Interview mit Jean Ziegler

Jean Ziegler

 

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„Der größte Revolutionär auf Erden ist Papst Franziskus“

 

Der Schweizer Soziologe und Gesellschaftskritiker Jean Ziegler am 29.6.2017 im Hotel Reichshof in Hamburg.

Er wirkt wie ein Getriebener und ist dennoch die Ruhe selbst. Seine Antworten kommen wie aus der Pistole geschossen auf den Punkt. Er ist gegen den Pomp und Prunk der Kirche, konvertierte aber dennoch zum katholischen Glauben und besucht „mindestens“ einmal in der Woche eine heilige Messe – egal, in welchem Land er gerade unterwegs ist. Seit Jahrzehnten kämpft er gegen die Geißel Hunger, gegen den Globalisierungswahn und für Frieden auf der ganzen Welt.

Heute zählt Jean Ziegler zu den international profiliertesten und charismatischsten Kritikern weltweiter Profitgier. Mit scharfem Wort und blitzendem Verstand  kämpft er gegen die Refeudalisierung in der Welt!

Das Interview wurde im katholischen Magazin „Stadtgottes“ veröffentlicht.

Jean Ziegler wurde am 19. April 1934 als Hans Ziegler in Thun (Schweiz) geboren. Seine Mutter war eine Bauerntochter, der Vater Gerichtspräsident, Alpinist und Oberst der Schweizer Armee. Nach der Matura studierte er Rechtswissenschaften.  Später Soziologie.

Bis zu seiner Emeritierung 2002  lehrte Jean Ziegler Soziologie an der Universität Genf und als ständiger Gastprofessor an der Sorbonne/Paris.

Als junger Mann verbrachte Hans Ziegler einige Jahre in Paris. Diese Zeit wurde geprägt durch eine tiefe Freundschaft zu Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Heute gilt Jean Ziegler als einer der bekanntesten Globalisierungs- und  Kapitalismuskritiker.

Ein zweijähriger Afrika-Aufenthalt als UN-Experte nach der Ermordung Patrice Lumumbas führte zu einer radikalen Änderung seiner politischen Einstellungen: „Ich habe mir geschworen, nie wieder, auch nicht zufällig, auf der Seite der Henker zu stehen“, sagt er bis heute.

Bis 1999 war Jean Ziegler Nationalrat im Parlament der Schweizer Eidgenossenschaft für die Sozialdemokratische Partei.

Von 2000 bis 2008 war Jean Ziegler UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Erst im Auftrag der Menschenrechtskommission, dann des Menschenrats.
Außerdem war er Mitglied der UN-Task Force für humanitäre Hilfe im Irak.

Von 2008 bis 2012 gehörte der Schweizer dem beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrates der UN an, 2013 wurde er erneut in dieses Gremium gewählt. Jean Ziegler sitzt außerdem im Beirat der Bürger- und Menschenrechtsorganisation Business Crime Control.

Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen und Publikationen gehören Werke wie  „Die Schweiz wäscht weißer“, „Die Schweiz, das Gold und die Toten“ oder „Das Imperium der Schande“.  Alle haben erbitterte Kontroversen ausgelöst und ihm internationales Ansehen eingebracht. Zuletzt erschien der Bestseller „Der schmale Grat der Hoffnung“ im C. Bertelsmann Verlag. In ihm zieht er Bilanz über seine gewonnenen und verlorenen Kämpfe und die, die gemeinsam gewonnen werden.

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Den lebhaften Ausführungen Jean Zieglers muss man konzentriert folgen.

Herr Ziegler, wir sind in Hamburg, der Stadt in der der G20-Gipfel stattgefunden hat.  Was verbinden Sie mit Hamburg?

Ich bin begeistert darüber, was in Hamburg alles vor dem G20-Gipfel passierte. Überall gab es Veranstaltungen, Workshops, Diskussionsrunden und friedliche Demonstrationen, um den vermeintlich Mächtigen und Großen der Welt die Farce ihrer Veranstaltung vor Augen zu führen. Für mich sind die G20-Gipfel illegitim. Sie sind Herrschaftstreffen der Lakaien, die von den Befehlen der Großkapitalisten abhängig sind. Was sich heute unter den Politikern abspielt ist ein weltweites Theaterstück. Titel: Wir spielen Demokratie. In Hamburg haben die Gegner, dies klar und deutlich gesagt.

