Imponierender Theaterabend im Gericht

 

Premiere des Tatsachen-Schauspiels „Rishi“ beeindruckt und entlässt das Publikum mit vielen Fragen

 

Kerstin Slawek, Lukas Franke und Hannes Liebmann in verschiedenen Rollen. ©Böhme, TdA

Trauer, Wut, Gerechtigkeit; vielen Einflüssen sind die Beteiligten ausgesetzt.©Böhme,TdA

Von Thomas Pfundtner

Stendal – Beklemmend. Bedrückend. Beängstigend. So könnte das Stück „Rishi“, das am 1. Februar in einer Inszenierung des Theaters der Altmark im Stendaler Amtsgericht aufgeführt gegeben wurde, mit wenigen Worten beschrieben werden. Reicht das aus? Sicher nicht. Zumal das Stück des niederländischen Dramatikers Kees Roorda auf einem wahren Fall beruht. Ein Fall, bei dem es – wie so oft – um die Fragen Schuld, Wahrheit, Zweifel und unterschiedliche Sichtweisen geht.
Dass die Premiere im Stendaler Amtsgericht stattfand und auch die nachfolgenden Aufführungen in einem dortigen Gerichtssaal stattfinden, ist gewollt. Bereits 2016 führte das TdA in dieser sterilen Atmosphäre „Terror“ von Ferdinand von Schirach auf. Damals waren die Zuschauer Schöffen, die am Ende der Aufführung über Schuld oder Unschuld urteilen mussten. Das blieb ihnen bei „Rishi“ erspart. Stattdessen verließen sie am Ende den Gerichtssaal mit vielen Fragen ohne klare Antworten, so dass jeder für sich über Schuld oder Unschuld entscheiden konnte.
Am 24. November 2012 wurde morgens gegen 6 Uhr auf dem Den Haager Bahnhof der unbewaffnete 17-jährige Rishi Ch. von einem Polizisten erschossen. Angeblich war das Opfer im Besitz einer Schusswaffe. In einer aufsehenerregenden Verhandlung wurde der Schütze von den Vorwürfen des Mordes, des Totschlags und der Körperverletzung mit Todesfolge freigesprochen. Hier setzt Kees Roorda an: Nüchtern und sachlich lässt er den Richter die Urteilsbegründung verlesen, um anschließend durch Zeugenaussagen, Rekonstruktionen, Erinnerungen und Beurteilungen den gesamten Fall darzustellen.
Alle mehr oder weniger Beteiligten kommen zu Wort: Schütze, Mutter, Schießausbilder, Schulfreund, Freundin, Journalist, Nachbarin oder ein Engländer – alle kommen zu Wort und schildern ihre Sicht auf den tödlichen Schuss. Insgesamt 25 Personen, unterschiedlichster Herkunft und Position. Nur einer – ein Obdachloser, der angeblich die Pistole gesehen und gemeldet hatte, nicht. Unauffindbar, wie es hieß.

