Interview mit der Historikerin Dr. Karina Urbach

Karina Urbach

 

„Die Nazis raubten den Juden sogar ihr geistiges Eigentum“

 

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Dr. Karina Urbach, geboren in Düsseldorf, studierte an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität bis 1992 Geschichte, Politikwissenschaften und Philosophie. Sie habilitierte 2009 und arbeitet derzeit am Institute for Historical Research an der Universität London und am Institute for Advanced Study in Princeton (New Jersey). Als Historikerin hat sie mehrere Bücher veröffentlicht. Insbesondere „Queen Victoria – Die unbeugsame Königin“ und „Hitlers heimliche Helfer“ machten sie nicht nur in der Wissenschaftswelt, sondern auch einem breiten Publikum, bekannt. Mittlerweile macht sich Dr. Karina Urbach auch als Krimiautorin einen Namen. Unter dem Pseudonym Hannah Coler veröffentlichte sie den Krimi „Cambridge 5 – Zeit der Verräter“, der 2018 mit dem Crime Cologne Award ausgezeichnet wurde.
Foto/Copyright: Dan Komoda

Im Oktober 2020 entdeckte ich in der taz einen Artikel, der mich neugierig machte: Das Buch Alice: Der geraubte Bestseller. Nicht nur, weil ich als Leseratte immer auf der Suche nach neuen spannenden, interessanten, lehr- und abwechslungsreichen Büchern bin. Nein, hier zog mich die Zeile in ihren Bann. Nachdem ich den Text von Andreas Fanizadeh gelesen hatte, bestellte ich das Buch sofort. Als ich es in Händen hielt, fegte ich die alten Zeitungen von meinem Lesesessel, stellte ein Glas Wein auf den Beistelltisch und vertiefte mich in die Lektüre von Das Buch Alice – Wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten. Ich las die ganze Nacht, ohne Pause. Als ich die letzte Seite umblätterte, hatte ich eine Reise von 1798 bis heute hinter mir und eine beeindruckende Familienchronik gelesen: Spielsucht, Befreiung von Standesdenken, bürgerlichem Elite-Denken, Arisierung, Juden-Verfolgung, Flucht, Raub, Betrug, Geheimdienste und Widerstand – alles kam in der Geschichte von Alice Urbach vor. Tatsächlich ist Das Buch Alice spannender als ein Thriller und lehrreicher als so manches Geschichtsbuch.
Für mich war klar, dass ich die Autorin, Dr. Karina Urbach – sie ist Alices Enkelin – unbedingt kennenlernen und interviewen wollte. Das mit dem Kennenlernen hat coronabedingt noch nicht geklappt, das Gespräch haben wir am 2. Juli geführt. Was dabei herausgekommen ist, lesen Sie hier.
Doch zuvor noch kleine Anmerkungen: Es ist wichtig, dass es Historiker wie Dr. Urbach gibt. Nur durch ihre Recherchen zu dem Buch konnte sie für die Geschichtsschreibung ein bisher kleines, aber wichtiges Kapitel über die Untaten der Nazis hinzufügen: Den Raub von geistigem jüdischem Eigentum und wie damit bis zum Erscheinen ihres Buches umgegangen wurde.
Als ich Das Buch Alice gelesen hatte, dachte ich mir, das irgendetwas fehlen würde. Was – wurde mir zwei Tage später klar: In dem Buch ist kein einziges Rezept zu finden. Dies wird so auch bei der Taschenbuchausgabe sein, die im Oktober 2021 bei Propyläen  erscheint. Auf die Frage nach dem Warum, sagte mir Frau Dr. Urbach, dass der Verlag befürchtete, ihr Buch würde in die Kochbuchecke verdrängt. Sie fügte aber auch hinzu, dass derzeit die englische Ausgabe vorbereitet wird und in ihr Rezepte veröffentlicht werden. Immerhin ein kleiner Trost.
Mein Vorschlag: Für den Sender Arte wird eine Dokumentation über Das Buch Alice und den Raub von jüdischem geistigem Eigentum durch die Nazis vorbereitet, die bestimmt auch im ZDF laufen wird. Sicher, die Dokumentation wird die Quoten einer Fußballübertragung nicht erreichen, aber dennoch genügend Interessierte finden. Der Sendetermin könnte doch Anlass sein, eine kleine Auflage So kocht man in Wien!  herauszubringen. Sei es durch Propyläen, einen Nischenverlag oder den Reinhardt Verlag, der sich nach dem Krieg weigerte,  Alice Urbach ihr Kochbuch zurückzugeben. In meinen Augen ist das auch heute noch eine moralische Verpflichtung allen Betroffenen gegenüber. Und es wäre ein Zeichen für eine immaterielle Wiedergutmachung.
Viel Spaß beim Lesen des Interviews mit Dr. Karina Urbach.

