Zoni Weisz

 

Ich werde immer mit dem Holocaust leben müssen

 

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Zoni Weisz erzählt interessant und lebhaft über sein Leben.

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Der Kinderpass von Zoni Weisz.

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Ein besonderes Leben eines besonderen Menschen und einer der letzten Zeitzeugen des Holocaust erzählt.

Das Gespräch mit Zoni Weisz fand im Sommer 2018 in einem Berliner Hotel statt und wurde im September 2018 in der katholischen Zeitschrift Stadtgottes veröffentlicht.

Zoni (Johan) Weisz wurde am 4. März 1937 in Den Haag geboren. Er gehört zum Volk der Sinti, einem Brudervolk der Roma. Europäer nennen diese Völker „Gitanes“, Zigeuner oder Manouches. Mit sieben Jahren entkam Zoni Weisz der Deportation. Er sah den Zug, mit dem seine Eltern und Geschwister am 19. Mai 1944 nach Auschwitz geschickt wurden vom Bahnhof wegfahren. Er selbst konnte dank eines Polizisten fliehen.  Nach dem Krieg wurde Zoni Weisz ein erfolgreicher Florist, schmückte die Hochzeiten der niederländischen Königsfamilie, die Inaugurationen der Päpste Benedikt und Franziskus aus. Er war auf zahlreichen internationalen Blumenschauen und arbeitete eng mit Museen zusammen.

Zoni Weisz ist Mitglied im Niederländischen und im Internationalen Auschwitz-Komitee. Seit vielen Jahren kämpft er um die Anerkennung des Völkermords und für die Gleichberechtigung der Sinti und Roma.

Der Holocaust an den Sinti und Roma

Das große Verschlingen – so wird der Völkermord an den Roma und Sinti auf Romanes genannt. Während der Zeiten des Nationalsozialismus wurden 500000 Roma und Sinti in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet. Doch es dauerte viele Jahrzehnte bis die Gräueltaten an den Sinti und Roma nicht mehr totgeschwiegen, sondern anerkannt wurden. Das ist auch ein Verdienst von Zoni Weisz. Er hatte entscheidenden Anteil daran, dass die niederländische Regierung sich im Jahr 2000 bereit erklärte, den Opfern eine Entschädigung zu zahlen – 25.000 Gulden pro Person.

Das Buch: Der vergessene Holocaust

Zoni Weisz erzählt von seiner Kindheit als Sinto, von Verlust seiner Familie und seinem eigenen Überlebenskampf während des Zweiten Weltkriegs. Später wird der junge Mann ein erfolgreicher Florist, der international anerkannt und geachtet wird. In Deutschland wurde Zoni Weisz bekannt, als er am 27. Januar 2011 als erster Vertreter der Sinti und Roma eine Rede vor dem Deutschen Bundestag anlässlich der Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus hält. Der vergessene Holocaust ist ein erschütternder Lebensrückblick, der aber gleichzeitig Mut macht und beweist, dass Hoffnung nie sterben darf.

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Zoni Weisz im Gespräch mit Romani Rose, dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma.

Ihre Eltern und Ihre Geschwister wurden von Nationalsozialisten in Auschwitz und Mittelbau-Dora ermordet. Sie selber konnten entkommen. Was denken und fühlen Sie mit Blick auf das neue Europa, in dem sich der Nationalismus und Rechtsradikalismus immer weiter ausbreitet?

Ganz ehrlich – das macht mir große Angst. Nicht um mich, sondern um meine Kinder und Enkel. Geschichte passiert immer in Wellen. Es geht mal rauf, mal wieder runter. Im Moment habe ich das Gefühl, wir stehen in Europa da, wo wir ab 1938 schon einmal gestanden haben. Wir haben so viele Jahre in Frieden leben können, hoffentlich geht das nicht zu Ende.

Worauf führen Sie diesen starken Rechtsruck zurück?

