Ein Stein kam ins Rollen

 

Im zweiten Teil erzählt die „Freundesgruppe Kessy“ von der verzweifelten Suche nach Kezhia

 

 

Vor genau einem Jahr – am 4. März 2023 – wurde die 19-jährige Kezhia H. aus Klötze von ihrem Freund mit 32 Messerstichen ermordet. Aus diesem Anlass hat die „Freundesgruppe Kessy“ am Sonntagmorgen einen kleinen Erinnerungsplatz am Sportplatz des VfB 07 Klötze eingerichtet. Im zweiten Teil unserer Nachbetrachtung berichtet die Freundesgruppe exklusiv von ihrer verzweifelten Suche nach Kezhia – und wie ein Stein ins Rollen kam.

In der  Altmark Zeitung in den Ausgaben für den Landkreis Stendal und den Altmarkkreis Salzwedel erschien am Montag, dem 4. März im Teil für Lokales unter der Überschrift „MORD AN KEZHIA JÄHRT SICH Teil II: Die verzweifelte Suche der „Freundesgruppe Kessy“ - Ein Stein kam ins Rollen" der zweite Teil der persönlichen Rückschau von Freunden der jungen Frau auf die Zeit der Suche nach der Vermissten, das persönliche Engagement jedes Einzelnen und die Begleitung der Familie während der Zeit des Prozesses. 

Der erste Teil endete mit der Idee der Freunde, einen Flyer zu drucken und um Hilfe bei der Verteilung zu bitten.

Nach dem Gedenken auf dem Sportplatz legten noch wochenlang Trauernde Blumen und kleine Geschenke an der Vereinsbank ab.©„Freundesgruppe Kessy"

„Die Resonanz war groß, sodass wir die Poster und Flyer sogar in Wolfsburg verteilen konnten. Wir sind von Laden zu Laden gegangen, haben mit den Besitzern gesprochen. Fast alle hatten von Kezhias Verschwinden gehört, wollten helfen und haben die Plakate aufgehängt.“  Ramona und Kristina erinnern sich: „Eine Briefträgerin hat gesagt: Ich darf das zwar nicht, aber ich werfe die Flyer einfach mit der Post in die Briefkästen. Das war schon unglaublich."

Kein Wunder, dass immer mehr Hinweise und Tipps gegeben wurden. „Wir haben alles sofort im Netz geteilt, es war, als ob ein Stein ins Rollen gebracht würde“, so Thomas.

Ein frisch ausgehobenes Loch in einem Wald, das die Gruppe entdeckte.©„Freundesgruppe Kessy"

Der VW-Crafter von Tino B., in dem er Kezhia ermordete, wird zur Spurensicherung abtransportiert.@ „Freundesgruppe Kessy"

Dennoch gab es keine Erfolge, geschweige denn einen Durchbruch auf der Suche nach Kezhia. „Also überlegten wir, ob wir nicht in der Umgebung nach verdächtigen Stellen und Spuren suchen sollten…“ Da alle in der Gruppe davon überzeugt waren, dass Tino B. der Täter sei, wurde überlegt, welche Routen er mit Kezhia gefahren sein könnte. Auf Landkarten im Internet wurden Straßen angekreuzt, entlegene Häuser und Höfe markiert oder verdächtige Waldplätze eingekreist.

Damals wussten Kezhias Freunde noch nicht, dass die ermittelnde Staatsanwaltschaft für die Beweissicherung durch Professor Dr. Thomas Brinkhoff von der Jade-Hochschule Oldenburg ein digitales Bewegungsprofil von Tino H. und seinem Dienst-Crafter erstellen ließ, das letztendlich mitentscheidend für den Schuldspruch war.

„Wann immer jemand von uns Zeit hatte, ist er mit dem Auto zu unseren markierten Plätzen gefahren“, greift Kristina den Faden wieder auf, „und tatsächlich sind wir auch zu dem ehemaligen LPG-Gelände bei Jeggau gekommen. Wir sind aber nicht hineingegangen, sondern haben die Polizei informiert, dass hier in den Hallen etwas sein könnte.“

„Das gab zum ersten Mal etwas Ärger mit den Beamten“, sagt Thomas, „wir wurden dringend aufgefordert, den Ort zu verlassen, das sei viel zu gefährlich.“

So vergingen die Tage seit Kezhias Verschwinden. Und in den Herzen ihrer Freunde verwandelte sich die Hoffnung immer mehr in Trauer und Verzweiflung.

Zumal der Täter immer noch auf freiem Fuß war: „Er war auf dem Sportplatz, hat seine Tochter zum Abschlussball begleitet und so getan, als ob er mit dem Verschwinden seiner Freundin nichts zu tun habe. Von Sorge um Kezhia keine Spur“, erzählt Annabell.

Je mehr die Hoffnung sank, umso intensiver suchten die Freunde Kezhias nach Spuren oder Hinweisen: Sie entdeckten Stellen mit Erdhügeln im Wald, fanden Plätze, an denen etwas verbrannt worden war und, und, und… „Das alles haben wir fotografiert und an die Polizei weitergeleitet."

Die Suche hat ein Ende - die schmerzliche Gewissheit macht die letzten Hoffnungen zunichte: Kezhia ist tot.

Diese Nachricht verschickte Familie H. nach dem Auffinden der sterblichen Überreste von Kezhia.©„Freundesgruppe Kessy"

Bis zum 20. April, als bekannt wurde, dass die Polizei die sterblichen Überreste von Kezhia gefunden hatte: „Ich war gerade auf dem Rückweg von Magdeburg nach Klötze“, sagt Thomas, „als auf meinem Handy die Nachricht „Ihr braucht nicht mehr zu suchen…“ aufleuchtete.