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Schlichte, lässige Eleganz, freundlicher Blick – Dr. Karina Urbach ist eine Frau, die mitten im Leben steht. Sie würde hervorragend zur langjährigen FAZ-Kampagne „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“ passen. Was mich besonders beeindruckt: Dr. Urbach sagt, was sie denkt, was sie will und was nicht. In dem Interview fragte ich sie, wieso das Bürgertum überhaupt einem Menschen wie Hitler und seiner Ideologie verfallen konnte. „Eine große Frage, die aber nicht einfach zu beantworten ist“, antwortete sie und verwies auf ein neues Buch ihres Mannes, Jonathan Haslam, das ich mir bereits bestellt habe. Nach dem Interview erklärte mir Dr. Urbach, dass so eine weitgefächerte Frage nicht mit Banalitäten beantwortet werden kann und einer Historikerin unwürdig wäre. Sie hat recht!
Foto/Copyright: privat

Frau Urbach, mit dem „Buch Alice“ über Ihre Großmutter arbeiten Sie die Geschichte Ihrer Familie auf. Aber eigentlich wollten Sie doch ein Buch über Ihren Vater, Otto Urbach, schreiben?
Ja, mein Vater kam aus Wien und konnte schon 1935 als jüdischer Student nach Amerika auswandern. Wie viele jüdische Österreicher und Deutsche, arbeitete er im Krieg im amerikanischen Geheimdienst, dem Counter Intelligence Corps, kurz CIC. Mit dem CIC kehrte er 1945 als Nachrichtenoffizier nach Deutschland zurück …

Das klingt spannend. Was waren denn seine Aufgaben?
Der CIC musste alle möglichen Polizeiaufgaben übernehmen von Schwarzmarktkontrollen bis zur Fahndung nach Kriegsverbrechern. Einige davon waren in Lagern von Displaced Persons (DP) untergetaucht.

Bitte erklären Sie uns den Begriff.
Zu den DP gehörten ehemalige KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter und auch Menschen die vor der sowjetischen Armee flüchteten. NS-Täter versuchten ebenfalls in diesen Lagern abzutauchen. Sie besaßen gefälschte Papiere oder erzählten in den Verhören Geschichten, die niemand überprüfen konnte. Der CIC überwachte auch die Gefangenenlager…

Hier kommt Ihr Vater ins Spiel…
… ja. Mein Vater und seine CIC-Kollegen hatten die Aufgabe herauszufinden, wer die Wahrheit über seine Identität sagte und wer log. Deshalb schleuste der CIC oft eigene Leute – vor allem deutsche Emigranten – in die Gefangenenlager ein.

Darüber musste Ihr Vater seinen Vorgesetzten berichten?
Über ein Entlassungslager voller SS-Männer schrieb mein Vater 1946 einen Bericht, der auf merkwürdige Weise Berühmtheit erlangte. Er beschrieb darin, dass es im Entlassungslager Auerbach eine Untergrundorganisation von SS-Männern gab, die bei Nennung des Losungswortes „Odessa“ von Rotkreuzschwestern bevorzugt behandelt wurden. Der Bericht war eigentlich Routine, so wie hunderte andere auch, die täglich geschrieben wurden. Mein Vater glaubte ODESSA würde für „Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen“ stehen. Sein Bericht wurde der Auslöser dafür, nach dieser Untergrundorganisation zu suchen. Aber diese „Hilfsorganisationen“ für Nazitäter änderten sehr schnell ihre Namen und wurden auch immer raffinierter. Im Laufe der Jahre verhalfen sie dann auch Kriegsverbrechern zu Papieren für die Ausreise nach Südamerika …