Ich glaube, die Rechtsradikalen waren nie weg. Und, seien wir ehrlich, die Angst vor Fremden oder Unbekanntem steckt in jedem von uns. In jedem! Aber dagegen müssen wir kämpfen. In unseren Herzen. Alle Menschen sind gleich, egal welche Hautfarbe sie haben oder woher sie stammen. Es gibt keinen Grund, andere Menschen zu hassen oder zu verdammen. Aber dieser Gedanke scheint so langsam aus den Köpfen zu verschwinden …

… Wie damals bei Adolf Hitler ..?

Genauso. Sehen Sie, ich bin viel in Schulen und rede mit den Kindern und Jugendlichen. Ihnen erkläre ich, dass Rassismus und Hass immer ganz klein anfangen, aber dass das dann langsam Formen annimmt und größer wird. Wie damals bei Hitler, da hat es auch klein angefangen. Deshalb müssen wir unsere wichtigste Waffe gegen die neue Rechte einsetzen, die wir haben: Wir müssen immer darüber sprechen und die anderen humanen Ansichten in die Öffentlichkeit tragen.

Nach Ihren schlimmen Erfahrungen im Krieg könnte Ihnen niemand verdenken, wenn Sie die Deutschen hassen.   

Nein! Ich hasse Rassisten, Nazis oder Terroristen. Aber die gibt es überall. Da spielt die Nationalität doch keine Rolle. Ich habe am 4. Mai in Sachsenhausen eine Rede zum Holocaust gehalten. Darin erzähle ich, dass sich in Frankreich viele Juden nicht mehr mit der Kippa auf die Straße trauen –  aus Furcht vor Übergriffen. Jetzt lese ich davon, dass dies auch in Deutschland passiert.  Das macht mir Angst. Es ist scheinbar kein schleichender Prozess mehr, sondern schon viel weiter, als wir denken.

Wollen wir die Zeichen nicht sehen?

Ich weiß nicht. Es erscheint mir eher wie damals in der Reichskristallnacht, dieser Mechanismus von Weggucken und Mitlaufen. Damals im November 1938 sind in wenigen Stunden Mitläufer zu Mittätern geworden. Auch wenn viele das immer abgestritten haben. Aber das realisieren wir nicht, sondern schauen weg oder verharmlosen die Anfänge.

In dem Buch Der beherzte Reviervorsteher erzählt der Berliner Autor Heinz Knobloch die Geschichte um den durch den Polizisten Wilhelm Krützfeld verhinderten Brand der Synagoge in der Oranienburger Straße während der Novemberprogrome. Aber erst 1995 wurde dieser mutigen Tat durch eine Bronzetafel am Eingang der Synagoge gedacht.

Ich kenne die Geschichte nicht, aber sie ist nicht nur ein beeindruckender Beweis für Zivilcourage, sondern erinnert mich auch an die Geschichte meines Volkes, der Sinti und Roma.

Ich meine nicht die mutige Tat, sondern das sich daran Erinnern und Anerkennen.

Reichsführer-SS-Chef Heinrich Himmler befahl der Rassenhygienischen Forschungsstelle unter der Leitung von Dr. Robert Ritter 1928 die Erfassung aller Sinti und Roma im Deutschen Reich. Er erstellte mit seinen Mitarbeitern 24.000 „Rassegutachten“, die zur Vorbereitung des Völkermordes an den Sinti und Roma dienten. In der Zeitschrift des Nationalsozialistischen Ärztebundes schrieb Dr. Kurt Hannemann im selben Jahr: „Ratten, Wanzen und Flöhe sind auch Naturerscheinungen, ebenso wie die Juden und Zigeuner. Alles Leben ist Kampf. Wir müssen deshalb alle diese Schädlinge allmählich ausmerzen.“ Die Folge: 500000 Frauen, Männer und Kinder meines Volkes wurden von den Nazis ermordet.  Aber ist nach dem Krieg etwas passiert? Nein! In den Nürnberger Prozessen wurde nur summarisch über unser Schicksal gesprochen. Aber, das war’s schon. Auch ich habe das schmerzlich erlebt.

 

Wieso?