Ich weiß aber auch, dass Terror und Gewalt, wie im Schanzenviertel weder die Mächtigen interessiert noch zu politischen Lösungen führt. Deshalb lehne ich das total ab und finde es traurig, dass es soweit kommen musste.

Sie kämpfen gegen Hunger, Armut, Globalisierung und das Großkapital. Sind Sie ein Revolutionär?

 Vielleicht. Aber mit Sicherheit ein anderer als zum Beispiel Che Guevara…

…Sie kannten ihn?

…Ja! ich war sogar mal sein Chauffeur.

Erzählen Sie bitte.

Ja, aber das ist eine Ewigkeit her. Mal sehen, ob ich das alles noch zusammenkriege (lächelt). Also, ich war damals auf Kuba gewesen und in der Brigade von Che.

Als dann die erste Zuckerkonferenz in Genf anstand, rief mich der  einzige Botschafter Kubas, den es gab, aus Prag an und meinte, ich würde doch Che kennen und ob ich die Infrastruktur ein wenig organisieren könne für die Delegation. Das waren fünf Commandantes de la Revolution und zahlreiche Frauen. Mitten drin Che Guevara, in grüner Windjacke, mit schwarzem Barett und dem Kommandostern. Mit einigen Freunden habe ich ein kleines Auto – einen Morris –  organisiert, war dann 12 Tage der persönliche Chauffeur  von Che.

Da war aber noch mehr!

Stimmt. Am letzten Abend im Hotel Grand Saconnex, ihrem Hauptquartier, sagte ich zu Che: Commandante, ich will mit euch gehen.

„Komm her“, hat er geantwortet und ist mit mir ans Fenster gegangen und hat auf die Bucht von Genf geblickt. Überall glitzerten und funkelten die Leuchtreklamen der Banken und Unternehmen. Und Che sagte: „Das ist das Gehirn des Monsters. Da bist du geboren. Da musst du kämpfen.“

Dann hat er sich umgedreht und war weg.

Und Sie?

Ich war natürlich tief getroffen. Heute aber weiß ich, eigentlich hat mir Che Guevara das Leben gerettet. Denn ich hatte überhaupt keine militärische Ausbildung, war Kriegsdienstverweigerer. Wäre ich mitgekommen, hätte ich nach ein paar Monaten irgendwo tot im Straßengraben gelegen. Und ich weiß, dass mir seine Antwort und sein Hinweis auch ein wenig Linie für mein Leben gegeben hat.

Aber zurück zur Ausgangsfrage. Ja. Vielleicht bin ich ein Revolutionär mit radikalen Ansichten. Und ja, ich kämpfe mit der Waffe des Wortes gegen Ungerechtigkeit und soziale Kälte.

Seit vielen Jahren. Wie würden Sie Ihre Lebensleistung beurteilen?

Die Frage darf sich nicht stellen. Die Bantu im Senegal, ein uraltes, weises Volk, sagen: Man kennt die Früchte nicht der Bäume, die man pflanzt.

Das gilt auch für intellektuelle Arbeit. Ich weiß nicht, was von meinen Gedanken, Thesen ins Bewusstsein anderer eindringt. Und, was es bei den Menschen bewegt. Ich weiß es nicht. Oft entzünden kleine Sätze den Funken, der Reaktionen und Veränderungen auslöst.

Zum Beispiel im Kampf gegen den Hunger?

Ja. Es ist eine Schande, dass auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt, Hunger überhaupt ein Thema ist. 2016 starben 54  Millionen Menschen an Hungerkrankheiten, Epidemien, Seuchen oder Naturkatastrophen: Kinder, Frauen, Männer.

Lassen Sie mich noch konkreter werden: Alle fünf Sekunden verhungert irgendwo auf dieser Erde ein Kind. Das wird von der Wirtschaft und den politischen Systemen geduldet. Jedes verhungerte Kind ist für mich ein Mord, der vor Gericht gehört.

Vergleichen wir doch einmal Vergangenheit und Gegenwart:  Im Zweiten Weltkrieg gab es in sechs Jahren insgesamt 57 Milllionen zivile und militärische Opfer. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der dritte Weltkrieg gegen die Völker der Dritten Welt längst begonnen hat.

Und was tut die reiche Welt? Nichts.