Das erinnert an den Roman „Die Akte Odessa“ von Frederick Forsyth …
Genau! Zwar blieb der Bericht meines Vaters bis zum Jahr 2000 unter Verschluss, aber der Nazijäger Simon Wiesenthal, der über Jahrzehnte Kriegsverbrecher aufspürte, hatte gute Kontakte zum CIC. Er wusste natürlich, dass Kriegsverbrecher nur untertauchen oder nach Südamerika flüchten konnten, weil sie Geldgeber und Unterstützer hatten. Genau diesen Netzwerken spürte Simon Wiesenthal nach und erfuhr so auch von Odessa. Seine Informationen gab er an Frederick Forsyth weiter, der damals noch als Journalist für die Nachrichtenagentur Reuters arbeitete. Forsyth schmückte sie aus und schrieb den Roman „Die Akte Odessa“, der sich seit seinem Erscheinen 1972 weltweit millionenfach verkauft hat und auch als Film ein internationaler Erfolg wurde.

Ihr Vater muss ein spannendes Leben gehabt haben.
Es war ein aufregendes, aber auch ein sehr hartes Leben. Ich wollte ja ursprünglich ein Buch über ihn und seine Geheimdienstoperationen schreiben, aber die meisten Unterlagen sind bis heute gesperrt. Aber dann fand meine Cousine eines Tages die Familienkorrespondenz, in der eine Frau eine große Rolle in der Geschichte meines Vaters spielte. Seine Mutter Alice. Als ich die Briefe gelesen hatte, war mir klar, dass die Geschichte von Alice noch interessanter ist. Also befasste ich mich mit meiner Großmutter Alice Urbach und es wurde dann eine große Familiengeschichte.

 „Meine Großmutter bot einen Lieferservice an – eine Sensation“

 

Freundschaftlich umarmt Sir Tony Robinson die Historikerin Dr. Karina Urbach. Sie arbeitete mit dem bekannten Schauspieler  und Komiker – unter anderem spielte er in der TV-Serie Blackadder den Diener Baldrick an der Seite von Rowan Atkinson – an seiner Dokumentation über den Ersten Weltkrieg zusammen.  Auch bei ZDF-History war Dr. Karina Urbach des Öfteren als Expertin zu sehen, unter anderem in einer Dokumentation über den am 9. April 2021 im Alter von 99 Jahren verstorbenen Prinz Philip, Ehemann von Queen Elizabeth. Sie kannte ihn durch ihre Arbeit an der Universität etwas näher und beschreibt ihn als einen Mann, der nicht nur sehr, sehr intelligent, sondern auch sozial stark engagiert war. Foto/Copyright: privat

In Ihrem Buch geht es um das Wien der 20er Jahre, Ihre Familie, Nazi-Verbrechen, Geheimagenten und Raub geistigen Eigentums. Im Mittelpunkt steht Alice, Ihre Großmutter. Was war sie für eine Frau?
Sie kam aus einer sehr wohlhabenden jüdischen Familie, die bereits nach dem Ersten Weltkrieg alles verloren hatte. Alice musste sich etwas einfallen lassen, um ihre Kinder zu ernähren. Heute würden wir sagen, dass sie mit einem kleinen Startup-Unternehmen zu einer sehr erfolgreichen Geschäftsfrau wurde. Mitte der 1920er Jahre eröffnete sie eine florierende Kochschule und organisierte Kochausstellungen. Schon nach kurzer Zeit hielt sie überall in Wien Vorträge mit Titeln wie „Die Schnellküche der berufstätigen Frau“ oder „Das Girl am Herd“. Darüber hinaus war Alice die Erste, die in Wien einen Lieferservice anbot. Für uns ist das heute selbstverständlich. Aber damals war es eine Sensation.

