Am Tag der Menschenrechte: Genug ist genug!
Aktionsbündnis für mehr Gerechtigkeit in Stendal gegründet
Professorin Dr. Katrin Reimer-Gordinskaya (2. von rechts) und Bernd Zürcher (mit rotem Schal) in einer der zahlreichen Gesprächsrunden, die am Aktionstag in der Kunstplatte stattfanden.© Foto: Thomas Pfundtner
Dieser Beitrag über das Aktionsbündnis für Gleichberechtigung erschien in der Altmark Zeitung in der Ausgabe Landkreis Stendal vom 13.12.2022 unter der Überschrift „Kunstplatte sucht Lösungen“.
Das Interesse an den Aktionen zum Tag der Menschenrechte war groß. © Foto: Thomas Pfundtner
Stendal. Nicht jeder Protest, jede Gesellschaftskritik muss unbedingt laut und massiv sein. Das bewiesen am Sonnabend, dem 10. Dezember 2022, die Initiatoren, die in der Stendaler Kunstplatte zu einem Aktionstag für soziale Gerechtigkeit eingeladen hatten.
„Vor gut sechs Wochen entstand die Idee“, erzählt Bernd Zürcher. Er hat viele Jahre als Regionalleiter beim Paritätischen Wohlfahrtsverband gearbeitet, ist jetzt Vorsitzender des Vereins „Die Kunstplatte“ in Stadtsee.
Mehrere Frauen und Männer trafen sich, um zu überlegen, welche Möglichkeiten es gibt, gemeinsam etwas gegen soziale Ungerechtigkeit und explodierende Kosten zu tun. „Wir wollen auf niemanden draufschlagen, weder auf Unternehmen, Politiker oder öffentliche Institutionen“, sagt Bernd Zürcher, „sondern gemeinsam nach Lösungen suchen. Zürcher meint unter anderem die zunehmende Verarmung, die auch vor Stendal nicht Halt gemacht hat: „Viele Familien, aber auch Rentner können die gestiegenen Energiekosten kaum noch bewältigen“, erzählt er, „die Tafel betreut zum Beispiel eine Rentnerin, der nach Abzug aller Kosten jetzt nur noch ein 1,50 Euro zum Leben bleiben. Hier müssen wir doch etwas verändern.“
So sieht es auch Melanie Märtens, Leiterin der Stendaler Tafel. Sie berichtet, dass sich seit Februar, also mit dem Beginn des Ukrainekriegs, die Zahl der Bedürftigen, die sich bei den Ausgabestellen anstellen, „massiv angestiegen ist.“ Die Unterstützung der Tafel mit Lebensmitteln durch die Supermärkte habe zwar nicht nachgelassen, „aber das Abholen der Waren und das Verteilen an den Ausgabestellen ist zu einem großen Problem geworden.“ Grund dafür sind unter anderem die gestiegenen Spritpreise.