Ich hatte nie damit gerechnet, zur Armee zu müssen. Ich war doch ein Sinti. Aber mein Vater hatte mich 1937 nach meiner Geburt in Den Haag registrieren lassen. Somit war ich im System erfasst. Anfang 1956 erhielt ich einen Einberufungsbefehl. Im Rathaus von Apeldoorn saß am Ende eines finsteren Flures ein kleiner, grauer Mann. Ich sagte zu ihm: Ich habe eine Einberufung zum Wehrdienst erhalten. Mein Vater wurde aber im Krieg von den Deutschen ermordet. Stimmt es, dass ich den Dienst dann nicht antreten muss?

„Können Sie das beweisen?“

Ich erklärte dem Beamten, dass mein Vater und der Rest der Familie 1944 nach Auschwitz deportiert worden sind und diese Tatsache in der Gemeinde Zuthphen offiziell registriert wurde. Auch, dass ich seitdem nichts von ihnen gehört hatte, sagte ich. Und ich erzählte ihm von einigen Sinti, die den Krieg überlebt hatten und mir berichteten, dass mein Vater am 13. November 1944 im Lager Mittelbau-Dora gestorben sei …

Also war alles klar…?

Nichts war klar! Ich werde es nie vergessen. Der Mann presste seine Fingerspitzen gegeneinander und kniff seine Augen zusammen. Über seine Lippen kamen nur drei Worte: „Das zählt nicht.“

Sechs Monate später stand ich dann als junger Marinesoldat an der Steilküste von Madeira. Damit das klar ist: Es geht mir nicht um die Zeit in der Armee. Es geht mir um die Ignoranz und Ungleichbehandlung der Sinti und Roma, die damals viel extremer war als heute.

Die Blumen lehren uns Unschuld.

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Zoni Weisz mit seiner Frau Elli und seiner Tochter Elvira.

Sie wuchsen nach dem Krieg bei Ihrer Tante Leen auf und begannen bei einem Blumenhändler als radelnder Auslieferer. Blumen haben dann Ihr ganzes Leben bestimmt.

Das ist richtig.  Mit 16 stand ich also in diesem Geschäft und bekam den Job. Anfangs ging es darum, Geld zu verdienen. Aber als ich zum ersten Mal sah, was mein Chef aus den Blumen für fantastische Gestecke machte, war klar: Das will ich auch. Ich war immer der Natur verbunden. Aber das, was er machte war unglaublich. Also habe ich alte Blumen genommen und das auch gemacht. In dem Moment wusste ich: Das ist mein Leben, meine Zukunft. Dank meines Chefs konnte ich auch später eine Ausbildung als Florist machen.

Was hat sie so sehr fasziniert? Die Blume? Das Optische? Das Kreative? Was war es genau?

Das war das Spielen mit den Farben und Formen. Später durfte ich auf den größten Blumenausstellungen der Welt oder bei Dekorationen für Hochzeiten oder anderen Feiern meiner Fantasie freien Lauf lassen. Ich schuf – im wahrsten Sinne des Wortes – vergängliche Kunstwerke. Alles. Später haben Museumsdirektoren mit mir Ausstellungen konzipiert, zum Beispiel mit dem Van Gogh Museum zusammen. Das fand ich sehr schön. Aber noch schöner ist für mich im Rückblick: Alles fing bei einem Blumenmann um die Ecke an.

Ist es die Blume an sich, die so eine Faszination ausübt. Oder ist es die Möglichkeit, was man alles damit machen kann?

Beides. Warum genießen wir Blumen? Warum? Unser Unterbewusstsein  weiß, ein schöner Strauß hält nur einige Tage. Dann ist es vorbei. Unwiederbringlich. Ein Kreislauf unserer eigenen Vergänglichkeit. Für diesen kurzen Zyklus ist eine Rose ein wunderbares Beispiel. Wir sehen den verschlossenen Kelch. Dann öffnet sie sich und entfaltet ihre Pracht und Schönheit. Wie eine Königin steht sie in der Vase und strahlt Ruhe und Frieden aus. Aber dann ist es vorbei, die Rose welkt und stirbt. Unglaublich bewegend. Eine Plastikrose, steht nur da, verstaubt und ist nur eine langweilige Rose. Jetzt stellen Sie sich vor, was aus 1000 oder 35000 lebenden Rosen erschaffen werden kann… Also ist es beides. Die Liebe zu den Blumen und die unendlich, kreativen Möglichkeiten, die uns die Blumen anbieten. Auch in Kombination mit anderen Kunstformen.

