfen?“
Dann der 8. Juli 2016, der Tag, der das Leben der Familie noch mehr auf den Kopf stellte und alles veränderte: „Das MRT war gemacht und unauffällig. Aber weil ich gegenüber den Ärzten darauf beharrte, dass mit Sarah etwas nicht stimmt, wurde auch noch ein Blutbild gemacht. Während wir auf die Ergebnisse warteten, klammerten wir uns an unseren Hoffnungsglauben, dass es eigentlich nichts Schlimmes sein könne.“
Doch dann blieb die Welt für Mutter und Vater stehen. Unheilbare NCL lautete die erschütternde Diagnose. „Wir können Ihrem Kind nicht helfen. Sarahs Zustand wird sich nicht verbessern, sondern immer schlechter werden.
Es gibt zwar eine Enzymtherapie für eine NCL-Art. Sarah aber leidet unter einer Form, die noch nicht erforscht ist. Es tut uns sehr leid für Sie und Ihre Tochter. Versuchen Sie die Zeit, in der ihr Zustand so ist wie jetzt, zu genießen. Das war mehr als ein Tiefschlag…“
NCL, im Volksmund Kinderdemenz genannt, ist eine genetisch bedingte Krankheit, die nur dann auftritt, wenn beide Elternteile den Gendefekt an das Kind vererben. (Das Interview mit Doktor Frank Stehr lesen Sie hier)
„Ich hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Ich wollte nur noch allein sein, nichts mehr hören und sehen“, erinnert sich Yvonne Marquard, „wenn es ein Mauseloch gegeben hätte, wäre ich hineingekrochen.“
„Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich richtig geweint. Lange und unaufhörlich“, sagt Vater Mika, „ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so viele Tränen vergossen zu haben …“
Was Yvonne und Mika in diesem Moment gespürt haben, können nur Menschen, die lieben und geliebt werden, in Teilen erahnen. Denn noch etwas kam dazu: Als die Familie von Sarahs Krankheit erfuhr, war Yvonne im vierten Monat schwanger: „Wir waren in jeglicher Hinsicht gefordert und überfordert“, sagt das Ehepaar übereinstimmend, „aber, wir wollten auch den Kampf annehmen und Sarah und unserer Familie ein lebenswertes Leben ermöglichen.
Den Kopf in den Sand zu stecken ist nicht unser Ding, das Leben musste ja weitergehen.“
Das klingt zwar extrem pragmatisch, doch war es tatsächlich der einzige Weg: „Da sind auch noch unsere anderen Kinder. Sollten wir aufgeben oder resignieren? Nein, das kam nicht in Frage.“
Eltern: „Sarahs Erziehung ist nicht leicht“
Eltern: „Sarahs Erziehung ist nicht leicht“
Konzentriert und nachdenklich. Sarah ist total auf das Gespräch mit mir fokussiert, will alles von mir wissen: Wie ich heiße, wo ich wohne und, ob ich Bibi Blocksberg und Jim Knopf kenne. Dann vertraute sie mir an, dass sie keine Lust mehr zum Laufen hat. Als ich ihre Mutter fragend anblickte, sagte sie: „Früher waren wir oft im Streichelzoo. Aber seitdem Sarah nicht mehr sehen kann, mag sie nicht mehr die einst so geliebten Tiere besuchen und weigert sich, zu laufen. Wir machen trotzdem so oft es geht, Ausflüge mit der ganzen Familie und sind zu Fuß unterwegs. Manchmal quengelt Sarah dann so lange, bis wir sie in den Rollstuhl setzen. Es ist traurig zu sehen, wie Sarah immer mehr die Lust am Leben verliert.“ Foto/Copyright: Jörg Böthling