Sie kam von Kristina: „Ich kam gerade vom Gitarrenunterricht und auf meinem Handy stand die Nachricht von Kezhias Mutter Jeannette: „Kristina, ihr könnt aufhören zu suchen, sie haben Kezhia heute am späten Nachmittag in einem Erdloch in einem Waldstück gefunden… Ich habe das sofort in unserer WhatsApp-Gruppe gepostet.“

Schon am nächsten Tag organisierte der VfB 07 Klötze einen Ort zum Gedenken und der Trauer für Kezhia auf dem Platz ihres Heimatvereins. Ab dem 22. April kamen alle zum Sportplatz, legten Blumen und Kränze nieder und entzündeten hunderte Kerzen für Kezhia. Die Gruppe kümmerte sich um diesen Gedenkplatz und hatte aus diesem Anlass ein großes Blatt mit ihren Händen erstellt. „Diese Hände haben dich gesucht“ stand darauf. Und auf der anderen Seite:

Abschiedsgruß des Freundeskreises: Sie alle hatten ihre Hände fotografiert, einen Abschied formuliert und am Gedenkplatz abgelegt.©„Freundesgruppe Kessy"

„Diese Hände haben gebetet für dich.

Diese Hände haben unsere Tränen weggewischt

Diese Hände haben dich gesucht.

Wir gingen für dich durch Dornen, kein Weg und keine Kraft war zu viel…

Leider konnten wir dich nicht mehr in die Arme nehmen und Lebewohl sagen.

Unsagbar schmerzhaft ist es, dich nicht mehr zu sehen…“

  Vereinskatze „VfB“ hielt sich bei dem Gedenken an die junge Schiedsrichterin noch auf dem Vereinsgelände auf, verschwand dann bis zum Urteil spurlos.
©„Freundesgruppe Kessy"

Thomas erinnert sich: „Auf dem Gelände des Vereins stromert ständig eine Katze herum. Sie kommt immer dann, wenn Kristina in der Club-Gaststätte Dienst hat. Am Abend des Gedenkens an Kessy, kam sie auf den Platz und setzte sich genau auf die Vereinsfahne. Danach verschwand sie spurlos.“ Er erzählt weiter, dass „die VfB-Katze, wie wir sie nennen“ über Wochen „wie vom Erdboden verschluckt“ war. „Am Sonntag vor dem Urteil war sie dann wieder auf dem Platz, so als ob nichts gewesen sei. Das kann doch kein Zufall sein, oder…?“

Mit dem Gedenken auf dem Sportplatz hätte auch für die „Freundesgruppe Kessy“ alles vorbei sein können. Doch das war es noch lange nicht:

Nach der offiziellen Trauerfeier, die unter großer Anteilnahme ehemaliger Schulkameraden, Freunden, Mitgliedern des VfB 07 Klötze und der Bevölkerung am 27. Mai stattfand, beschlossen die Mitglieder der Gruppe, wenn es so weit sein sollte, gemeinsam an jedem Prozesstag teilzunehmen: „Wir wussten, dass auch ihre Verwandten kommen würden. Wir wollten sie unterstützen und ihnen Kraft geben.“ Wochenlang hatte die Gruppe engen Kontakt zu Kezhias Familie gehalten, das sollte, konnte und durfte nicht vorbei sein.

Es gab einige Gedenkplätze, auch in Schwiesau.©„Freundesgruppe Kessy"

Die „Freundesgruppe Kessy" sprach rund drei Stunden mit der AZ über die Erlebnisse rund um die schreckliche Tat. ©T.Pfundtner

„Sicher, es konnte nicht jeder von uns an allen Tagen mitkommen. Wir sind ja berufstätig“, erzählt Thomas, „aber die Familie alleinzulassen, kam für uns nicht infrage.“ Ramona erinnert sich: „Ich habe kurz vor Prozessbeginn bei der Stadt Wolfsburg angefangen und von vornherein gesagt, dass ich jeden Prozesstag Urlaub nehmen will, um dabei zu sein. Das wurde verstanden und sogar unterstützt …“

So kam es, dass der „Freundeskreis Kessy“ immer, vom ersten Verhandlungstag bis zum Urteil, in der zweiten und dritten Reihe von Raum 218 im Landgericht Stendal saß und dem Prozess folgte; und damit Kessys Familie Kraft spendete. Am 29. Januar, dem Tag des Urteils, gedachten sie dann noch einmal auf ganz besondere Art und Weise ihrer verlorenen Freundin: In schwarzen Sweatshirts, auf denen ein Foto von Kezhia zu sehen war und die Worte „Du fehlst…“  standen, setzten sie sich ins Gericht und verfolgten unter Tränen die Urteilsbegründung.

Wie hieß es im persönlichen Protokoll: „Wir fahren zurück nach Klötze. Kezhia, Du fehlst…“

Das wird sich sicherlich nie ändern, auch wenn die Wunden über die Jahre vernarben. Jetzt aber am 4. März, dem ersten Todestag, werden ihre Familie, ihre Freunde und Bekannten erneut mit Schrecken an die schlimmen Tage im März und April vor einem Jahr erinnert und die Wunden werden wieder aufreißen. Dafür ist Kraft, viel Kraft nötig. Aber Kezhias Familie und ihre Freunde werden auch diese Prüfung bestehen. Garantiert.

Die „Freundesgruppe Kessy" hält weiter zusammen und erschafft an der Vereinsbank des VfB 07 Klötze zum Gedenken an Kezhia am Sonntag vor ihrem ersten Todestag mit viel Hingabe einen Erinnerungsplatz.