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Die neue Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux.

Foto: © 2cordevocali – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0

Annie Ernaux ist die Literaturnobelpreisträgerin 2022

Seit der ersten Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahr 1901 haben insgesamt 119 Literaturschaffende den Nobelpreis erhalten. Darunter befinden sich 102 Männer (85,7 %) und nur 17 Frauen (14,3 %). Bisher wurde noch niemand mehrfach mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Von 1901 bis 2022 wurde der Preis 111 Mal ungeteilt an eine Person vergeben.

Auf der streng geheimen Longlist für den diesjährigen Preis standen 233 Kandidatinnen und Kandidaten. Natürlich wurde im Vorfeld wieder spekuliert und Wetten wurden abgeschlossen, tatsächlich wurde der Name der Französin Annie Ernaux in den letzten Tagen schon einige Male genannt. Kurios ist: Da die Zeremonie für die Bekanntgabe nicht so spektakulär ist und keiner darauf vorbereitet sein kann – dieses Jahr gab es immerhin einen Livestream im Fernsehen – erfahren die Preisträger*innen oft erst später von ihrer Wahl. Auch die französische Preisträgerin hatte man während des Livestreams noch nicht telefonisch erreicht.

Annie Ernaux bezeichnet sich übrigens als Ethnologin ihrer selbst. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden. Sie ist der Auffassung Liebe und Literatur seien das Wichtigste auf der Welt. So schreibt sie über die eigene Familie, ihre Bildungslaufbahn und auch von ihrer Abtreibung. Dabei dreht die 82-Jährige sich nicht um die eigene Achse und  schreibt nicht in der Ich-Form. Außerdem vernetzt sie ihre Geschichte mit Analysen über Klassenschranken und Patriarchat. Damit zeigt sie, dass Alltag und Alltagsgeschehnisse hochpolitisch sind.

Annie Thérèse Blanche Ernaux, geborene Duchesne wurde am 1. September 1940 in Lillebonne, im Département Seine-Maritime geboren.

Die Schriftstellerin verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Yvetot in der Normandie. Als Einzelkind wuchs sie katholisch erzogen in bescheidenen Verhältnissen auf. Ihre Eltern waren aus dem Arbeitermilieu und hatten später ein Geschäft mit einem Café.

Nach dem Lycée studierte sie in Rouen und Bordeaux, mit abschließender Promotion. Danach arbeitete sie als Lehrerin am Gymnasium in Bonneville, am College d’Évire in Annecy-le-Vieux, in Pontoise und am Centre national d’enseignement à distance.

Sie ist geschieden, hat zwei erwachsene Söhne und lebt inzwischen in Cergy, bei Paris.

Im Jahr 2022 gab Annie Ernaux gemeinsam mit ihrem Sohn David Ernaux-Briot ihr Debüt als Filmregisseurin. Bei den Filmfestspielen von Cannes stellte sie den autobiografischen Dokumentarfilm Les années super 8 (dt. Titel: Annie Ernaux’ Super 8 – Tagebücher) vor. Dabei wurden Aufnahmen ihres Familienlebens verwendet, die die Autorin zwischen 1972 bis 1981 mittels Super-8-Kamera festgehalten hatte. Das Werk wurde in den Kontext der Sehnsüchte und Träume der französischen Mittelschicht nach dem Jahr 1968 gesetzt.

1974 publizierte Ernaux ihren ersten autobiografischen Roman Les Armoires vides. 1984 erhielt sie für La Place den Prix Renaudot.

Der 2008 veröffentlichte Roman Les Années wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Ebenfalls 2008 erhielt sie den Prix de la langue française für ihr Gesamtwerk.

2011 veröffentlichte sie L’Autre Fille, einen Brief an ihre Schwester, die als sechsjähriges Kind, zwei Jahre vor der Geburt der Autorin, gestorben war. Ebenfalls 2011 erschien L’Atelier noir, eine Sammlung von Notizen, Plänen und Gedanken zu ihrem Werk. Die Anthologie Écrire la vie erschien ebenfalls 2011 in Quarto. Darin enthalten sind neben den meisten ihrer autobiographischen Werke Fotografien und Tagebuchausschnitte.

Im April 2016 veröffentlichte sie ein weiteres autobiographisches Werk, Mémoire de fille (Erinnerung eines Mädchens), in dem sie sich mit den im Sommer 1958 gemachten ersten sexuellen Erfahrungen und deren lebenslangem Nachklang beschäftigt.

Und nun, im Oktober 2022, wurde Frau Annie Ernaux „für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Fesseln der persönlichen Erinnerung aufdeckt“, der Nobelpreis für Literatur zuerkannt.

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Das neueste Werk der Preisträgerin.

Verloren gehen – ist noch nicht ins Deutsche übersetzt.

Über  GETTING LOST 

Das Tagebuch einer der wichtigsten, preisgekrönten Schriftstellerinnen Frankreichs und der Literaturnobelpreisträgerin, aus dem Jahr 1989, in dem sie eine leidenschaftliche und heimliche Liebesaffäre mit einem russischen Diplomaten hatte.

Getting Lost ist das Tagebuch, das Annie Ernaux in den anderthalb Jahren führte, in denen sie eine heimliche Liebesaffäre mit einem jüngeren, verheirateten Mann, einem russischen Diplomaten, hatte. Ihr Roman Einfache Leidenschaft basierte auf dieser Affäre, aber hier schreibt sie Tagebuch, unmittelbar, ungefiltert.  Annie ist geschieden und hat zwei erwachsene Söhne, lebt außerhalb von Paris und ist fast fünfzig Jahre alt. Ihr Liebhaber flieht aus der Stadt, um sie dort zu sehen. Sie wiederum scheint nur in Erwartung dieser Begegnungen zu überleben und sagt: „Sein Verlangen nach mir ist das Einzige, dessen ich mir sicher sein kann.“ Ist ihr Geliebter nicht da, kann sie nicht schreiben, erfüllt ihre Pflichten, aber wartet eigentlich nur auf seinen nächsten Anruf. Die Autorin lebt einzig für die Lust und für das nächste Rendezvous. Als er weg ist und damit das Verlangen verflogen, fühlt sie, dass sie dem Tod einen Schritt näher gekommen ist.

 

  • Herausgeber ‏ : ‎ Seven Stories Press (4. Oktober 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Englisch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 240 Seiten
  • Preis  : 15,62 Euro
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-1644212196