Vergessen Sie dabei nicht: Der Hungertod ist qualvoll und lang. Das wünsche ich niemandem, auch nicht meinem größten Feind.

 

Wo kein Kläger, kein Richter

Falsch. Noch vor hundert Jahren sind die Menschen, zum Beispiel aus Baden-Württemberg noch vor dem Hunger geflohen. Heute können wir problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren. Das sind gut fast fünf Millarden Menschen mehr als 2016 auf der Erde lebten–  7,418 Milliarden!

Heute gibt es keinen Mangel an Nahrung. Wenn doch, dann ist das von den Menschen gemacht.

Können Sie das belegen?

Acht Jahre war ich Sonderberater für das Recht auf Nahrung. Ich bin in die Hungergebiete gereist und habe regelmäßig Berichte darüber verfasst. Zum Beispiel über Niger, Brasilien, Indien, Bolivien oder Bangladesch. Alle kennen sie.

Die Welt hat darüber diskutiert. Aber hat sich was geändert?

Nein!

Im Gegenteil.

Der Hunger ist kaum zurückgegangen. In absoluten Zahlen wird er immer schlimmer. Im Moment sieht es nur anders aus, da die Bevökerung schneller wächst, als Menschen im Vergleich dazu am Hunger sterben. Am Problem selbst hat sich kaum etwas geändert.

Wer ist schuld?

Oh, Gott, da gibt es viele Aspekte.

Fakt ist, was uns von den Opfern trennt, ist der Zufall der Geburt. 13 Prozent der Weltbevölkerung sind Weiße. Es waren nie mehr als 15 Prozent. Aber sie beherrschen die Welt seit 500 Jahren. Früher durch Waffen, Eroberung und Sklaverei. Heute leben wir in einer Weltdiktatur der Oligarchen des globalen Weltkapitals. Für mich unfassbar: 500 Großkonzerne beherrschen den Planeten. Die werden immer reicher, die Menschen immer ärmer.

Da stimmt doch nichts mehr.

Das ist aber nichts Neues. Das ist bekannt.

Möglich. Ich bezweifle aber, dass alle Menschen über meinen zweiten Schuldigen nachdenken: Eine der schlimmsten Gründe für das tägliche Hungersterben sind die Geierfonds. Das sind spekulative Investmentfonds mit Sitz in Steuerparadiesen, die sich vor allem mit dem Ankauf von Schuldtiteln auf dem Sekundarmarkt (Markt für Handel mit bereits emittierenden Werten – die Redaktion) weit unter Nennwert befassen. Ihr Ziel besteht nur darin, maximale Profite einzufahren. Menschen spielen keine Rolle.

Wie gehen diese Fonds vor?

Es ist bekannt, dass alle Staaten, die von ihren Schulden erdrückt werden, regelmäßig für ihre emittierenden Staatsanleihen eine Herabstufung aushandeln müssen. Eigentlich soll diese Herabstufung den Sinn haben, dass neue, umstrukturierte Schuldtitel herausgegeben werden können. Wenn also der Wert dieser Titel um 70 Prozent herabgesetzt wurde, erhält der Banker eine neue Schuldverschreibung mit 30 Prozent des ursprünglichen Schuldtitels. Das Problem: Die emittierenden Papiere verschwinden nicht, sondern sind weiter im Markt.

Jetzt kommen die Geierfonds ins Spiel.

Wie?

Sie müssen wissen, diese Fonds verfügen über gigantisch gefüllte Kriegskassen – oft viele Millarden Dollar. Geld für Anwälte – irgendwo auf der Welt – und für Prozesse, die sich über Jahre hinziehen können, ist ebenfalls im Überfluss vorhanden.

Diese Geierfonds kaufen nun auf dem Sekundärmarkt die alten Schuldverschreibungen zu Niedrigstpreisen auf und verklagen dann die Schuldnerländer vor ausländischen Gerichten auf hundertprozentigen Ausgleich!

Aber das ist ja unglaublich!

Nein, mittlerweile normal! 2016 führten 26 Geierfonds 227 Prozesse in 48 verschiedenen Rechtssystemen gegen 32 Schuldnerländer.

Zwischen 2005 und 2015 gewannen die Fonds 77 Prozent aller Prozesse. Gewinnspanne: Zwischen 33 und 1600 Prozent.

Auf unserer Erde müsste niemand an Hunger sterben

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Es entwickeln sich daraus neue Aspekte und Perspektiven, aber auch Fragen.