Sie hat auch Kochbücher geschrieben.
Ja, das Erste brachte sie 1925 gemeinsam mit ihrer Schwester Sidonie heraus. 1934 bat sie der Verleger Ernst Reinhardt, ein Wiener Kochbuch zu schreiben, das ein Jahr später unter dem Titel So kocht man in Wien! in die Buchhandlungen kam. Es bekam ausschließlich positive Kritiken und wurde ein Bestseller in Deutschland und Österreich. Allerdings gab es in dem Buch schon damals kein Porträtfoto von Alice – nur ihre Hände wurden gezeigt.

Warum?
Das kann ich nur vermuten. Vielleicht weil ihre markante Nase einfach zu jüdisch aussah und das wollte zu der Zeit natürlich kein deutscher Verlag riskieren.

Später musste Ihre Großmutter nach England fliehen, wo sie sich als Dienstmädchen durchschlägt und später ein Flüchtlingsheim für jüdische Kinder, die von ihren Eltern aus Deutschland weggeschickt wurden, leitete.  Nach dem Krieg ist Ihre Großmutter dann nach New York gegangen…
Ja, sie hatte überlebt. Ihre drei Schwestern konnten Wien nicht rechtzeitig verlassen und wurden umgebracht. Aber Alice hat immer versucht, nicht bitter zu werden.

Wir wollen hier nicht zu viel verraten und ins Jahr 1949 springen. Damals erfuhr Ihre Großmutter Alice etwas Unglaubliches.
Durch einen Zufall. Im Oktober 1946 hatte Alice England mit dem Schiff „Southampton“ Richtung New York verlassen. Drei Jahre später kehrte sie nach Wien zurück – allerdings nicht als Wienerin, sondern als Emigrantin. Die Wiener waren 1949 so kaputt wie ihre Häuser. Sie wollten natürlich nichts von den Rückkehrern wissen. Alice sprach immer noch Wienerisch, aber sie gehörte nicht mehr dazu. Als sie bei einer ihrer Spaziergänge durch Wien an einer Buchhandlung vorbeikam, entdeckte sie in einem Schaufenster ein Buch, das ihr bekannt vorkam. Sie betrat den Laden und schlug es auf: ihre Texte, ihre Rezepte. Nur, über dem Titel So kocht man in Wien! stand nicht ihr Name, sondern Rudolf Rösch.

Wie das?
Das fragte sich meine Großmutter auch. Was genau war mit dem Kochbuch geschehen? Sie hatte Familienangehörige und Freunde im Holocaust verloren, aber wenigstens ihr Buch wollte sie zurück. Sicher, im Vergleich zu dem Schicksal ihrer drei Schwestern eine Banalität. Doch für Alice stand der Verlust ihres Kochbuchs plötzlich für all das Unrecht der letzten Jahre. Ich glaube, sie hoffte, mit der Rückgabe ihres Buches, endlich wieder die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen.

Dr. Karina Urbach beschreibt ihre Großmutter Alice als eine wirklich süße, knuddelige Großmutter und sehr sympathische, aber vor allem auch eine sehr patente Frau, der einiges passiert ist. „Leider habe ich nie von ihr Kochen gelernt und kann es bis heute nicht“, erzählt Dr. Urbach. „Leider konnte ich sie auch nur sehr selten erleben, weil sie ja in Amerika lebte.“
Gut erinnern kann sich die Historikerin daran, dass ihre Großmutter ihr einst ein Dirndl geschenkt hatte. „Ich bin doch als Kind immer in Jeans rumgelaufen und fand das Dirndl ganz schrecklich. Aber das konnte ich ihr doch natürlich nicht sagen. Ich glaube, meine Großmutter verband mit dem Dirndl ihre Jugend in Wien und fand es ganz toll.“   Foto/Copyright: privat

Bekam Alice ihr Buch zurück?
Nein. Ihr alter Verleger Ernst Reinhardt war schon 1937 gestorben. Sein Neffe Hermann Jungck hatte den Verlag übernommen und einen Strohmann, diesen Rudolf Rösch, für meine Großmutter eingesetzt. Dafür hätte man noch Verständnis aufbringen können, Jungck musste sich dem Regime unterordnen. Aber er setzte die Strohmann-Methode auch nach 1945 fort – schließlich war So kocht man in Wien! immer noch sehr gut verkäuflich.