Tag für Tag stellte sich die Familie auf das Leben mit einem Demenz-Kind ein: „Wir wissen ja nicht, wie man ein Demenz-Kind erzieht, sondern müssen aus den Situationen lernen.“
Dafür nennen die Eltern viele Beispiele. Fangen wir mit dem Zähneputzen an: „Wenn Sarah Zähne geputzt hat, steht sie kurz darauf wieder auf der Matte und sagt, sie muss noch ihre Zähne putzen. Früher haben wir ihr erklärt, dass sei bereits geschehen. Dann wurde Sarah traurig und weinte. Sie spürte, es stimmt etwas nicht mit ihr. Heute putzen wir auch fünfmal Zähne. Hauptsache, Sarah ist nicht traurig.“
Auch beim Essen hat sich alles geändert: Während die Jungs das essen müssen, was auf den Tisch kommt, genießt Sarah Narrenfreiheit. „Will sie zum Frühstück Bratkartoffeln, kriegt sie die. Auch bei Süßigkeiten setzen wir keine Grenzen. Natürlich wissen wir nicht, ob das richtig oder falsch ist. Aber wir haben auch noch nie ein Demenz-Kind erzogen… Für uns zählt nur, Sarah soll glücklich sein.“
Natürlich wissen Sarahs Eltern, dass dies nicht leicht für Fynn und Mikko ist und auch die Mehrbelastung geht nicht spurlos an den Söhnen vorbei: „Sie müssen sicherlich mehr helfen als andere Kinder. Aber sie sind mit Begeisterung dabei und ziehen voll mit. Wir können wirklich stolz auf die beiden sein.“
Nur Fynn weiß, dass seine Schwester todkrank ist: „Wir haben mit unserem Ältesten darüber gesprochen“, sagen Yvonne und Mika Marquard.
Interessant: Das Gymnasium, das Fynn besucht, sammelt regelmäßig Geld für NCL-Kinder. Als er über die Krankheit informiert werden sollte, sagte er nur: „Ich weiß darüber Bescheid, meine Schwester hat NCL.“
Prompt erhielt Familie Marquard einen Anruf und wird seitdem unterstützt.
Sarah selbst scheint intensiv in ihrer Seele zu fühlen, dass mehr mit ihr nicht stimmt. „Manchmal stellt sie Fragen, was mit ihr los ist oder ist traurig, weil sie wieder mal etwas vergessen hat“, erzählt ihre Mutter, „dann wiege ich sie in meinen Armen, streichele ihr über das Haar und versuche mein liebes Mädchen zu trösten, ihr Halt zu geben. Es zerreißt uns das Herz, wenn Sarah dann mit ihren blinden Augen ins Leere blickt und sagt: „Mami, Papi, ich will noch nicht in den Himmel…“
„Sarah verdient Respekt und Anstand“
Von Anfang an setzten die Eltern auf einen „normalen“ Umgang mit der Krankheit, sprachen mit Verwandten, Freunden und Bekannten darüber: „Das sind wir unserer Tochter schuldig. Für uns ist es wichtig, dass Sarah mit Respekt und Anstand begegnet wird und nicht mit Unverständnis.“
Das klappte hervorragend: Aus dieser Offenheit heraus entstand schnell ein perfektes Netzwerk rund um die Wohnung in Wandsbek, das für Sarah und die Familie da ist – rund um die Uhr, wenn es sein muss: Oma Sonja, die immer aus Niedersachsen kommt, wenn Hilfe nötig ist.
Hilfsbereite Nachbarn, die morgens um 5 Uhr angerufen werden können, wenn ein Schultransport für Mikko benötigt wird, weil Sarah mit ihrer Mutter zu Hause bleiben muss.
Junge Frauen vom Kinderhilfsdienst, die als Freundin einspringen, wenn Sarah mit anderen Mädchen spielen möchte.
Freunde, die zu Ausflügen einladen oder nur auf einen Plausch vorbeischauen, um dann mit Mikko und Fynn zum Spielen im Jungenzimmer zu verschwinden.
