Eine Treppe für die Ewigkeit

 

150 Jahre Kaufhaus Ramelow: Oft wurde renoviert und umgebaut – nur das Treppenhaus blieb bis heute so, wie es war.

 

 

Treppe vn 1930

Das Herzstück des Kaufhauses- die historische Treppe mit Blick auf die handgemalten Fenster.

Millionen Kunden sind über ihre Stufen in die oberen Etagen gelangt. Bis heute bietet die Bauhaus-Treppe im ehemaligen „Magnet“ einen imposanten Anblick, der an längst vergangene Zeiten erinnert.

Dieser repräsentative Treppenaufgang, der durch hochwertiges Material und beste Verarbeitung besticht und mit seitlichen Schaufenstervitrinen und Farblichtfenstern des damals führenden deutschen Herstellers von Glasmosaiken und Glasmalereien beeindruckt, ist und bleibt der Mittelpunkt des Kaufhauses.

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Ein Schaukasten neben der historischen Treppe. Der Blick nach oben beschert dann die nächste Kostbarkeit - die handgemalten Fenster.

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Historische Aufnahme der Treppe im Stendaler Ramelow-Kaufhaus. Die Treppe ist Zeitzeuge und war immer Mittelpunkt des Kaufhauses.

Quelle: privat/ repro: Thomas Pfundtner

Stendal. Was für ein Anblick diese glänzende Treppe ganz hinten im Kaufhaus Ramelow. Links und rechts eingerahmt von zwei alten Schaukästen führen 14 Stufen, ausgelegt mit robustem Parkett zu einem ersten Absatz. Hier teilt sich die repräsentative Treppe nach links und rechts auf und jeweils 12 Stufen führen in den ersten Stock. Die Geländer sind sanft geschwungen und im Erdgeschoss mit zwei Rosetten verziert. Dazu die Fenster, geschaffen von dem Berliner Unternehmen Puhl & Wagner, einst der größte deutsche Hersteller von Glasmosaiken und Glasmalereien. In der Fensterfront auf dem mittleren Treppenabsatz ist in der untersten Scheibe der rechten Fensterbahn die Inschrift »Puhl-Wagner-Heinersdorff … Berlin 1930« in das Blockstreifenmuster integriert.

Der künstlerische Entwurf dieser Kleinode stammt somit von Gottfried Heinersdorff, der nicht nur Teilhaber, sondern auch künstlerischer Leiter und Finanzdirektor war. Heinersdorff wurde von den Nationalsozialisten zum Halbjuden erklärt und gezwungen, das Unternehmen zu verlassen. Ihm wurde außerdem auf Dauer verboten, sich im Glasmosaik- und Glasmalereigewerbe zu betätigen. Zusammen mit seinem Sohn eröffnete er ein Fotostudio in Berlin und durfte 1937 an einer Ausstellung in Paris teilnehmen. Er kehrte nie wieder nach Deutschland zurück, floh 1940 vor den Nazis in die Dordogne, wo er 1941 als gebrochener Mann starb. Sein Grab in Mouleydier ist nicht bekannt.

Stellen wir uns vor, täglich besuchten geschätzt 1500 Damen und Herren das „Ramelow“ in Stendal – an 300 Tagen im Jahr. Seit 92 Jahren! Das wären 41,4 Millionen Kunden, die irgendwann einmal über das Treppenhaus zu den oberen Etagen gelangt sind.

Also 41,4 Millionen Paar Schuhe: Holzpantinen, High-Heels, Sandalen, Sneakers, Wanderstiefel, Turnschuhe, Stiefel und Stiefeletten, Lackschuhe mit und ohne Gamaschen, Knobelbecher, Knöpf- und Schnürschuhe, Mokassins …

Die edle Treppe im Ramelow führt nach oben, aber sie lässt auch zurück in die Vergangenheit blicken – bis ins Jahr 1872. Vor genau 150 Jahren legte Gustav Ramelow in Klütz den Grundstein für eine Modehauskette, die bis heute existiert.