Betrug mit System?
Ja, in seinen Erinnerungen schrieb Jungck 1974, Alice sei nach dem Krieg bei ihm aufgetaucht und habe ihr Buch zurückgefordert. Aber mittlerweile habe ich herausgefunden, diese Geschichte stimmt nicht. Die beiden haben sich nie getroffen. Alice hat in den 50er Jahren immer wieder höfliche Briefe an ihn geschrieben und er hat sie hingehalten. Sie war 66 und er muss gehofft haben, sie stirbt bald. Es stellte sich auch heraus, er hat nicht nur das große Kochbuch von ihr dem neuen Autor Rösch gegeben, sondern noch zwei weitere Buchmanuskripte, die sie schon abgegeben hatte. Alle drei Bücher erschienen unter dem Namen Rösch. Jungck verdiente bis 1966 an diesen Büchern.

Buchverbrennungen, Schreibverbot, Autorenverfolgung – das ist von den Nazis bekannt. Aber der Raub geistigen Eigentums?
Ja, das ist bisher nicht erforscht worden. Das habe ich in meinem Buch zum ersten Mal behandeln können. Es waren viele Autoren davon betroffen. In allen jüdischen Familien galt die Überlebensstrategie: „Man kann uns alles rauben außer Bildung.“ Das Volk des Buches glaubte Bildung sei diebstahlsicher. Aber genau das taten die Nazis – sie raubten den Juden ihr materielles und geistiges Eigentum.

Gibt es noch andere Beispiele?
Da gibt es Dr. Paul Wessel, der ebenfalls im Ernst Reinhardt Verlag eine Kompendium Reihe und ein Physikbuch für Studenten herausgebracht hatte. Auch er wollte seine Rechte nach dem Krieg zurück und wurde abgewiesen. Bald nach seinem erbitterten Streit mit dem Verleger erlitt Dr. Wessel eine tödliche Herzattacke. Dazu meinte Hermann Jungck 1974 nur lapidar: „Dr. Wessel ist übrigens bald danach in der Schweiz verstorben …“
Oder nehmen Sie den Fall des Frauenarztes und Medizinschriftstellers Dr. Josef Löbel (1882 bis 1942). Er war der erste Herausgeber von „Knaurs Gesundheitslexikon“. Der Verlag hat dann 1940 das Buch arisiert und nach dem Ende der NS-Zeit wenig unternommen, den Autor Dr. Josef Löbel zu würdigen. Josef Löbel beging 1942 Suizid in Prag, nachdem seine Frau nach Theresienstadt deportiert wurde und ihm das gleiche Schicksal bevorstand. Löbels Werk übernahm ein Strohmann namens Herbert Volkmann. Dieser Volkmann war NSDAP Mitglied und stahl – mit einem Pseudonym ausgestattet – einfach auch noch das Werk eines anderen jüdischen Autors, eines Dr. Walter Guttmann. Auch Guttmann konnte diese Erniedrigung nicht ertragen und brachte sich um. Genau wie Dr. Löbel.

Wurde auch jüdischen Schriftstellern das geistige Eigentum geraubt?
Es war sehr viel schwieriger, Belletristik zu stehlen. Der jüdische Journalist Egon Erwin Kisch wurde von einem Nazischriftsteller beklaut, aber das war eine Ausnahme. Sachbücher konnte man sehr viel leichter stehlen. Und das Unrecht setzt sich fort bis heute. Niemanden interessierte das bisher.

Wie meinen Sie das?
Die Autoren wurden entweder umgebracht oder – wenn sie überlebten – einfach von den Verlagen ignoriert. Keiner setzte sich daher für sie ein.

Wird sich etwas ändern oder landet dieser Eigentums-Raub auf dem Müllberg der Geschichte?
Nein, es bewegt sich was. Als ich zu Beginn meiner Recherchen 2018 beim Reinhardt Verlag anfragte, hieß es nur lapidar, dass es keine Akten über Alice Urbach gäbe. Erst als ich das Buch Alice – wie die Nazis das Kochbuch meiner Großmutter raubten veröffentlicht hatte, schwenkte der Verlag um und entschuldigte sich öffentlich. Außerdem erhielt ich die Briefe meiner Großmutter, die sie in den 50er Jahren an Hermann Jungck geschrieben hatte. Es ist nicht einfach zu lesen, wie Alice immer wieder sehr höflich darum bittet, ihr Buch zurückzubekommen. Wenn sie das geschafft hätte, hätte sie vielleicht in Österreich noch einmal reüssieren können. Aber so blieb sie in Amerika und gab Kochunterricht. Ganz zum Schluss mit 95 Jahren kochte sie noch im amerikanischen Fernsehen.