Lukas Franke und Hannes Liebmann.©Böhme,TdA

Lukas Franke, Hannes Liebmann und Kerstin Slawek schlüpfen in spannungsgeladenen 90 Minuten in die 25 unterschiedlichen Personen, die sich in zwei Lager aufteilen: emotional Betroffene und rational denkende und handelnde Beteiligte.
Wie die drei TdA-Ensemblemitglieder im Amtsgericht die verschiedenen Personen darstellen und welches Leben sie ihnen einhauchen – das hat schon was. Arrogant. Traurig. Nachdenklich. Zweifelnd. Sachlich. Egoistisch – alle Facetten werden von dem Trio zwar nur gestreift, bilden aber dabei einen Spannungsbogen, der das Publikum immer tiefer in Rishis letzte Lebensnacht zieht. Und das, obwohl der Text in vielen Teilen mehr an ein Skalpell erinnert, das routinemäßig Haut durchtrennt. Verbunden mit der nüchternen Atmosphäre eines Gerichtssaals und grellem, kaltem Licht wird das Publikum zwischen Mitleid, Vorverurteilung, Grusel, Verständnis und Missbilligung hin- und hergerissen. Es gibt Momente, da wünscht sich das Publikum Ruhe und Entspannung – vergeblich. „Rishi“ erschüttert und macht ratlos. Wer hat Recht? Wer steht auf der richtigen oder falschen Seite? Wie kleine Raketen schießen diese Fragen durch die Köpfe, können aber nicht zünden, weil es keine Antwort gibt. Dafür liegen Empathie und Ratio in diesem „Gerichtsdrama“ zu dicht beieinander. Es wird schnell deutlich, dass Slawek, Liebmann und Franke auch gar keine Antworten geben können – nicht nur, weil der Text das verbietet. Nein, mit ihrer Darstellung der einzelnen Beteiligten fordern sie das Publikum heraus: „Bildet Euch eine eigene Meinung. Findet Eure Wahrheit. Wir sind nur die Schauspieler.“ Nur?
Nein, sie sind mehr. Sie sind die Katalysatoren, die zeigen, dass jede Sache zwei Seiten hat und es nicht nur eine Wahrheit gibt. Genau das ist es, womit sich Richter Tag für Tag auseinandersetzen müssen – oft in zermürbenden Verhandlungen, in denen die Wahrheit plötzlich unheimlich viele Seiten hat. Was auch von allen Prozess-Beteiligten, Staatsanwälten, Anwälten, Angeklagten oder Zeugen, entsprechend ausgenutzt, beziehungsweise eingesetzt wird.
Für diese Leistung des Rishi-Ensembles geht ein besonderer Dank auch an die Regie von Nicola Bremer und Wiebke Heeren, sowie an die Dramaturginnen Sylvia Martin und Patricia Hachtel, die auf Reduzierung setzten und auf jeden theatralischen Schnörkel verzichteten.

Schlussapplaus für einen beeindruckenden Theaterabend im Gericht.©T.Pfundtner

Alle Beteiligten erhalten zum Applaus noch eine Rose.©T.Pfundtner

Im Hamburger Schauspielhaus feierte 1987 unter der Regie von Peter Zadek „Andi Z.“ Premiere – die Geschichte eines schwer erziehbaren jungen Mannes, der mit 16 Jahren von einem Tabakhändler erschossen wird, weil er sich an dessen Auto herangemacht hatte. Auch damals stellte Zadek die Frage nach „Recht oder Unrecht“ in Form eines Musicals in den Mittelpunkt der Handlung. Ein genialer Heinz Schubert (Ekel Alfred) spielte den Täter. Dem bis dato unbekannten Uwe Bohm gelang als Andi der Durchbruch. Und die Musik der Einstürzenden Neubauten und Blixa Bargeld gab dem Stück noch eine besondere Würze.
All das fehlte bei „Rishi“. Aber, ganz ehrlich, alles hat seine Zeit. Und was damals gut war, vermisst heute niemand. Zumindest nicht bei „Rishi“ vom TdA.
Vielleicht blieb doch eine Frage: Warum wurden die weißen Kostüme mit orangefarbenen Revers, Knöpfen und Streifen verziert? Weiß ist die Unschuld. Und Orange? Die Farbe für das Leben und die Lebensfreude, beides wurde genommen. Ein sehr feines Detail in der Ausstattung von Gretl Kautzsch.
Fazit: Ein beeindruckender Theaterabend, der durch seine Schlichtheit, fast analytische Texte und drei tolle Schauspieler imponiert.

BESETZUNG
Beamter B / Der Schulfreund / Freundin / Zugführer / Rumänin / Sicherheitsmitarbeiterin / Bastian / Polizist 2 / Ersthelfer D: Lukas Franke
Der Richter / Beamter A / Schießausbilder / Cousin / Kollege / Engländer / Tim / Schütze: Hannes Liebmann
Irene / Nachbarin / Journalist / Krankenschwester / Hauptschaffnerin / Nele / Ersthelfer C / Mutter: Kerstin Slawek

KÜNSTLERISCHE LEITUNG
Regie: Nicola Bremer, Wiebke Heeren
Ausstattung: Gretl Kautzsch
Dramaturgie: Sylvia Martin / Patricia Hachtel
Regieassistenz / Inspizienz: Razan Naser Eddin

TEAM BÜHNE
Hospitanz / Soufflage: Henrietta Muleit
Hospitanz / Ausstattung: Robin Polifka
Praktikum: Amelie Prüfert
Technische Leitung (i.V.): Ronald Gehr
Theatermeister: Veikko Poitz

 Impressionen von „Rishi“©T.Pfundtner