Sie erzählt: ,,Als die Tafel ihre Arbeit aufnahm, standen 30 vielleicht auch mal 40 Personen vor der Ausgabe, die einmal in der Woche geöffnet hatte. Mittlerweile haben wir vier Ausgabetage. Nicht nur in Stendal. Nein, wir verteilen auch in Tangerhütte, Tangermünde, Osterburg und Bismark. Mittlerweile versorgen wir viele hundert bedürftige Menschen.“ Erschreckend: Die Tafel musste zeitweise sogar einen Aufnahmestopp verhängen, weil nicht mehr klar war, woher die benötigten Lebensmittel genommen werden sollten. „Doch“, so Melanie Märtens, „dafür haben die Spenden von Unternehmen und Privatleuten zugenommen.“
Bündnis fordert Hilfe vom Landrat
Musikalische Unterhaltung von Phil Hanke gibt es neben den Diskussionen zu erleben. © Foto: Thomas Pfundtner
Unterstützung und Aufmerksamkeit ist jederzeit willkommen. © Foto: Thomas Pfundtner
Was auch überlebensnotwendig war, denn als der Motor des größten Tafel-Transporters seinen Geist aufgab, fehlte es an Geld, einen neuen mit kühlbarer Ladefläche zu kaufen. Der hätte mehr als 60.000 Euro gekostet. Geld, das die Tafel einfach nicht hatte. Also suchten die Mitarbeiter nach einer Werkstatt, die den alten Transporter mit einem vernünftigen Motor ausstatteten – „das waren aber auch 8000 Euro.“
Professorin Dr. Katrin Reimer-Gordinskaya von der Hochschule Magdeburg Stendal, die die Initiative ebenfalls unterstützt, ergänzt, dass auch beim Thema Bildung, die Corona-Pandemie bis heute erschreckende Probleme und negative Folgen für die jungen Menschen hat. Während einer Podiumsdiskussion an diesem Aktionstag berichteten Schülerinnen und Schüler, wie wenig sie bis heute lernen und dass dies sowohl ihnen als auch später der deutschen Wirtschaft nur schaden würde: „Wir haben nicht nur Zeit verloren, sondern waren auch psychisch einem Stress ausgesetzt, der bis heute nachwirkt“, sagte ein Betroffener.
Bernd Zürcher: „Corona, Energiekrise, der Ukraine-Krieg – sind nur die Lupe auf die Probleme, die schon in den Jahren vor diesen Krisen bestanden haben. Auch mein Verein, die Kunstplatte e.V. als Verein weiß nicht, ob wir das nächste Jahr überleben. Bisher hatten wir einen jährlichen Etat von bis zu 40.000 Euro, den wir aus Zuwendungen, zum Beispiel von „Lotto“ oder der „Aktion Mensch“, erhalten haben. Auch der Landkreis und die Stadt bezuschussen uns mit ein paar tausend Euro. Doch, wenn die Energiepreise weiter so explodieren, können wir wahrscheinlich dichtmachen.“
Doch das will Bernd Zürcher nicht in den Mittelpunkt dieser Veranstaltung stellen. „Heute ist unser Schwerpunkt die Arbeit der Stendaler Tafel und die Bürger, die gezwungen sind, dieses Angebot wahrnehmen zu müssen. Viele dieser Bürger und Bürgerinnen werden von Ämtern und dem Jobcenter zur Tafel geschickt, ohne dass die Mitarbeiter wissen, was dort durch die ehrenamtlichen Mitarbeitenden für Leistungen erbracht werden“. Aus diesem Grund bieten wir den zuständigen Verwaltungen im Landkreis Stendal an, diese Arbeit kennenzulernen, indem sie durch ihre aktive Mitarbeit in der Tafel, diese Arbeit kennenlernen! Der Stendaler Landrat Herr Puhlmann wird aufgefordert, Wege zu suchen, die Stendaler Tafel finanziell zu unterstützen, um die Mehrkosten, zum Beispiel die Kraftstoffkosten auszugleichen!
In den nächsten Wochen möchte das Aktionsbündnis, in dem alle Entscheidungen gleichberechtigt getroffen werden, auch auf weitere soziale Probleme hinweisen. Zum Beispiel auf die Probleme im Gesundheitssystem, auf die der Verein „Pro Krankenhaus Havelberg“ seit drei Jahren hinweist. Dabei geht es vor allem um die Gesundheitsversorgung in der Stadt. Einer der größten Wünsche des Aktionsbündnisses: Dass es gelingt, Politiker, Verwaltung und Betroffene zusammenzubringen. „Denn“, so Bernd Zürcher, „die Menschen, die wirklich mit ihren sozialen Problemen leben müssen, sind die wahren Experten“.
Er fährt fort: „Vielleicht können wir dann Schritt für Schritt Veränderungen erreichen. Den ersten Schritt haben wir heute am Tag der Menschenrechte gemacht. Jetzt kann es nur noch vorwärtsgehen.“ tp.