Eine Kinderärztin um die Ecke, die immer für Sarah da ist, wenn Probleme oder Fragen auftauchen. „Sie ist zusätzliche Palliativmedizinerin und das wird leider Gottes irgendwann sehr wichtig für uns“, sagt Mutter Yvonne leise. Doch so weit möchte das Ehepaar nicht denken: „Wir wissen, wenn es eines Tages so weit ist, werden viele Tränen fließen und wir alle werden sehr traurig sein. Aber noch ist das kein Thema.“
Und doch wird die Zukunft geplant: „Sarah soll nie in einem Pflegeheim leben, sondern immer bei uns!“, haben sich ihre Eltern auf die Fahne geschrieben.
„Als wir heirateten, war ein eigenes Haus für uns kein Thema. Wir wollten unser Geld lieber in die Kinder als in Hypotheken und Zinsen investieren. Jetzt aber müssen wir umdenken“, erzählen Yvonne und Mika Marquard und schauen um sich herum, „hier ist alles viel zu klein und zu eng. Hier können wir nicht bleiben.“
Stimmt: Das Bad ist nur ein langer Schlauch. Umbau in ein behindertengerechtes Bad? Unmöglich!
Sarahs Mini-Zimmer, das bereits von einem medizinischen Pflegebett „erschlagen“ wird, liegt im ersten Stock. Ein Treppenlift nach oben kann nicht eingebaut werden – der Flur ist zu eng. Selbst ein Rollstuhl, der irgendwann für Sarah zwingend nötig wird, passt nicht durch den Wohnungsflur.
Aber, alle Versuche – und das waren viele – eine größere, geeignetere und vor allen Dingen barrierefreie Wohnung zu finden, scheiterten: „Für Großfamilien gibt es so etwas in Hamburg nicht“, erzählt Yvonne Marquard. Das ist aber nur die eine Seite, wie ich recherchierte. Dabei musste ich erfahren: Viele Vermieter wollen keine Großfamilie mit einem schwerbehinderten Kind. Und dann auch noch umbauen. Nein, dann lieber absagen.
Nun plant die Familie, doch ein Haus zu bauen, das ganz auf Sarah zugeschnitten ist: Alles auf einer Ebene. Ein behindertengerechtes Bad. Ein kleines Wohnzimmer, lieber größere Kinderzimmer. Eine gemütliche Küche und ein Schlafzimmer für die Eltern. Mehr nicht. Nicht Luxus, sondern Bescheidenheit dominiert den Traum der Familie Marquard.
Und auch hier hat ihr Netzwerk gegriffen: Es gibt bereits eine Firma, die großes Herz zeigt und das Haus günstig bauen würde, um Sarah und der Familie zu helfen. „Ein Radiosender würde gern das Zimmer von Sarah einrichten.“
Aber es fehlt an einem Grundstück! „Wir möchten in der Gegend bleiben. Hier haben wir hervorragende Bedingungen, um Sarah das Leben zu erleichtern und schön zu machen. Hier gehen unsere Kinder in der Nähe zur Schule. Hier sind ihre Freunde. Hier ist unser phantastisches Netzwerk.“ Verständlich, dass die Marquards in der Nähe bauen möchten …
„Vielleicht bleiben einige Erinnerungen“
Lange haben wir mit den Eltern geredet. Längst ist Sarah von der Blindenschule nach Hause gekommen. Sie macht einen fröhlichen und glücklichen Eindruck, begrüßt uns freundlich, bevor sie – ohne irgendwo anzustoßen – in ihrem Zimmer verschwindet. Wir folgen Sarah nach oben. Sie hockt auf ihrem Pflegebett, eine Puppe im Arm. „Ich will eine CD hören, die mit der Geschichte, wo ein Hund bellend auf Bibi zukommt.“
„Welche meinst Du?“, fragt ihre Mutter, „erzähl das etwas genauer, du hast über 300 Hörspiele…“ „Na, die mit dem Hund …“
Geduldig zieht Yvonne Marquard eine CD nach der anderen aus dem Regal, liest die Klappentexte vor. Es sind immer die Falschen.“ Dann, endlich das richtige Hörabenteuer. Gespannt lauscht Sarah den Stimmen.