Übrigens: Den ersten Lehrling, den Gustav Ramelow einstellte, warb Rudolph Karstadt ab, der 1891 sein erstes eigenes Kaufhaus eröffnete und den Grundstein für die spätere Karstadt AG legte …

Zurück zu Gustav Ramelow, der ein ehrgeiziges Ziel hatte: Jedes Jahr ein neues Kaufhaus.

Das gelang nur fast, dennoch sind die Zahlen beeindruckend: 1922 – beim 50-jährigen Jubiläum – gab es 26 Häuser. 1939 bereits 34. Die Mehrzahl im Osten Deutschlands, darunter in Stendal.

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Konzeptzeichnung für das erste Kaufhaus Ramelow in Stendal.

Quelle: privat/ repro: Thomas Pfundtner

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60 Jahre Kaufhaus Ramelow

Quelle: privat/ repro: Thomas Pfundtner

Mode und Möbel aus einer anderen Zeit - ein Ausstellungsraum des Modekaufhauses Ramelow.

Quelle: privat/ repro: Thomas Pfundtner

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Das neue Kaufhaus Ramelow wurde 1930 eröffnet und im Bauhausstil erbaut.

Quelle: privat/ repro: Thomas Pfundtner

1906 öffnete das „Ramelow-Modehaus“ in der Hansestadt seine Pforten und platzte bald aus allen Nähten, sodass 1919 zum ersten Mal umgebaut werden musste. 1930 kann endlich ein städtebaulich prominentes Eckgrundstück in Stendal erworben werden und der Berliner Architekt Fritz Ebhardt - verheiratet mit Trude Ramelow - erbaut das bis heute erhaltene, denkmalgeschützte Kaufhaus im Bauhausstil.

Zentraler Mittelpunkt im Erdgeschoss: Die imposante Treppe aus edlen Hölzern im hellen Treppenhaus mit den lichtdurchfluteten, handgemalten Fenstern.

Die dem Treppenaufgang entsprechende Bewegung im Musterverlauf der Fenster wird durch die abwechselnd erd- und ziegelfarbigen Emailleflächen in den Quadraten verstärkt. Dadurch ergibt sich ein warmtonig indirekter Tageslichteffekt, der störende Ausblicke auf das Quartier und die Anlieferzone ausblendet.

Im Gegensatz zu anderen Glasfenstern aus jener Zeit, blieben die Stendaler Fenster unversehrt erhalten. Denn sie waren lange Jahre hinter einer unabsichtlichen Schutzabdeckung durch Werbetafeln bis zur Wiederentdeckung versteckt und sind jetzt als authentisches Zeugnis der Entwicklung glaskünstlerischen Gestaltens im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts von überregional besonderem kulturell-künstlerischem Wert, zumal sie in Stendal den mittelalterlichen Glasfenstern in St. Nikolai und St. Jakobi zur Seite gestellt sind.

Als das Haus in der Breite Straße feierlich eröffnet wurde, ließen es sich die Söhne von Gustav Ramelow (er war 1925 verstorben), Kurt, Wilhelm und Hans nicht nehmen, in die Hansestadt Stendal zu kommen und auf den Holzstufen die Eröffnung zu zelebrieren.

Im Dritten Reich bekam das Haus eine neue Adresse, Adolf-Hitler-Straße. Der jüdischen Bevölkerung wurde untersagt, das elegante Kaufhaus zu betreten.

Gleichzeitig trampelten immer wieder die blitzblank gewienerten Knobelbecher der Nazis die Treppe nach oben. So lange, bis auch Deutschland in Schutt und Asche versunken war.

Auch mit Ramelow war es bergab gegangen: Nach Kriegsende waren nur 3 Häuser übriggeblieben, darunter das in Stendal. Die Familie Ramelow allerdings war in den Westen geflüchtet – nach Norddeutschland.

Ende der 1940er Jahre wurde dann Ramelow in Stendal verstaatlicht. Die Adresse hieß wie in guten Zeiten wieder Breite Straße und wurde fortan von der HO unter dem Namen „Magnet“ als sogenanntes Vollkaufhaus betrieben. Das bedeutet, dass nicht nur Mode verkauft wurde.

Die Zeiten ändern sich rapide.

„Im gesamten Einzelhandel herrschten Chaos und Verunsicherung“, erzählt Monika Genz.