Was hat das mit den Grundnahrungsmitteln zu tun?

Ganz einfach. Ein Beispiel: 2002 fielen nach einer entsetzlichen Dürreperiode in Malawi mehrere zehntausend Menschen dem Hungertod zum Opfer. Von den elf Millionen Einwohnern waren sieben Millionen akut unternährt. Der Staat konnte den Menschen aber nicht helfen, weil er einige Monate zuvor seine 40000 Tonnen eingelagerter Maisvorräte seiner „National Food Reserve Agency“ verkaufen musste. Der Grund: Ein Fonds hatte vor einem britischen Gericht Recht bekommen und die Verurteilung Malawis zur Zahlung mehrerer Zehnmillionen Dollar erreicht. Natürlich wurde die Zahlung fällig gestellt. Interessant in diesem Zusammenhang: Die Fonds reichen ihre Klagen bevorzugt bei amerikanischen oder britischen Gerichten ein. Da sind die Erfogschancen am höchsten!

Aber auch die Börsenspekulationen auf fallende oder steigende Kurse bei den Grundnahrungs-, genauer gesagt allen Lebensmitteln, vergrößern den weltweiten Hunger.

Wieso?

Einfach erklärt: Steigen die Kurse, steigen die Preise für Mais, Reis oder Getreide. Die armen Menschen können sich diese Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten.

Sinken die Kurse, sollten die Preise eigentlich fallen. Für die armen Menschen könnte das gut sein, aber entweder sind sie zu diesem Zeitpunkt bereits tot oder aber die billigen Nahrungsmittel verschwinden in den Speichern einiger reicher Politiker und der Preis schießt wieder nach oben.

Wer kann das stoppen?

Zum Beispiel die Bundesregierung, indem sie derartige Spekulationen verbietet und die Fonds schärfer und härter kontrolliert oder sie gleich ganz verbietet.

Oder Ihr Finanzminister. Warum macht Wolfgang Schäuble nicht Druck bei seinen Finanzkollegen und setzt sich für eine Totalentschuldung der ärmsten Länder der Dritten Welt ein. Die Entwickllungsländer haben zusammengenommen 2100 Millarden Dollar Schulden. Das bedeutet, alles, was sie erwirtschaften, geht in die Schuldentilgung. Und das reicht nicht. Die Folge: Die Länder müssen immer mehr Rechte an ihren Rohstoffen verkaufen – ein Teufelskreis.

Warum also macht der Deutsche Wolfgang Schäuble nicht Druck bei seinen Finanzkollegen und setzt sich für eine Totalentschuldung der ärmsten Länder der Dritten Welt ein. Der Grund ist klar: Damit würde er sich gegen das Großkapital verbünden.

Aber stellen Sie sich diesen kompletten Schuldenschnitt vor: Dann könnten die Entwicklungsländer– gern auch mit Unterstützung der westlichen Welt – endlich in Schulen, Landwirtschaft, Kliniken oder Infrastruktur investieren. Das ist doch viel sinnvoller, als immer weniger Menschen immer reicher und immer mehr ärmer zu machen. Quasi mit staatlicher Genehmigung. Menschenwürdiges Leben für alle – das ist mein größter Traum!

Auch Wasser kostenpflichtig zu machen ist ein Problem.

Ein großes! Wasser ist ein Grundnahrungsmittel, aber kein Menschenrecht. Schon heute fliehen Millionen vor Dürre und Trockenheit. Also vor dem Wassermangel. Es werden immer mehr. Eines Tages wird das ein größeres Problem für die westliche Welt als politisch motivierte Fluchten. Jetzt müssen wir uns nur vorstellen, Wasser aus Brunnen, Quellen oder Flüssen soll zum Beispiel vom Schweizer Konzern Nestlé profitträchtig vermarktet werden….

Eigentlich müssten Sie die Verantwortlichen für diese Pläne doch hassen?

 Nein. Ich habe nichts gegen die Menschen an sich. Peter Brabeck-Letmathe, derzeitiger Präsident des Nestlé-Verwaltungsrates, treffe ich hin und wieder beim Skifahren. Ehrlich, ein Halunke ist das nicht, sondern ein ziemlich anständiger Mensch. Der tut nur das, was seine Shareholder  ihm sagten.

