Begeisternde Premiere der Junk-Oper „Shockheaded Peter“ am Theater der Altmark

 

Struwwelpeter mit viel Humor

 

 

Die Premierenkritik des Theaterstückes Shockheaded Peter erschien in der Altmark Zeitung am Mittwoch, 20. September 2023, in der Ausgabe für den Landkreis Stendal im Teil Lokales.

Kind (Lukas Franke), Mutter (Patricia Hachtel) und Vater (Fynn Zinapold) Foto:©Nilz Böhme;TdA

Foto:©Nilz Böhme;TdA

 Stendal – Jeder kennt sie, den „Struwwelpeter“, den Suppen-Kaspar, den fliegenden Robert, Pauline mit dem Feuerzeug oder den Zappel-Philipp. Seit über 100 Jahren gelten sie als typische Figuren für rigide Erziehungsmethoden von Kindern. Es sind Figuren, die 1845 der Psychiater Heinrich Hoffmann zum Leben erweckte – sowohl in Versen als auch Bildern. Seine Urfassung untertitelte der Autor mit „Lustige Geschichten und drollige Bilder“. Lustig endet es aber fast nie, sondern sie lernen: „Wer nicht hören will, muss fühlen!“. Dennoch findet sich in den Reimen und Bildern von Heinrich Hoffmann stets eine gehörige Portion Humor, seien es trauernde, tränenüberströmte Katzen, der Flug mit einem Regenschirm in die Unendlichkeit oder die Suppenschüssel auf dem Grab vom Suppen-Kaspar. All diese Geschichten werden in der makaber und grotesken Bühnenversion „Shockheaded Peter“ von Phelim McDermott und Julian Crouch zu Stars in einer rasanten Junk-Oper, die dem Zuschauer keine Entspannung gönnt. Die Musik schrieb Martyn Jacques von der englischen Kultband „The Tiger Lillies“.

Am Sonnabend feierte „Shockheaded Peter“ eine umjubelte Premiere. Sicher, anders als im Hoffmann-Struwwelpeter enden die Schicksale dieser bösen und unartigen Kinder immer tödlich. Allerdings ist dieser Tod nur von kurzer Dauer und am Ende stehen alle wieder quicklebendig auf der Bühne. Dazu die Musik – eine Mischung aus Rock, Jazz, Bänkelsängertönen oder Vaudeville – eine frühe Form des französischen Chansons aus dem 15. Jahrhundert. In Stendals Struwwelpeter rocken ab der ersten Minute drei Neulinge des Ensembles die Bühne: Patrica Hachtel (Mutter), Fynn Zinapold (Vater) und als Kind Lukas Franke. Die drei spielen und wirbeln so gekonnt und mitreißend über die Bühne, als ob sie schon jahrelang in Stendal zu Hause sind. Keine Spur von Zurückhaltung oder Lampenfieber. Das Trio bildet eine kaum zu schlagende Einheit, jonglieren mit Slapstick, Drama oder Groteske gekonnt und fließend. Es sind besonders die Darstellungen, die beeindrucken: Das ist die Geschichte vom fliegenden Robert, in der es Lukas Franke gelingt, den Kampf des Regenschirms mit dem Wind, so zu spielen, dass für einen Moment ein Sturm über das Publikum hinwegfegt.

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Patricia Hachtel als „Konrad der Daumenlutscher“. Foto:©Nilz Böhme;TdA

Oder Patricia Hachtel als „Konrad der Daumenlutscher“, dem schnipp-schnapp die Daumen abgeschnitten werden. Sie verschwindet in einem Fingerkostüm, sodass nur noch ihr Gesicht mit dem Daumen im Mund zu erkennen ist. Während das Kind um sie herumspringt und die anstehende Katastrophe herbeisingt, lutscht und nuckelt Mutter Hachtel so genüsslich und hinreißend an ihrem Daumen, dass niemand im Publikum den Blick davon lassen kann und wahrscheinlich ebenfalls gern einen Daumen in den Mund geschoben hätte.

Nicht zu vergessen Fynn Zinapold als Vater: „Manchmal müssen wir grausam sein, um gut zu sein, und manchmal müssen wir grausam sein, um – wissen Sie – einfach so, zur Entspannung.“ Spätestens mit diesen Worten zeigt er gleich, was in den folgenden Bildern passiert: eine rasante Reise durch die Struwwelpeter-Welt, die dem „brutalen“ Kosmos der Comic-Figuren „Tom und Jerry“, „Asterix und Obelix“ oder „Roadrunner und Kojote“ ziemlich nahekommt.  Somit ist es also kein Wunder, dass immer wieder Szenenapplaus die Schauspieler begleitet.

Niclas Ramdohr begleitet das Geschehen mit dem Akkordeon begeisternd musikalisch. Foto:©Nilz Böhme;TdA

Sorgten für einen perfekten Theaterabend: Patricia Hachtel, Niclas Ramdohr, Lukas Franke und Fynn Zinapold. Foto:©T. Pfundtner

Unbedingt erwähnt werden muss auch Niclas Ramdohr als Struwwelpeter-Moderator und musikalischer Leiter: Obwohl er erst seit sechs Wochen übt, entlockt er einem Akkordeon musikalische Expeditionen, die das intensive Geschehen mal ruppig, mal sanft, mal schnell oder langsam untermalt. Perfekt ergänzt von Sebastian Schulze mit seinen unterschiedlichen Saiteninstrumenten und Aron Thalis, der aus seiner Trommel je nach Bedarf „Gänsehauttöne“, stampfenden Beat oder leises Klopfen herausholt. Dieses Musik-Trio ist ein Ereignis für sich, das aber verbunden mit dem Spiel auf der Bühne zum gleichberechtigten Mittelpunkt wird. „Wir haben einige Texte umgeschrieben und die Musik etwas angepasst“, sagt Niclas Ramdohr später auf der Premierenfeier.

Damit nicht genug des Lobes: Schillernde Kostüme (Mark Späth), faszinierende Puppen und Figuren (Catrin Frieser) sowie die schnelle und kompromisslose Regie (Geertje Boden) sind ein Genuss für die Augen.

Fazit: Die Horror-Geschichten um den Ungekämmten mit den langen Fingernägeln werden in einer beeindruckenden Inszenierung zu einem Theaterabend, von dem man eigentlich nicht genug bekommen kann. Oder, wie es Professor Dr. Ulrich Nellessen, Vorsitzender des Theaterfördervereins, auf der Premierenfeier formulierte: „Dieses Stück muss man gesehen haben – mindestens zweimal!“ Also – mehr davon!