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Monika Genz, ehemalige Chefin, ist seit frühester Kindheit mit dem Kaufhaus verbunden.

An einem frostigen Tag im Januar 1951 schoben eine Mutter und die Großmutter einen Kinderwagen ins renommierte „Magnet“, blieben beim Treppenhaus stehen und begannen, das wenige Tage zuvor geborene Baby, Monika, den Verkäuferinnen vorzustellen. Später wird sich dieses Baby daran erinnern, dass es damals im „Ramelow“ so üblich war.

Was niemand ahnte: 14 Jahre später – 1965 – begann Baby Monika im Rahmen von „Abitur mit Berufsausbildung“ die Lehre zum Handelskaufmann, die sie für längere Zeit und dann sogar bis zur Rente in das Bauhaus-Kaufhaus führte.

Sie erinnert sich: „Ich begann in der Glas- und Porzellanabteilung im zweiten Stock. Ich musste jeden Morgen die Treppenstufen raufflitzen und oben den Staub von den Warentischen wischen und hatte große Angst, etwas kaputt zu machen.“

Das Kaufhaus hat Monika Genz nie mehr losgelassen. Nach Jahren in Leipzig und Berlin, zog es sie zurück in die Altmark und übernahm am 1. Januar 1985 die Leitung des ehemaligen Ramelow.

Das war nicht einfach: „230 Mitarbeiter und ich war erst 34 Jahre alt. Ich hatte unheimlichen Respekt vor ihnen.“

Lächelnd erinnert sie sich an viele kurze und längere Gespräche auf der nun verfallen wirkenden Treppe.

„Es gab es eine Verkäuferin, die fühlte sich in keiner Abteilung so richtig wohl, wie sie mir immer wieder beim Treppensteigen zum Büro erzählte.“

Monika Genz versetzte die Frau im Haus so lange, bis diese eines Tages die Stufen hinaufeilte und rief: „Jetzt habe ich endlich meinen Platz gefunden.“

Für Monika Genz waren die vier Jahre bis zur Wende schwierig: Das einst so helle, freundliche Kaufhaus präsentierte sich ziemlich düster und runtergekommen.

Der schöne Lichthof war auf allen Etagen zugestellt und die Substanz wurde immer brüchiger.

Überall standen Schüsseln herum, um das durch das Dach tropfende Regenwasser aufzufangen: „Das Parkett bog sich bereits an vielen Stellen nach oben“, erzählt Monika Genz, „und die Treppe wellte sich an vielen Stellen auf den Stufen.“

Außerdem knarrten und ächzten die stumpfen Stufen, wenn sie betreten wurden. Von der einstigen schlichten Eleganz und ihrer imposanten Wirkung war nichts mehr geblieben ...

Dann kam die Wende mit ihren unendlichen Herausforderungen, schönen und traurigen Momenten.

„Die HO löste sich 1990 auf. Im gesamten Einzelhandel herrschten Chaos und Verunsicherung“, erzählt Monika Genz.

Einen großen Anteil daran hatten die Herrschaften in eleganten, seidenen Anzügen, die etwas anderes erwerben wollten als die wenigen Waren im „Magnet“.

Nein, irgendwelchen Finanzhaien oder Investoren wollte Monika Genz das Kaufhaus nicht überlassen. Deshalb bat sie den damaligen HO-Bezirksdirektor nachzuforschen, ob es die Familie Ramelow noch gibt.

Die gab es! Und so kam es, dass am 17. Januar 1990 – am 39. Geburtstag von Monika Genz – Wilhelm-Christoph Ramelow, der Enkel des Unternehmensgründers, die ausgebleichte Treppe emporstieg, die stumpfgewordenen Bauhausfenster passierte und das Büro betrat. Einige Zeit später kaufte die Familie Ramelow das Stendaler Haus, das ja einst das Flaggschiff der Firma war, zurück.

In vier Monaten wurde das Haus umgebaut, während die Stendaler Mitarbeiter in westdeutschen Filialen geschult wurden.

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Annett Noffke, Storeleiterin, ist seit 30 Jahren im Geschäft.