Mehr ist nicht passiert?
Doch. Der Reinhardt Verlag hat 100 Exemplare für Bibliotheken und interessierte Historiker nachgedruckt. Ganz wichtig ist für unsere Familie auch, dass zum Beispiel die Nationalbibliotheken in Frankfurt und Wien, ihre Autoreneinträge geändert haben. Wenn jetzt jemand das Buch sucht und er schaut unter Alice Urbach nach, dann findet er es unter dem Namen und unter dem des Strohmannes, Rudolf Rösch mit einer Erklärung. Alice hat ihr Buch also posthum zurückbekommen. Uns bedeutet das viel.
Jetzt hoffe ich, dass nun auch die anderen jüdischen Sachbuchautoren auf diesem Weg ihre Bücher zurückbekommen.

Dabei geht es aber auch um unser kulturelles Erbe…
… natürlich. Wir müssen vermeiden, dass künftige Generationen geklaute Bücher mit falschen Autorennamen zitieren.

Was glauben Sie, wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass das Bürgertum einem Menschen wie Adolf Hitler und seinem schrecklichen Terrorregime gefolgt ist?
Wie viel Zeit haben Sie? Lesen Sie am besten das neue Buch meines Mannes, Jonathan Haslam! The Spectre of War. International Communism and the Origins of World War II. Er gibt neue Antworten auf diese Frage.

Sehen sie zum heutigen Deutschland Parallelen?
Nein, um Gottes Willen. Deutschland ist eine stabile Demokratie.

Sind 12 Prozent für die AfD noch tolerabel oder empfinden Sie diesen Trend als gefährlich?
Das ist natürlich beunruhigend. Ich war sehr erschrocken, als ich 2018 zu einem Vortrag nach Gotha fuhr und der Taxifahrer mir erklärte, Frau Merkel gehöre erschossen. Diese Seite von Deutschland kannte ich wirklich nicht. Die großen Volksparteien müssen darauf bessere Antworten finden.

Aber England wird doch auch immer populistischer und nationalistischer?
Nein! Ich bin kein Boris-Johnson-Fan, aber es geht mir auf die Nerven, wie Großbritannien ständig in der deutschen Presse karikiert wird. Es ist ein sehr tolerantes, weltoffenes und großzügiges Land. Es hat fünf Millionen EU-Bürgern volle Bleiberechte gegeben und ich bin eine dieser EU Bürger. Ich wurde dank des staatlichen Gesundheitssystems sofort geimpft und werde im Krankenhaus kostenlos behandelt. Großbritannien wird jetzt auch eine große Zahl von Hong Kong Chinesen aufnehmen.
Wenn man EU-zentrisch denkt, mag England isoliert sein, aber das Land wird künftig verstärkt nach USA, Indien, Asien schauen und neue Handelsverträge abschließen. Es wird für Großbritannien nicht in der Katastrophe enden, die manche europäische Politiker gerne herbeireden wollen.

Glauben Sie, dass Schottland tatsächlich noch einmal ein Referendum für die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich starten wird?
Nein, das kleine Schottland hat bis auf Öl wirklich nicht viel zu bieten. Ich glaube auch nicht, dass die EU die Schotten will. Das würde eine Kettenreaktion auslösen, als nächstes kommen dann die Katalanen und wollen sich von Spanien abspalten. Nein, das wird nicht passieren. Darauf würde ich sogar wetten…

Die Wette nehme ich. Wir sprechen uns noch einmal in zwei Jahren.
Ich bin dabei.