Ich war sehr gut mit Jean-Paul Sartre befreundet. Er pflegte zu sagen: Um die Menschen zu lieben, muss man sehr stark hassen, was sie unterdrückt. Nicht wer sie unterdrückt. Es geht nicht um Personen, es geht um die Strukturen dieser Welt.

 Haben Sie Hoffnung, dass das passiert?

 Mein Leben ist geprägt von Optimismus und Zuversicht. Viele Jahrzehnte wurde der These gefolgt, dass das Bevölkerungswachstum Usache für den Hunger sei. Das ist völliger Blödsinn. Ich sagte vorhin schon, dass unsere moderne, hochtechnisierte Welt problemlos 12 Millarden Menschen ernähren kann. Welthunger als Folge von Überbevölkerung – damit soll nur das schlechte Gewissen der Industrienationen beruhigt werden.

In vielen Gesprächen und Diskussionen spüre ich, dass die Zahl derjenigen, die nicht mehr nach den bisherigen gesellschaftlichen und kapitalistischen Voraussetzungen leben wollen, wächst. Von Tag zu Tag werden es mehr. Was aus dieser Bewegung entsteht, denn noch ist es nur ein ganz kleiner Anfang, welche gesellschaftliche Ordnung sich daraus entwickeln könnte, vermag heute noch niemand zu sagen.

Aber, wenn diese neue planetarische Gesellschaft wirklich entsteht, glaube und hoffe ich, dass alle Nationen diese neue Ordnung annehmen.

Für mich steht fest: Nur die geistige Freiheit der Menschen kann diese Gesellschaft hervorbringen und die Abkehr vom Neofeudalismus schaffen.

 

Könnte es sein, dass Papst Franziskus eine Art Vorreiter dieser Bewegung ist?

Oh, ich bewundere Papst Franziskus. Ja, er könnte ein Vorreiter sein, denn er ist derzeit der größte Revolutionär auf unserer Erde.

Der Papst?

Absolut. Schauen Sie doch nur nach Rom, wie er die Kirche umkrempelt und dem Pomp den Kampf ansagt. Die alten Kardinäle entmachtet er und setzt auf junge Leute, die das Wort Jesu Christi wieder lebendig werden lassen.

Genau wie Papst Franziskus.

Erinnern Sie sich?

Jesus ritt auf einem geliehenen Esel und verzichtete auf Sandalen. Jesus war für die Armen und Unterdrückten da. Jesus zerstörte den Tempel und griff die Selbstsucht der Priester an.

All das macht Franziskus auch. Keinen großen Dienstwagen, keine  Dienstwohnung. Stattdessen ein kleiner Flitzer und ein Zimmer in der Vatikan-Pension.

Franziskus ist ein wahres Geschenk Gottes. Unser neuer Papst weiß, dass es ein neues Denken und eine neue Kategorie Mensch gibt.  Menschen, die noch mehr für die neue Gesellschaft tun und gegen Armut kämpfen.

Menschen, die sich für die Unterdrückten und Ausgebeuteten einsetzen. Menschen, die für jene eintreten, die ausgeschlossen sind aus der Gesellschaft. Menschen, die nie eine Arbeit bekommen,  nie eine Familie haben werden.

Um die müssen wir uns kümmern, sagt der Papst, und erreicht damit immer mehr Frauen und Männer, die ebenso denken.

Der Papst sagt, Menschen dürfen nicht behandelt werden wie Abfall. Ein Mensch, sagt der Papst, der bisher wie Abfall behandelt wurde, muss ab sofort behandelt werden wie du und ich.  Das sind mehr als eine Millarde Menschen auf diesem Planeten.

Ehrlich, Franziskus hat recht. Das ist ein Teil der vielen Dinge, um die wir uns kümmern müssen.

 Sie sind ja ganz begeistert von Papst Franziskus, dabei sind Sie bekanntermaßen doch gegen die Kirche.

Ich bin gegen die Macht, die Unterdrückung für das die Kirche seit zwei Jahrtausenden steht. Und ich bin gegen das Kapital, das die Kirche angehäuft hat. Aber ich bin gläubig und auch zum katholischen Glauben konvertiert, gehe sogar jede Woche einmal in die heilige Messe.

Und, zu Franziskus: Ja, ich bin begeistert, wie dieser kleine Argentinier es schafft, sich an die Spitze einer neuen Bewegung zu setzen. Mit dem Herzen nicht mit Geld.