Am 5. September 1991 begann mit einer Party rund um die Treppe die nächste Ära vom Kaufhaus Ramelow in Stendal.  Sogar der damalige Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Werner Münch, kam an diesem Tag mit dem Hubschrauber nach Stendal und wurde über die frisch restaurierte, glänzende und nicht mehr knarrende Treppe in den dritten Stock geführt.

1991 – das war aber auch das Jahr, in dem die heutige Chefin des Ramelow, Annett Noffke, das Geschäft betrat. Sie wollte sich bewerben.

Als sie ins Kaufhaus kam, stand Wilhelm-Christoph Ramelow, den sie aber nicht erkannte, auf der Treppe. „Ich habe ihm meine Bewerbung in die Hand gedrückt und gebeten, meine Unterlagen an den Chef weiterzugeben. Ich war schon damals selbstbewusst, fuhr einen Trabi und war offen für alles Neue. Das habe ich dem Mann, den ich für einen Angestellten hielt, erzählt. Er nahm die Papiere lächelnd in die Hand, schrieb kurz etwas drauf: `Junges Mädchen, fährt Trabbi, gefällt mir, ist sofort einzustellen!' Plötzlich kam ein Fotograf herbeigeeilt und fragte: 'Herr Ramelow, könnten wir ein Foto machen?' Ich fiel aus allen Wolken, dass das der Chef war.“

Annett Noffke war eine der ersten drei Auszubildenden, die nach dem Rückkauf durch Familie Ramelow, im neuen alten Haus ihren künftigen Beruf von der Pike auf lernten. Bereits im dritten Ausbildungsjahr durfte sie beim Einkauf für junge, trendige Mode dabei sein und die Chefeinkäuferin beraten. Monika Genz: Annett war es damals zu verdanken, dass wir Diesel-Jeans verkaufen durften. Ein Mitarbeiter der Firma wollte sich unser Haus ansehen. Als er kam hatten wir nahe der Treppe bereits einen Diesel-Stand aufgebaut: Ein altes altes Awo Motorrad hinter Glas, schwere, große Schraubenschlüssel aus Werkstätten und eine historische Tanksäule.“ Kein Wunder, dass der Diesel-Mann begeistert war und sein „Ok“ gab. Annett Noffke: „Wir haben die Hosen, obwohl sie sehr teuer waren, wie geschnitten Brot verkauft. Das war schon beeindruckend.

Nun ist Annett Noffke seit über 30 Jahren dabei, wurde kurz nach der Ausbildung zur Teamleiterin ausgebildet und übernahm im Januar 2013 die Nachfolge von Monika Genz.

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Blick die historische Treppe herunter in den "Store of the Year" 2021. 

Historisches-Treppengeländer-Ende-verziert-mit-Schnecke-2022-tp-Pfundtner

92 Jahre unveränderter Blick auf die Veränderungen.

Interessant: In den Jahren, seit die Familie das Kaufhaus Ramelow übernommen hat, wurde das historische Bauwerk bereits mehrmals renoviert.

Die größte Umgestaltung der 3.200 Quadratmeter führte 2021 zum Titel "Store of the Year". Ausgezeichnet wurde die moderne und zeitlose Bauhaus -Architektur, in der modernes und flexibles Arbeiten ermöglicht wurde.

Marc Ramelow, der jetzige geschäftsführende Gesellschafter in vierter Generation, wollte die Ladengestaltung nicht mehr an den Produkten, sondern an den Bedürfnissen der Menschen ausrichten. Es entstand mehr Platz für Sitzecken sowie für angenehmeres Arbeiten. Nachhaltigkeit und ökologisches Handeln für dieses Konzept wurden nicht erst seit den letzten Monaten in den Mittelpunkt gerückt, sondern bereits vor mehreren Jahren.

Auch die Treppe hinten im Haus ist nie aus dem Fokus verschwunden. Im Gegenteil: Ständig flitzen die Verkäufer und Verkäuferinnen von oben nach unten oder von unten nach oben. Oft mit Kunden im Schlepptau, die auf der Suche nach dem „ganz besonderen Kleidungsstück sind.“ Trotz Fahrstuhl. Das ist in unseren Zeiten wirklich etwas Besonderes ...