Die mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin Fatma Aydemir © Sibylle Fendt

Fatma Aydemir erhält den Preis der LiteraTour Nord 2023

Eine preisgekrönte Familiengeschichte: Dschinns

Die in Berlin lebende Schriftstellerin Fatma Aydemir erhält den von der VGH Stiftung ausgelobten und mit 15.000 Euro dotierten Preis der LiteraTour Nord. Mit dieser Entscheidung würdigen Jury und Stifterin die Autorin für ihr bisheriges Werk, insbesondere für ihren zuletzt erschienenen Roman Dschinns (Hanser Verlag, 2022).

In ihrer Begründung hebt die Jury „Aydemirs organische Erzählweise“ hervor. Diese gebe „nach und nach den Blick auf eine feine Komposition aus Vorausdeutungen, Parallelen und Motiven frei. Poetische Momente treffen uns im Fluss des Erzählens genauso unvermittelt wie die Abgründe, die sich in den Figuren auftun. Mit ihrem ungewöhnlich genauen Blick für Details hat Fatma Aydemir mit der Geschichte der Familie Yilmaz im Deutschland der 1990er Jahre einen noch lange gültigen wie zeitgenössischen Gesellschaftsroman geschaffen.“

Die Preisverleihung findet am Donnerstag, 13. April in Hannover statt. Die Laudatio hält die Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin Maryam Aras.

Der Preis der LiteraTour Nord wird seit 1993 vergeben. Bisher erhielten ihn Bernd Eilert, W.G. Sebald, Wilhelm Genazino, Anne Duden, Robert Gernhardt, Christoph Hein, Emine Sevgi Özdamar, Dirk von Petersdorff, Josef Haslinger, Bodo Kirchhoff, Liane Dirks, Hartmut Lange, Terézia Mora, Karl Heinz Ott, Thomas Hürlimann, Katja Lange-Müller, Jenny Erpenbeck, Matthias Politycki, Iris Hanika, Gregor Sander, Marica Bodrožić, Ralph Dutli, Michael Köhlmeier, Ulrich Schacht, Tilman Rammstedt, Lukas Bärfuss, Joachim Zelter, Ulrike Draesner, Iris Wolff und Judith Hermann. Alle Informationen zum Projekt finden Sie auf  www.literatournord.de.

„Dschinns“ –  umgangssprachliche Pluralform für die Wesen, die Wünsche erfüllen, wenn eine Figur aus einer Phantasiegeschichte an einer Lampe oder Flasche reibt. Damit ein etwas irreführender Titel für eine Familiengeschichte, die sich in unserem Land so und ähnlich hundertfach ereignen könnte, und mit den wunscherfüllenden Wesen nicht viel gemein hat.

Der Koran widmet den Dschinn (männlich: Dschinni, weiblich: Dschinniya, Mehrzahl: Dschinn) die Sure 72, in der die Dschinn sich selbst äußern und es geht daraus hervor, dass es Gläubige und Ungläubige unter ihnen gibt. Sie sind unsichtbar, also gestaltlos, können aber nach dem Volksglauben verschiedene Gestalten annehmen. Das ist wohl die Verbindung zu den allgemein bekannten Phantasiegeschichten und die Verbindung zum Roman.

Verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Gedanken und „Geistern“ bilden eine Familie, wo findet sich die Gemeinsamkeit?

Dreißig Jahre hat Hüseyin in Deutschland gearbeitet, nun erfüllt er sich endlich seinen Traum: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Nur um am Tag des Einzugs an einem Herzinfarkt zu sterben. Zur Beerdigung reist ihm seine Familie aus Deutschland nach. Fatma Aydemirs großer Gesellschaftsroman erzählt von sechs grundverschiedene Menschen, die zufällig miteinander verwandt sind. Alle haben sie ihr eigenes Gepäck dabei: Geheimnisse, Wünsche, Wunden. Was sie jedoch vereint: das Gefühl, dass sie in Hüseyins Wohnung jemand beobachtet. Voller Wucht und Schönheit fragt „Dschinns“ nach dem Gebilde Familie, den Blick tief hineingerichtet in die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte und weit voraus.

  • Herausgeber ‏ : ‎ Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG; 11. Edition (14. Februar 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 368 Seiten
  • Preis ‏ : ‎ 24 Euro
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3446269149

Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Sie lebt in Berlin und ist Kolumnistin und Redakteurin bei der taz. Bei Hanser erschien 2017 ihr Debütroman Ellbogen, für den sie den Klaus-Michael-Kühne-Preis und den Franz-Hessel-Preis erhielt. 2019 war sie gemeinsam mit Hengameh Yaghoobifarah Herausgeberin der Anthologie Eure Heimat ist unser AlbtraumDschinns wurde mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet.

Im Familienroman Dschinns werden die Familienangehörigen des Familienoberhauptes Hüseyins kapitelweise vorgestellt und so vertieft sich das Bild von Hüseyin Yilmaz – immer aus einer anderen Perspektive.

Die Familie stammt aus der Osttürkei und der Vater ist zum Arbeiten in die Bundesrepublik migriert. Der familiäre Zusammenhalt basiert auf Respekt vor der älteren Generation, aber nicht auf Offenheit und Vertrauen. Die Kinder gehen ihren Weg, der der deutschen Umgebung entspricht, und entfernen sich so von der Elterngeneration.

Die Titel gebende Idee des Dschinns gibt Fatma Aydemir selbst an „als diffuse Angst, die sich nie vollständig greifen und aussprechen lässt.“ Der Dschinn tritt bei jeder Person anders auf. Je nachdem, ob und wie viel die Person von sich selbst preisgibt.