Was kann der Mensch von den Blumen lernen?

Unschuld.

Nur Unschuld?

Nein, auch die Vergänglichkeit des Lebens. Eine Blume ist da. Sie kann nichts tun. Sie kann sich nicht verteidigen. Sie ist „nur“ schön und strahlt. Für eine kurze Zeit. Dann ist es vorbei. So wie bei uns. Also sollten wir doch auch schön sein und nach außen hin aus dem Herzen strahlen.

Meine Pflicht ist es, die Geschichte der Sinti gegen das Vergessen am Leben zu erhalten.

 

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Zoni Weisz hält Vorträge vor Jugendlichen in Schulen und anderen Einrichtungen, um das Leiden der Sinti und Roma nicht vergessen zu lassen.

Wie ist das bei Ihnen?

Das ist nicht leicht zu beantworten. In den Nachkriegsjahren habe ich alles verdrängt. Ich konnte und wollte damit nichts zu tun haben. Das war auch einfach, denn meine berufliche Karriere hatte mich voll im Griff. Dann lernte ich im Mai 1962 auch noch meine Frau Elli kennen. Wir heirateten ein Jahr später. Schon früh hatte ich ihr meine ganze Geschichte erzählt. Aber natürlich hatte sie keine Vorstellung davon, wie tief der Schmerz tatsächlich in mir saß. Ich auch nicht. Jedes Mal wenn ich mir fest vornahm, mich mit meiner unterschwelligen Trauer zu beschäftigen, verflüchtigte sich der Gedanke nach kurzer Zeit. Kein Wunder, machte mich Elli doch zum glücklichsten Menschen auf dem Planeten: Sander wurde 1965 geboren. Gut zwei Jahre später unsere Tochter Elvira. Es war damals völlig verrückt: Gerade in den Momenten, in denen ich mich am glücklichsten fühlte, fühlte ich gleichzeitig eine bodenlose Trauer. So, als mache mich dieses Glück verletzlich. Kurz vor der Geburt Sanders träumte ich von einem Todesmarsch. Ich habe da vielleicht die Rolle meines Vaters übernommen. Mein kleiner Sohn sei mein eigenes, kleineres Ich, hat sich mein Unterbewusstsein vielleicht gedacht. Das war wohl eine Verkehrung der Tatsachen, die offenbar durch meine unverarbeitete Vergangenheit kam. Aber etwas ändern? Wollte ich das? Hatte ich nicht zu viel Angst vor der Konfrontation mit der Vergangenheit?

 Wie ging es weiter?

Einige Jahre später wurde ich zum  internationalen Blumenfestival in Ramat Gan, einer Vorstadt von Tel Aviv als Berater eingeladen. Dort lerne ich Jerach Perlmann kennen, einen Mann, der mein Leben veränderte. Es stellt sich heraus, dass wir beide Holocaust-Überlebende sind. Aber uns verbindet mehr: Beide haben wir im Krieg unsere Familien verloren, während wir selber nur mit knapper Not den Gaskammern entkommen sind. Auch danach waren wir beide großen Gefahren ausgesetzt: Ich überlebte nur um ein Haar eine deutsche Bombe, Jerach war als Kind zu Fuß unterwegs von Rumänien nach Israel.

Gemeinsam besuchten wir das Holocaustmuseum Yad Vashem. – Gemeinsam. Allein hätten wir uns wohl nicht getraut.

Die Ausstellung ist ergreifend. Mit einfachen Mitteln wird die Geschichte einer der größten Katastrophen, die der Mensch sich selbst je zugefügt hat, dargestellt. Jerach und ich sind besonders von der Halle, deren Wände und Decke mit Bildern jüdischer Naziopfer bedeckt sind, erschüttert.