Aber er ist vielen Mächtigen ein Dorn im Auge. Deshalb ist es mein größter Wunsch, dass Papst Franziskus noch lange auf unserer Erde weilt und nicht ermordet wird – von der Mafia oder einem bestellten Killer.

Sie sind Schweizer, also Bürger eines Landes, das der Urbegriff für Kapitalismus, Gewinnstreben und -maximierung ist.

Die Schweiz ist ein besetztes Land – besetzt vom Bankensyndikat, das alles diktiert, beherrscht und vorgibt.

In den eidgenössischen Tresoren lagert Blutgeld. Blut von Millionen Opfern. Aus der Nazizeit. Blutgeld von Opfern aus den afrikanischen Ländern und aus dem arabischen Raum. Für dieses Blutgeld opfert die Scheiz ohne Rücksicht auf Verluste, Menschlichkeit und Gemeinsinn. Meine Heimat begeht mit der indirekten und direkten Unterstützung von Diktatoren und der Lagerung ihrer Vermögen immer wieder Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Muss die Schweiz abgeschafft werden?

Nein, es ist doch ein wunderschönes Land. Aber die Schweiz muss befreit werden – vom Großkapital, skrupellosen Bankern und zynischen Wirtschaftsmagnaten.

Sie leben in der Schweiz. Gehört das Haus Ihnen?

Nein, ich bin arm wie eine Kirchenmaus. Alles gehört meiner Frau. Ich besitze keinen Rappen. Warum?

Ich habe mehr als sechs Millionen Franken Schulden, weil ich immer wieder von Gerichten auf der ganzen Welt zu Schadensersatzzahlungen verurteilt wurde. An Politiker, Banken oder Spekulanten. Das summiert sich im Laufe der Jahre (lacht dabei).

Unter anderem mussten Sie an Augusto Pinochet 2000 Franken zahlen. Kein schönes Gefühl, oder…?

Nicht wirklich. Ich wurde wegen übler Nachrede verurteilt. Da war die Summe vergleichsweise günstig. Der ehemalige Präsident von Mali, kostet mich 180 000 Franken. Nur weil ich geschrieben hatte, dass er zwei Millarden aus der Staatskasse in die Schweiz verschoben habe, während das Volk in seinem Land verhungerte.

320 000 Franken kostete mich ein Geschäftsanwalt, den ich als Geier titulierte. Den Geier musste ich zurücknehmen. Betrüger könnte ich ihn nennen, denn er wurde Jahre später wegen Irreführung seiner Investoren verurteilt.

Sie sehen, die Wahreit kommt uns oft teuer zu stehen.

Neben der Schweiz nehmen Sie auch immer wieder die Vereinigten Staaten von Amerika ins Visier.

 Ich weiß, da bin ich nicht immer fair und gerecht. Aber bitte, zu meiner Entschuldigung, eins von vier Industrieprodukten stammt aus Amerika. Und, die Rolle als Weltpolizist wollen sie nicht aufgeben.

Auf der gleichen Ebene bewegen sich doch aber auch Russland und Wladimir Putin oder China.

 Mea culpa. Sie haben recht. Putin ist ein noch brutalerer Verfechter und Durchsetzer des reinen Kapitalismus. Stärker als wir es –  mit Ausnahme von China –  in anderen Nationen finden.

Ja, es stimmt, bei unserer gesamten Kritik an den herrschenden Bedingungen müssten wir diese Nationen auch stärker in den Fokus rücken. Darüber gilt es nachzudenken, wenn eine neue, globale Weltordnung wirklich Realität werden soll.  Eine Weltordnung zu der auch gehört, dass alle Kriege auf der Welt aufhören und alle Waffen verschrottet werden – überall, von jeder Nation. Ohne Hintergedanken.

Was hat der Fall der Mauer und das Ende der Blöcke bewirkt?

Nichts Gutes! Mehr kriegerische Auseinandersetzungen auf der ganzen Welt. Eine hemmungslosere und rücksichtslosere Ausbreitung  genau des Kapitalismus, vor dem Karl Marx und Friedrich Engels immer gewarnt haben.

Und, eine Globalisierung, die das einzelne Individuum nicht mehr achtet, sondern bei Bedarf wegfegt. Insgesamt also ein hoher Verlust von Menschlichkeit.

