Faszination und Entsetzen

 

Klassenzimmerstück „Es ist, was nicht war“ feierte im Kaisersaal des TdA Premiere.

 

Die beiden Hauptdarsteller Josephine Behrens und Matthias Hinz.©T.Pfundtner

Stendal – Die Darstellung von häuslicher Gewalt gegen Kinder ist auch für das Theater ein hochsensibles und emotionales Thema. Mit der Premiere des Klassenzimmerstücks für Menschen ab 13 Jahre von „Es ist, was nicht war“ legt das Theater der Altmark eine Inszenierung hin, die einerseits zu Herzen geht, andererseits aber auch Entsetzen auslöst. Die Geschichte von Olivier Garofalo, die 2014 in Bruchsal am Badischen Landestheater uraufgeführt wurde, ist schnell erzählt:

Ein Umzug nach Stendal. Das bedeutet für Isabelle (Josephine Behrens) eine neue Schule, eine neue Klasse. Kurz vor dem Unterricht ist es an der Zeit, sich den Mitschülern vorzustellen.

Doch Isabelle möchte nicht von sich erzählen, sie spricht über ihre beste Freundin Elisabeth, die sie oft zum Spielen besuchte.

„Das Klassenzimmer“ im TdA©T.Pfundtner

Das beteiligte Team des TdA beim verdienten Schlussapplaus.©T.Pfundtner

Sie berichtet davon, warum sie einen Tag nicht vergessen wird. Den Tag, an dem sie Zeugin wird, wie Elisabeths Vater wie so oft zu viel Alkohol trinkt und die Kontrolle über sich verliert.

Isabelle erzählt, dass ihre Freundin ein Leben führt, bei dem sie immer wachsam sein muss, immer vorbereitet – eine gepackte Tasche mit allem Nötigen steht gepackt im Flur. „Wie bei Agenten“, erklärt sie der Klasse. Sogar die Mutter hat eine gepackte Tasche bei sich, eine ganz kleine. „Für den Fall, dass es ganz schnell gehen muss.“ Während die junge Frau erzählt, packt sie symbolisch die kleine Tasche mit Zeugnissen, Ausweisen und anderen Papieren sowie etwas Wäsche.

Während Isabelle die Geschichte ihrer Freundin schildert, verändert der plötzliche Besuch eines Theaterpädagogen (Matthias Hinz) die gesamte Situation, die nun zu eskalieren droht …

Es dauerte einige Sekunden am Ende von „Es ist, was nicht war“,  bis das Publikum zu applaudieren begann. So, als ob es erst das Gesehene realisieren und den Schluss verarbeiten musste. Doch dann wollte der Applaus kein Ende nehmen, sodass Josephine Behrens und Matthias Hinz sich immer wieder verbeugen mussten. Tatsächlich sind es die beiden, die das Stück „tragen“, wobei Isabelle zunächst im Vordergrund steht. Und dabei leistet Josephine Behrens Erstaunliches: Ihre Mimik, besonders ihre Augen, unterstützen den Text bis ins kleinste Detail. Egal, ob sie eine Tasche packt, eine Kassette mit ihren Lieblingssongs in den Recorder geschoben wird oder ihr Kinderzimmer auf der Tafel beschreibt – da sitzt jeder Satz, passt jede Bewegung. Und im Publikum steigt das schleichende Entsetzen und Unverständnis für häusliche Gewalt an Kindern von Satz zu Satz. Damit nicht genug: Nichts an der Darstellung von Isabelle wirkt in irgendeiner Weise kitschig oder aufgesetzt. Im Gegenteil: Behrens schildert die Realität so, wie sie ist. Was mit Sicherheit den Nerv des jungen Zielpublikums treffen wird. Das gilt auch für Matthias Hinz, der dem gesamten Stück eine Wende gibt, die so wohl niemand erwartet hätte. Obwohl nur kurz auf der Bühne präsent, haucht er seiner Rolle als verzweifelter, ständig relativierender Pädagoge so viel Leben ein, dass der Zuschauer sich fragt, welches Geheimnis diesen Mann umgibt.