Völlig aufgewühlt betreten wir die Krypta der Erinnerung. Ich spüre natürlich, dass es Jerachs Geschichte und die von Millionen anderer Juden ist, die hier in diesem Museum erzählt wird, doch häufig ließe sich das Wort „Juden“ leicht durch „Sinti“ ersetzen ,ohne dass die Aussage schwächer würde (Zoni Weisz Blick wandert ab, er scheint in die Ferne zu blicken und seinen Erinnerungen nachzuhängen…)

Und dann? (frage ich leise).

Nach dem Museumsbesuch haben wir uns auf eine Bank gesetzt. Plötzlich sehe ich, dass Tränen aus seinen Augen rinnen. Der Junge, der aus Rumänien nach Israel gekommen ist, hat sich hier mit offenen Augen seiner Vergangenheit gestellt. Auch ich muss weinen. Wir lassen gemeinsam unseren Gefühlen und Erinnerungen freien Lauf. Wir weinen um Menschen, die uns von der Ideologie des Hasses genommen wurden. Ein intensiver Moment, den wir als Holocaust-Überlebende teilen können. Diese gemeinsame Trauer wird zu meinem Wendepunkt in meinem Denken über den Holocaust. Denn es gibt kein Halten mehr: Alle Türen in meinem Kopf, die mit dem Krieg und meiner Familie zu tun haben, stehen dank dieses Besuchs endlich sperrangelweit offen. Kaum in den Niederlanden zurück, beschließe ich, eine Therapie zu machen. Bei einem Psychiater der vielen Überlebenden des Krieges geholfen hat.

Wie konnte er Ihnen helfen?

Reden, reden, reden. Wir sprachen über meine tiefsten Gefühle, über Dinge, die ich mit niemandem geteilt habe. Selbst mit Elli nicht, weil ich sie damit nicht belasten wollte. Alles zu erzählen, half mir. In meinem Kopf kehrte Ruhe ein. Die Therapie hat nicht meine Ängste und Kummer verringert, aber sie hat mir geholfen, damit besser umzugehen. Meine Eltern, meine kleinen Schwestern, mein kleiner Bruder, heute kann ich an sie denken, ohne gleich in Panik zu verfallen oder mich innerlich zu verschließen. Es ist auch nicht mehr schlimm für mich, bei einer Frau mit langen schwarzen Haaren gleich an meine Mutter zu denken.

War das alles?

Die Therapie hat mir klargemacht, dass mir durch mein Überleben eine Pflicht auferlegt wurde. Dabei geht es nicht um Erfolg oder Stärke, sondern um die Pflicht, die Stimme meiner Eltern zu sein. Ich muss ihre Geschichte erzählen, alles, was 1944 geschah. Ich muss ihre Geschichte und die all der anderen Sinti, die nicht mehr Leben sind, am Leben erhalten. Für unser Volk, gegen das Vergessen.

Wie?

Ich durfte mithelfen die Nationale Sinti Organisation mit ins Leben zu rufen. Wir haben mit dieser Organisation unserem Volk eine Stimme gegeben und für unsere Rechte gekämpft.

Erfolgreich?

Der Grundstein wurde gelegt. Am Anfang gab es niemanden, der uns ernst nahm. Jetzt sind wir für die Behörden Ansprechpartner  und Vermittler. Ich erinnere mich noch genau an die ersten Jahre als es einen Streit mit der Regierung um den niederländischen Ausgleichsfonds für die Sinti und Roma ging. Das war im Jahr 2000. Damals hatten wir unsere Rechte eingefordert und Genugtuung verlangt. Aber Wim Kok, unser damaliger Ministerpräsident wollte uns nur bedingt unterstützen. Und Entschädigungszahlungen sollte es schon gar nicht geben. Da konnte ich mich natürlich nicht zurückhalten …

Erzählen Sie.