Würden Sie gern wieder in Deutschland leben?
Ja sicher, ich bin – bis auf meine Gotha-Erfahrung – sehr gerne in Deutschland und arbeite viel dort. Aber ich habe einen englischen Ehemann und unser Sohn geht hier in Cambridge zur Schule. Ich glaube, ich werde mich immer in beiden Ländern zuhause fühlen.

Einige Bilder (alle dem Buch Das Buch Alice entnommen) aus einem unglaublichen Leben: Auf dem ersten Foto (ganz links) sehen wir Alice Urbach mit ihrer Freundin Paula Sieber in England. Die beiden Frauen waren 1938 nach England geflüchtet. Nach mehreren verschiedenen Haushaltsstellen, leiteten sie bis Oktober 1946 ein Heim für Flüchtlingskinder in Newcastle.
Das zweite Bild links zeigt Alice auf einer Birkenbank. Hinter ihr steht ihre jüngere Schwester Dr.jur. Helene Eissler. Sie erfüllte den Traum ihres Vaters und promovierte in Jura. Helenes letzter bekannter Aufenthaltsort war das Getto Lodz… In ihm starben zwischen 1940 bis 1944 circa 43.000 Menschen an Unterernährung und Kälte. Besonders schlimm: Für die meisten nach Lodz Deportierten war das Getto nur eine kurze Zwischenstation vor dem Weitertransport nach Auschwitz oder Majdanek.
Das dritte Bild stammt aus Alice Urbachs Buch So kocht man in Wien! Das Werk hat 500 Seiten und enthält nicht nur Rezepte, sondern enthält alles, was Alice zu diesem Zeitpunkt über moderne Haushaltsführung gelernt hatte.
Das vierte Bild (oben rechts) zeigt Alice und Otto Urbach 1948/49. Otto reiste als junger Mann in die Vereinigten Staaten und kehrte erst nach dem Zweiten Weltkrieg als CIC-Mitarbeiter nach Deutschland zurück. Sein Bruder Karl hingegen, wurde 1938 nach Dachau deportiert. Otto und die mit den Urbachs befreundete Familie Dodson, setzten alles daran, um Karl aus dem Lager rauszuholen. Tatsächlich geschah im Januar 1939 das Wunder.
Karl wurde freigelassen, kehrte nach Wien zurück und musste innerhalb eines Monats das Land verlassen. Er starb 2003 in San Francisco.
Das Foto darunter ist wieder ein Foto aus dem Kochbuch.
Links unten: In der Mitte sehen wir Otto Urbach. Er jagte als Nachrichtenoffizier des amerikanischen CIC nach dem Zweiten Weltkrieg SS-Verbrecher. Einer seiner Berichte sollte später weltberühmt werden. Am 3. Juli 1946 verfasste er eine Notiz unter dem Titel: „Subversive Organisation von entlassenen SS-Gefangenen ‚Odessa'“. 26 Jahre später wurde dieser Bericht weltberühmt, denn er lieferte den Stoff zu dem Bestseller „Die Akte Odessa“ von Frederick Forsyth. Daneben: Cordelia und Lisbeth Dodson, zwei junge Amerikanerinnen, die für die Familie Urbach mehr als nur Freundinnen waren.
Letztes Bild: Auch dieses wurde dem Buch So kocht man in Wien! entnommen und zeigt die Hände von Alice Urbach beim Backen. Ziemlich dreist ist, dass die Nazis ihr das Buch raubten, es aber nicht für nötig erachteten, die Fotos auszutauschen. Auch über den „wahren“ Autor des Buchs  So kocht man in Wien!, Rudolf Rösch, ist nicht viel bekannt. In der NS-Werbung wurde er als „Mitglied des Reichsnährstandes“ bezeichnet, taucht aber in keinem Verzeichnis auf. Der Reinhardt Verlag fand ebenfalls keine Unterlagen in seinen Archiven. Dr. Karina Urbach stieß bei ihren Recherchen auf einen Rudolf Rösch, der ab 1933 über Traubensaft und Zwetschgenknödel drei Sendungen im Münchner Radio machte. Doch der Bayerische Rundfunk fand ebenfalls keine Unterlagen. Rudolf Rösch ist und bleibt (noch) ein Phantom.

Bücher von Karina Urbach

2022-10-09T13:09:06+02:00
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