Deutscher Buchpreis 2023: Diese sechs Romane stehen im Finale
Terézia Mora
Muna oder Die Hälfte des Lebens
Luchterhand Literaturverlag, August 2023
Kommentar der Jury:
Eine junge Frau verfällt einem Mann. Die Frau heißt Muna, der
Mann heißt Magnus, und was die beiden miteinander verbindet,
ist keine reine, sondern eine vergiftete Liebe. Für dieses
Zusammensein zahlt Muna einen hohen Preis. Wie viel Kälte kann
ein Mensch ertragen, ohne zu zerbrechen, ohne sich ganz und
gar zu verlieren? Terezia Mora schenkt uns mit Muna eine eigensinnige,
mutige Protagonistin, die sich trotz ihrer Stärke in eine
toxische Beziehung stürzt. Es geht um Verführung, Missbrauch,
seelische Gewalt und Selbstermächtigung. Moras schnörkellose,
lakonische Prosa entfaltet vom ersten Satz an einen Sog,
dem man sich nicht entziehen kann. „Muna oder die Hälfte des
Lebens“ ist ein Roman, der nachhallt.
Biografie:
Terézia Mora wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren und lebt
seit 1990 in Berlin. Für ihren Roman „Das Ungeheuer“ erhielt sie
2013 den Deutschen Buchpreis. Der Georg-Büchner-Preis wurde
ihr 2018 für ihr Gesamtwerk zugesprochen. Terézia Mora zählt
außerdem zu den renommiertesten Übersetzer*innen aus dem
Ungarischen.
Necati Öziri
Vatermal
claassen Verlag, Juli 2023
Kommentar der Jury:
Der junge Arda liegt mit Organversagen im Krankenhaus und
schreibt zum Abschied einen Brief an den abwesenden Vater,
den er nie kennengelernt hat. Darin lässt er sein bisheriges Leben
Revue passieren: Konflikte mit der alkoholkranken Mutter, eine
Schwester, die von zuhause abhaut, endlose Stunden auf dem
Ausländeramt, aber auch die erste Liebe und die gemeinsame
Zeit mit den Freunden Savaş, Bojan und Danny. Mit „Vatermal“
fängt Necati Öziri den Sound der Straße ein: wütend, schlagfertig,
witzig und zart. Seine jugendlichen Helden suchen Orientierung
in einer Gesellschaft, in der sie nie wirklich ankommen. Öziri
öffnet uns für diese deutsche Realität die Augen.
Biografie:
Necati Öziri studierte Philosophie, Germanistik und Neue Deutsche
Literatur in Bochum, Istanbul und Berlin. Als Theaterautor
schreibt er für das Maxim Gorki Theater, das Nationaltheater
Mannheim und das Schauspielhaus Zürich. Als Kurator leitet er
zudem das Internationale Forum des Theatertreffens der Berliner
Festspiele. Necati Öziri lebt in Berlin.
Anne Rabe
Die Möglichkeit von Glück
Klett-Cotta Verlag, März 2023
Kommentar der Jury:
Anne Rabe beschreibt eine Kindheit an der ostdeutschen Peripherie,
ein Aufwachsen im Chaos der Wende- und Nachwendezeit,
die Eskalation der Gewalt der 1990er Jahre. Die Elterngeneration
verzweifelt am Ankommen in der neuen Realität.
Durch aufwendige Archivarbeit belegt Anne Rabe, wie stark das
kulturelle Klima der DDR beeinflusst war von unaufgearbeiteten
Kriegserfahrungen. Durch diese scharfe Analyse und eine hochemotional
erzählte Familiengeschichte gelingt ihr damit ein
aufrüttelnder Beitrag zu aktuellen Debatten über die Ursprünge
von Gewalt und Menschenfeindlichkeit.
Biografie:
Anne Rabe, geboren 1986, ist Dramatikerin, Drehbuchautorin
und Essayistin. Ihre Theaterstücke wurden mehrfach ausgezeichnet.
Seit mehreren Jahren tritt sie zudem als Essayistin und
Vortragende zur Vergangenheitsbewältigung in Ostdeutschland
in Erscheinung. Anne Rabe lebt in Berlin. „Die Möglichkeit von
Glück“ ist ihr Prosadebüt.