Ein Thema, das auch heute noch tabuisiert wird, obwohl es viel zu viele Kinder und Jugendliche betrifft – und nicht nur die

Nach der Aufführung gab es Möglichkeiten, Fragen an Experten zum Thema zu stellen.©T.Pfundtner

Über Jahre wurde das Thema „häusliche Gewalt“ stark tabuisiert oder verharmlost. Deshalb ist das Klassenzimmerstück von Olivier Garofalo wichtig: Es konfrontiert junge Menschen behutsam mit der Thematik, die eigentlich überall zu finden ist – auf dem Land, in der Stadt, beim Nachbarn … Damit die Zuschauer sich mehr mit dem Thema auseinandersetzen können, findet im Anschluss an jede Vorstellung ein Nachgespräch mit spezifischem Fachpersonal aus der Projektgruppe »Gemeinsam gegen Gewalt« und / oder dem Jugendamt Stendal sowie der Theaterpädagogik des TdA statt. Die Mitglieder der Projektgruppe »Gemeinsam gegen Gewalt« sind zum Beispiel das Frauenhaus Stendal, der soziale Dienst der Justiz Stendal, die Polizei Stendal, der Weiße Ring oder das mobile Team zur psychologischen Betreuung von Frauen und Kindern in Frauenhäusern.

Bereits die Premiere zeigte, dass auch die Erwachsenen viele Fragen haben und dem Problem oft hilflos gegenüberstehen.  So wird es sicherlich auch vielen Jugendlichen nach der Vorstellung ergehen, die möglicherweise zum ersten Mal durch diese Thematik aus ihrer heilen Welt gerissen werden und nun Gesprächsbedarf haben.

Im Kaisersaal wurde fast so lange gefragt, wie die Aufführung dauerte: 45 Minuten. Und es hätte noch weitergehen können, denn alle Fragen konnten nicht beantwortet werden.

Fazit: Häusliche Gewalt ist ein Thema, das für Entsetzen sorgt. Aber wenn zwei Darsteller diese Situation, die unendlich viele Kinder und Jugendliche täglich  betrifft, emphatisch schildern – ohne „Popcorn, Zuckerwatte oder Kitsch“, dann sollte jede Schule dieses Klassenzimmerstück für den Unterricht einsetzen.

Thomas Pfundtner

Die Beteiligten des TdA

BESETZUNG
Schauspielerin (Isabelle): Josephine Behrens
Theaterpädagoge (Mike): Matthias Hinz

KÜNSTLERISCHE LEITUNG
Regie: Greg Stosch
Ausstattung: Sofia Mazzoni
Dramaturgie: Roman Kupisch
Hospitanz / Produktionsbegleitung: Jacob Schwarzlose / Cora Unnau / Mikael Below
Hospitanz / Ausstattungsassistenz: Robin Polifka
Requisite: Justin Harwardt / Eva Wortmann
Ankleiderin: Maria Quade

TEAM BÜHNE
Technischer Direktor: Ronald Gehr (Vertretung)
Theatermeister: Steffen Nodurft / Veikko Poitz
Beleuchtungsmeister: Ronald Gehr
Tonmeister: Ralf Linder
Werkstattleitung: Steffen Poitz
Kostümwerkstattleitung: Kirstin Versümer
Bühnentechnik: Michael Briest, Sebastian Franz, Marcel Jatzek, Christian Köppe, Ralf Thalis

HILFSANGEBOTE UND BERATUNG IM LANDKREIS BEI HÄUSLICHER GEWALT

DRK Beratungs- und Interventionsstelle Miß-Mut

Bruchstraße 1, 39576 Hansestadt Stendal
Telefon: 03931 – 70 01 05
Mobil: 0176 – 83 78 68 23
Mail: miss-mut@drk-stendal.de

Interventionsstelle für Opfer häuslicher Gewalt und Stalking Stendal

Bruchstraße 1, 39576 Hansestadt Stendal
Telefon: 03931 – 70 01 05
Mobil: 0176 – 52 11 52 90
Mail: interventionsstelle@drk-stendal.de

Frauenhaus Stendal

Telefon: 03931 – 71 52 49 oder 0170 – 986 77 25

Sozialer Dienst der Justiz Stendal
Opferberatung, Psychosoziale Prozessbegleitung

Mönchskirchhof 6, 39576 Hansestadt Stendal
Telefon: 03931 – 64 95 17 oder 03931 – 64 95 26
Mail: soz-dienst.sdl@justiz.sachsen-anhalt.de

Onlineberatung für Jugendliche

www.jugendnotmail.de

NOTFALLNUMMERN

Kinder- und Jugendtelefon
»Nummer gegen Kummer« 

0800 111 03 33

Kinder- und Jugendtelefon

116 111

»Weißer Ring e.V.« Opfertelefon

116 006

Telefonseelsorge

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Polizeinotruf 

110 oder Polizeidienststellen