In dem Roman „Die Brüder Karamasoff“ von Fjodor Dostojewski heißt es: Jeder ist verantwortlich für alles und alle.

Schauen Sie auf Deutschland: Sie haben die lebendigste Demokratie in Europa. Es wird diskutiert und gerungen. Dennoch: Immer öfter bekommt der Außenstehende das Gefühl: Auch in Deutschland wird Verantwortung gern höflich weitergeleitet.

 Was kann der Einzelne für eine bessere und gerechtere Welt tun?

 Wir müssen nicht nur mehr Menschlichkeit einfordern, sondern entsprechend handeln. Wichtig ist auch, sozialer zu denken. Das fängt im Kleinen an – beim freiwilligen Einsatz in einem Altenheim. Bei einer etwas großzügigeren Spende für die Dritte Welt als die obligatorischen fünf Euro.

Und wir müssen den Mund einsetzen und für eine neue, gerechtere  Gesellschaftsordnung kämpfen.

Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werden.

Der kategorische Imperativ von Immanuel Kant sollte unser Handeln bestimmen. Dann ändert sich die Welt, davon bin ich überzeugt.

Welche Rolle spielt dabei die UNO, der Sie seit über 17 Jahren angehören?

 Können Sie sich noch an die Zeit vom 9. bis 12 August 1941 erinnern? Damals trafen sich vor der neufundländischen Küste an Bord des Kreuzers USS Augusta der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill. Obwohl die Welt in Blut und Asche lag, arbeiteten diese beiden großen Politiker an den Grundlagen einer neuen Weltordnung. In der Atlantikcharta, die nach dem Treffen am 14. August veröffentlicht wurde, tauchte erstmalig der wunderbare Begriff „Vereinte Nationen“ auf. Das hat die am 26. Juni 1945 in San Francisco unterzeichnete Gründungscharta der Vereinten Nationen antizipiert und inspiriert.

Die neue Weltordnung beruhte auf vier Pfeilern:

  • Recht eines jeden Volkes, die Regierungsform zu wählen, unter der es leben möchte, und der Wiederherstellung dieses Rechts, wenn ihm seine Souveränität gewaltsam genommen wurde.
  • Verhinderung aller Kriege zwischen Staaten.
  • Garantie, dass die Menschenrechte aller Bewohner des Planeten gewahrt und geschützt werden.
  • Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit überall auf der Welt.

Das waren die Anfänge, geleitet von einem Optimismus. Von einer unvergleichlichen Aufbruchstimmung.

Und heute?

Heute ist die UNO blass und kraftlos. Der Traum, den sie ursprünglich verkörperte – die Errichtung einer gerechten Weltordnung – ist gescheitert. Gnadenlos. Vor der Allmacht der privaten Oligarchen erweisen sich ihre Interventionsmittel als weitgehend wirkungslos.

Also ein zahnloser Tiger?

Ja und Nein. In den nächsten vier Monaten benötigt die UNO vier Milliarden Dollar für dringendst benötige Soforthilfe in Krisenregionen. Alle wissen, dass das Geld da ist. Deshalb sage ich: Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Unter der scheinbar sterbenden Glut glimmt noch das Feuer. Die Hoffnung vagabundiert durch die Trümmer der UNO. Denn der Horizont der Geschichte bleibt die kollektive Organisation des Planeten unter der Herrschaft des Rechts mit dem Ziel, überall für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit zu sorgen.

Letzte Frage: Herr Ziegler, sind Sie ein Träumer?

 Nein, ich bin Realist. Aber ich habe einen Traum. Den Traum von einer gerechten und friedlichen Welt.

So wie Martin Luther King, der  anlässlich des Marsches auf Washington für Arbeit und Freiheit, an dem mehr als 250.000 Menschen teilnahmen, am 28. August 1963 in Washington, D.C. vor dem Lincoln Memorial eine Rede unter dem gleichen Titel I Have a Dream hielt.

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Nachsatz zum Beitrag in der Stadtgottes: Jean Ziegler ist der einzige Interviewpartner seit 40 Jahren, den unser Autor um eine persönliche Widmung in einem Buch bat.

Sie lautet: Für Thomas Pfundtner, in großer Bewunderung, Dankbarkeit, Solidarität und herzlicher Freundschaft.    Jean Ziegler.

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2022-10-19T10:38:45+02:00
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