Tonio Schachinger
Echtzeitalter
Rowohlt Verlag, März 2023
Kommentar der Jury:
Tonio Schachingers „Echtzeitalter“ gelingt das Kunststück, als
Coming-of-Age-Roman ebenso einfühlsam wie dezent zu sein.
Stilistisch brillant, aber nie aufdringlich wird die Geschichte des
Wiener Gymnasiasten Till erzählt: Zerfall der Familie, Freundschaften,
erste Liebe, der diabolische Klassenlehrer Dolinar und
seine despotischen, aber auch prägenden Lektionen über Literatur
und Sprache. Eine Analyse österreichischer Gesellschaft, die
an Klarheit und Schärfe Thomas Bernhard in nichts nachsteht
und doch im Ton eher leise und sanft bleibt. Nicht zuletzt: eine
literarische Reflexion der Welt von Computer-Echtzeitgames, die
in ihrer Feinheit, Luzidität und Klischeefreiheit ihresgleichen
sucht.
Biografie:
Tonio Schachinger, geboren 1992 in New Delhi, studierte Germanistik
an der Universität Wien und Sprachkunst an der Universität
für Angewandte Kunst Wien. „Nicht wie ihr“, sein erster
Roman, stand 2019 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis
und wurde mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises ausgezeichnet.
Tonio Schachinger lebt in Wien.
Sylvie Schenk
Maman
Carl Hanser Verlag, Februar 2023
Kommentar der Jury:
Sylvie Schenk begibt sich mit ihrem neuen Buch auf eine Spurensuche,
die zur Lebensgeschichte ihrer Mutter, ihrer Familie und
damit zu ihren eigenen Wurzeln, ihrem eigenen Wesen führt.
Kunstvoll verwebt sie dabei Fakten und Fiktionen und verdichtet
sie zu einer literarischen Biografie, die der Sprachlosigkeit der
Mutter eine Erzählung entgegensetzt, in der auch Armut, Scham,
Trauma und Zweifel ihren Ausdruck finden. So entsteht ein stiller
Text voller Wucht, der ohne Sentimentalität, aber mit großem
Einfühlungsverm.gen und historischer Neugier das zu erkunden
versucht, was wir Herkunft nennen.
Biografie:
Sylvie Schenk wurde 1944 in Chambéry, Frankreich, geboren,
studierte in Lyon und lebt seit 1966 in Deutschland. Sie veröffentlichte
Lyrik auf Französisch und schreibt seit 1992 auf
Deutsch. Sylvie Schenk lebt bei Aachen und in La Roche-de-
Rame, Hautes-Alpes. Zuletzt erschien 2021 ihr „Roman d‘amour“.
Ulrike Sterblich
Drifter
Rowohlt Hundert Augen, Juli 2023
Kommentar der Jury:
„Drifter“ von Ulrike Sterblich ist ein einziger furioser Ritt. Eine
bitterböse Satire auf den Literaturbetrieb, die PR-Branche, Kunst,
Social Media, Aktienmanager und Heldenverehrung. Gleichzeitig
erzählt das Buch von der tiefen Freundschaft zwischen den Protagonisten
Wenzel und Killer – einer Männerfreundschaft, wie
man sie selten gelesen hat. Einzigartig ist die mephistophelische
Figur der Vica: Unvergesslich, enigmatisch und verführerisch.
Falsche Fährten legend führt Sterblich uns vergnüglich an
der Nase herum. Eine meisterhafte Geschichte über das große
Nichts.
Biografie:
Ulrike Sterblich, Politologin und Autorin aus Berlin, lebt weiterhin
in ihrer Heimatstadt, wo sie auch als Gastgeberin der Talkund
Lesebühne „Berlin Bunny Lectures“ bekannt wurde. 2012
erschien ihr erfolgreiches Mauerstadt-Memoir „Die halbe Stadt,
die es nicht mehr gibt“. 2021 veröffentlichte Ulrike Sterblich ihr
Debüt „The German Girl“.