Gern! „Herr Ministerpräsident“, fing ich an, „ich bin nicht wegen Ihrer schönen blauen Augen hier. Sondern ich will Geld. Geld für unser Volk. Das ist unser Recht. Wir möchten dieselbe Behandlung wie die jüdische Gemeinschaft. Wir sind genau wie sie durch die Nürnberger Rassengesetze zur Ausrottung verdammt worden. Auch wir wurden verfolgt und vergast. Also haben wir ein Recht auf die gleiche Behandlung!“ Im Ergebnis ist Wim Kok endlich auf uns eingegangen und wir bekamen Geld.

Wieviel?

Jeder Überlebende oder die Nachkommen bekam  25000 Gulden. Und unsere Organisation bekam Geld. So konnten wir anfangen, in die Zukunft unserer Kinder zu investieren.

Was haben Sie getan?

Bildung ist das Wichtigste für eine gute Zukunft. Wir haben Schulen gegründet, unterrichten dort unsere Kinder. Wir kümmern uns um soziale Projekte für alle Sinti.

Wir haben ein Sinti- und Roma-Archiv im Internet ins Leben gerufen. Und viele andere Dinge mehr. Und wir sind dabei, die Sinti in die neue Zeit zu bringen. Bei uns wurde nie etwas aufgeschrieben. Alles wurde von Mund zu Mund weitergetragen. Auch haben die Sinti einen strengen Ehrenkodex und es gibt vieles, über das wir nicht mit anderen reden dürfen. Das müssen wir aufweichen, denn Verständnis und Toleranz sind keine Einbahnstraße. Wenn wir nicht unbeliebt sein wollen und als Feind wahrgenommen werden wollen, müssen wir offen für das Neue und Andere sein und uns ebenfalls öffnen. Die Welt hat sich verändert. Da müssen wir dabei sein.

Werden deshalb immer mehr Sinti sesshaft?

Ja, die Zeit der Wohnwagen-Romantik mit knisternder Feueratmosphäre und sehnsuchtsvollen Zigeunerliedern nähert sich dem Ende. Überall auf der Welt bleiben die Sinti und Roma an Orten, die ihnen gefallen. Das ist auch gut so, denn dort, wo wir frei sein können und uns wohl fühlen, ist unsere Heimat. Und, um Ihre Frage vorwegzunehmen, nein, wir wollen keinen eigenen Staat. Wir sind dort glücklich, wo wir sind.

Was bedeutet Glück für Sie?

 Meine Familie. Meine Enkel. Mein Leben. Sicher, der Anfang war schlecht. Aber ich hatte unendlich viele Chancen und Möglichkeiten. Darüber bin ich dankbar und glücklich.

Glauben Sie an Gott?

Leider habe ich meinen Glauben verloren. Nach dem Krieg. Der Verlust meiner Familie. Das alles sitzt tief und wird mich ewig begleiten.

Aber Sie haben doch den Blumenschmuck bei den Inaugurationen von Papst Benedikt und Papst Franziskus geliefert.

Warum denn nicht? Das sind doch bewundernswerte Personen, die sich voll und ganz in den Dienst des Menschen stellen. Mein Lieblingspapst war übrigens Johannes Paul der II. Er wirkte auf mich so menschlich und emotional. Auch Franziskus – mit seinem Aufräumen in der Kirche und der von ihm propagierten Rückkehr an die Basis – gefällt mit gut. Aber Glauben an einen Gott. Seien Sie mir nicht böse, aber das kann ich nicht mehr. Dafür glaube ich an das Gute im Menschen. In jedem von uns! Ich bin Humanist, was ja auch viel mit Glauben zu tun hat.

 

 

Dann ist das Gespräch beendet. Langsam verlasse ich das Berliner Hotel und denke: Zoni Weisz, ein Kämpfer gegen das Vergessen. Ein Kämpfer für uns alle. Er glaubt bestimmt. Auch wenn er es vielleicht nicht weiß. Denn Gott ist Mensch und in uns allen. Auch in diesem beeindruckenden Mann, der trotz aller bösen Erfahrungen, eines nicht verloren hat: Den Glauben an die Menschheit…