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„Ach, lass mich doch mit der Vergangenheit in Ruhe.“ Diesen Satz höre ich, je älter ich werde, immer häufiger. Mir scheint es so, als ob die Schnelligkeit unseres Alltags über das Vergangene hinwegspült, wie die Wellen über Spuren im Sand.
Aber reicht es wirklich aus, die eigene Geschichte nur im Heute zu sehen, ohne das Gewesene mit einzubinden?
Ich glaube nicht! Das ist vielleicht ein Grund, warum mich – neben den sogenannten Bestsellern – besonders Autobiografien und Familienchroniken interessieren – und dabei besonders Erinnerungen und Schilderungen aus den letzten 100 Jahren. Sei es als Roman, persönliche Erinnerung oder historische Aufarbeitung. Demzufolge wurde ich natürlich neugierig, als ich in der taz die Rezension über Das Buch Alice – Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten des Feuilleton-Chefs Andreas Fanizadeh las.
Das Buch Alice wurde von der Historikerin Dr. Karina Urbach (zum Interview geht es hier), die heute in Princeton forscht, geschrieben. Als Enkelin erzählt sie die Geschichte ihrer Großmutter, Alice Urbach, die – auch für heutige Verhältnisse – ein schier unglaubliches Leben hatte. Von ganz oben, nach ganz unten, aber immer wieder aufgerappelt, könnte eine einfache Beschreibung sein. Aber das würde diesem Buch in keiner Weise gerecht, denn natürlich ist die Geschichte von Alice Urbach viel komplexer und tiefgründiger.
In ihrem Vorwort schreibt Dr. Karina Urbach: „Als ich viele Jahre nach ihrem Tod (gemeint ist Alice) Historikerin wurde, kam mir nicht die Idee, etwas über sie zu schreiben. Familienforschung gilt unter meinen Kollegen als schwerer Straftatbestand. Der Grund dafür ist verständlich – der Mangel an emotionaler Distanz zu den beteiligten Personen. Genauso wie kein Chirurg seine Familienangehörigen operieren darf, so sollte kein Historiker an der Verwandtschaft herumlaborieren… …welcher Historiker ist schon in der Lage, gnadenlos die dunkleren Seiten seiner Familie offenzulegen?“
Eine Kiste mit alten Briefen und Tonbandkassetten krempelte aber diese Einstellung bei Alice’ Enkelin um: „Als ich die Briefe zu lesen begann und Alice‘ Stimme auf Tonband hörte, bekam ich eine erste Ahnung davon, was ihr widerfahren war. Von diesem Moment wollte ich nichts anderes als ihre Geschichte erzählen.“
Genau das macht Dr. Karina Urbach: Schnörkellos und nüchtern erzählt sie die Geschichte ihrer Großmutter. Sie beschreibt – fast schon emotionslos – wie aus einer jungen, erfolgreichen Geschäftsfrau eine, von den Nazis schikanierte und um ihr geistiges Eigentum beraubte, heimatlose Jüdin wird. Das allein würde eigentlich für ein Leben reichen. So ist es aber nicht, denn auch nach dem Krieg – bis zum Tod – verfolgt der Nazi-Terror Alice Urbach. Unglaublicherweise bekommt sie auch in diesen Jahren das nicht zurück, was ihr am wichtigsten war: ihr Buch So kocht man in Wien!
„Ja, aber das ist doch nichts im Vergleich zu den Millionen Juden, die im Holocaust deportiert und vergast wurden“, werden viele dagegenhalten, „wozu dann so ein Buch über ein Kochbuch?“
Meine Antwort ist vielleicht banal – für mich aber logisch: Dr. Urbach beweist, dass die Nazis nicht nur im Großen perfekt und perfide waren, sondern ihre Methoden auch nach der Zerschlagung des Dritten Reichs von vielen still und heimlich noch angewandt wurden. Und es geht um ein Einzelschicksal, eingebettet in eine Familienchronik. Davon bräuchten wir viel mehr…
Dieses Buch ist zweifellos ein Sachbuch, trotzdem geht es um Emotionen, die durch Ausschnitte aus Originaldokumenten belegt und vertieft werden. Oft sind es diese Dokumente oder Briefausschnitte, die dem analytischen Text Empathie geben.
Wenige Zeilen vor dem Ende der eigentlichen Geschichte (es folgt ein unglaublich genaues Quellenregister, das förmlich zum Weiterrecherchieren einlädt) schreibt Dr. Karina Urbach: „Als der Arzt am 26. Juli 1983 Alice‘ Sterbeurkunde ausfüllte, gab er als Todesursache eine „generelle Atherosklerose“ an, in die Rubrik „andere nicht zur Todesursache beitragende Faktoren“ schrieb er „Depressionen“. Doch trotz der Depression wollte Alice bis zum Schluss noch nützlich sein, sie vermachte ihren Leichnam der medizinischen Fakultät.“
Das war der Moment, in dem mir die Tränen kamen – aller nüchternen historischen Betrachtung dieser unglaublichen Geschichte zum Trotz.
Mein Fazit: Ich bin davon überzeugt, es finden sich Dokumente zu Schicksalen, wie sie Dr. Urbach in Das Buch Alice – Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten verarbeitete, noch tausendfach in verrotteten Kisten oder vergammelten Schränken auf Dachböden oder in Kellern.
Sie werden nur nicht bekannt, weil sich niemand darum kümmert – vielleicht auch kein Interesse hat. Das ist schade, sehr schade, dadurch landet viel zu viel wichtiges Wissen über das Dritte Reich und ihre gnadenlosen Vollstrecker auf dem Müllhaufen der Geschichte.
Wir, die Jüngeren, können das Geschehene nicht ändern. Aber es ist und wird unsere Aufgabe bleiben, die Erinnerungen zu erhalten und dafür Sorge zu tragen, dass sich so etwas nie wieder ereignen kann. Und auch darum ist dieses Buch – wie viele andere, die sich auch mit dem unmenschlichen Dritten Reich befassen – so wichtig für uns alle.