„Vielleicht bleiben diese Hörspiele später fest verankert in ihren Erinnerungen“, hofft Yvonne.
NCL-Forscher sind davon überzeugt, dass sich Demenz-Kinder Erinnerungsinseln bewahren. Meist Kleinigkeiten: Ein Hobby, ein bestimmtes Lied oder eine bestimmte Berührung. Bei Sarah könnten dies ihre CDs sein. Vielleicht aber auch das Fell einer kleinen Ziege oder der Geschmack von Pommes Frites: „Seit Sarah blind ist, hat sie das Interesse an Ausflügen oder Freizeitparks verloren. Alles langweilt sie. Nur wenn wir im Zoo sind, streichelt sie minutenlang und intensiv die jungen Ziegen, will nicht aufhören“, sagt ihre Mutter wehmütig. „Wenn wir dann weitergehen wollen, brauchen wir nur zu fragen, ob sie etwas essen möchte. Die Antwort kommt dann immer wie aus der Pistole geschossen: Ja, Pommes Frites.
Sarahs Weg scheint medizinisch vorherbestimmt: Depressionen und Aggressionen in der Pubertät. Weitere Verschlechterung des körperlichen Zustands bis zur völligen Hilflosigkeit und zum frühen Tod.
Auch eine Magensonde wird eines Tages sicherlich ein Thema in der Familie. Bei aller Trauer und trotz aller Hoffnung, wissen Yvonne und Mika Marquard, dass sie irgendwann eine Entscheidung treffen müssen. Dabei steht für sie das Wohl von Sarah zu hundert Prozent im Vordergrund. „Aus jetziger Sicht werden wir uns wohl für eine Magensonde entscheiden. Aber sollten wir spüren, Sarah leidet. Dann, ja dann …“ Yvonne Marquard antwortet leise und ihr Satz dringt in die Herzen vom Fotografen Jörg Böthling und mir.
Gefasst schaut sich Sarahs Mutter um, sagt dann: „Wissen Sie, wir geben die Hoffnung nicht auf. Vielleicht finden die Forscher in den nächsten Jahren auch einen Weg, um Sarahs NCL-Form zu heilen. Daran klammern wir uns, auch daraus ziehen wir Kraft …“
„Was für eine starke Familie“, schießt es mir durch den Kopf, „wie viel Kraft, wie viel Lebensmut und welch tiefe Liebe in diesem Haus zu spüren ist, das ist schon etwas ganz Besonderes.“
Fast drei Stunden haben Fotograf Jörg Böthling und ich in diesem Mikrokosmos des Glücks verbringen dürfen. Geborgenheit. Innigkeit. Familie – all das hat das Gespräch beherrscht. Nicht Krankheit, Elend und Leid.
Zum Abschied drücke ich Sarah ein kleines Geschenk in die Hand: „Das ist ein Schutzengel, der Dich von nun an begleitet und behütet. Verlier ihn nicht.“
Tatsächlich – und das ist vielleicht ein kleines Wunder – Sarah hat den lachenden Schutzengel bis heute nicht verloren und hält ihn in Ehren und oft ganz fest – wie mir ihre Mutter erzählte …
Sarahs Kinderzimmer ist nur klein, aber – wie wohl bei allen Mädchen und Jungen – voll mit lebenswichtigen Dingen: Puppenstube, Stofftiere, Tisch, Bett und Stuhl. Bei Sarah fehlen nur die Bücher, da sie nicht lesen kann. Aber hören: Mittlerweile hat sie über 300 CDs mit Hörspielen. Und auch, wenn Sarah die Titel nicht lesen kann, weiß sie doch ganz genau, welches Hörspiel ihre Mutter in den CD-Player einschieben soll. Ihre Beschreibungen sind nicht immer präzise, aber Mutter Yvonne ahnt meistens, welche CD gemeint ist. Große Freude herrscht bei Sarah immer, wenn die Omi zu Besuch kommt, denn auch sie beschäftigt sich stundenlang mit der Enkelin. Foto/Copyright: Jörg Böthling
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