Mario Adorf
„Ich glaube an die Kraft der Schöpfung“
Drei Stunden mit Mario Adorf im Gespräch – ein unvergessliches Erlebnis und die Erfüllung eines Traums. Immer wieder brachte der große Schauspieler mich zum Schmunzeln oder wurde vom Befragten zum Fragenden. Er wollte nicht nur alles beantworten, sondern er war ebenfalls sehr neugierig, wollte viel wissen. Besonders meine Jahre als „Wessie“ in der ehemaligen DDR interessierten ihn sehr. Foto/Copyright: Maximilian Rossner
Den großen Schauspieler Mario Adorf durfte ich einige Monate vor seinem 90. Geburtstag in seiner Münchener Wohnung besuchen.
Wir trafen uns am 3. November 2019 gegen 11 Uhr.
Schon nach wenigen Minuten waren Fotograf Maximilian Rossner und ich von dem unbändigen Willen und der Kraft, die Mario Adorf ausstrahlte, restlos eingenommen.
Damit nicht genug: Mario Adorf nahm sich über drei Stunden Zeit für das Gespräch und wich keiner Frage aus.
Dieses Interview wurde im Mai 2020 von Mario Adorf freigegeben und in der Ausgabe 07/08 2020 der Stadtgottes veröffentlicht.
Es war das letzte Interview für die Nachrichten-Illustrierte der Steyler Missionare, da sich der Geschäftsführer von der Chefredakteurin trennte, das Blatt in Leben jetzt umbenannte und nun ehrenamtlich von der Herausgeberin von Eltern führen lässt.
Bei diesem Interview begleitete mich der Münchner Fotograf Maximilian Rossner. Er hat viele Plattencover fotografiert und ist auf Porträts spezialisiert.
Was ich an ihm schätze ist seine Beobachtungsgabe, dieses Warten auf den einen Moment.
Außerdem gelingt es ihm immer wieder, auf einem Termin unsichtbar zu werden.
Mario Adorf kann nicht mehr zählen, wie oft er in seinem Leben interviewt wurde. Wahrscheinlich gibt es keine Frage, die ihm nicht gestellt wurde. Interessant: Er scheut sich vor keiner Antwort, auch wenn ihm vielleicht ein Thema unangenehm ist. Zum Tod sagte er mir noch: „Ich weiß heute noch nicht, ob ich möchte, dass meine Frau bei mir ist, wenn ich sterbe.“ Dann fügte er mit einem Schmunzeln hinzu: „Diese Rolle spielt jeder Mensch in seinem Leben nur einmal. Niemand kann sich darauf vorbereiten. Aber ich hoffe, ich bin gut.“ Foto/Copyright: Maximilian Rossner
Herr Adorf, glauben Sie, dass die Corona-Pandemie die Welt verändern wird?
Ja, sie ist die größte Krise seit Kriegsende, sie wird einschneidende Langzeitfolgen und nicht nur wirtschaftliche haben, sondern auch viele andere Bereiche des Zusammenlebens verändern wie etwa ein vorläufiges oder endgültiges Ende der Wohlstandsgesellschaft, drohende Arbeitslosigkeit und Armut.
Aber sie zeigt auch Mutmachendes, zum Beispiel eine erfreuliche Rückwendung zur Demokratie, die Anerkennung erhält, weil sie sich in der gegenwärtigen Notlage bewährt. Wie bedeutungslos ist zur Zeit die AfD geworden, ein hoffentlich bleibender Effekt.
Hat sich Ihr Leben durch Corona verändert?
Sicher, ich habe bis davor immer noch ein Leben mit vielen Reisen geführt. Die andauernde Ausgangssperre oder –beschränkung hält mich an zu Hause gefesselt. Das ist lästig und erfordert Geduld. Aber auch hier gibt es positive Seiten. Ich habe wieder Kontakt zu vielen von mir lange vernachlässigten Menschen aufgenommen. Und ich habe viel mehr Zeit zum Lesen und Nachdenken gefunden. Und eine merkwürdige, tröstliche Entdeckung: War ich vorher überzeugt, dass ausgefüllte, aktive Tage schneller zu vergehen scheinen als untätige, so stelle ich fest, dass die gleichmäßigen Tagesabläufe der Ausgangssperre ungleich schneller als vorher „normal“ empfundene vorbeirasen.
Am 8. September feiern Sie Ihren 90. Geburtstag. Wie fällt Ihre ganz persönliche Bilanz aus?
Da frage ich mich zuerst: Was habe ich falsch gemacht? Natürlich habe ich, in der Rückschau, Fehler gemacht wie jeder andere auch. Doch ich bin davon überzeugt, ich würde die meisten dieser Fehler unter den gleichen Umständen erneut begehen.
Gibt es etwas, das Sie bereuen?
Ja. Durch meine Arbeit, aber auch durch leichtfertiges Verhalten habe ich zum Beispiel Freundschaften nie gepflegt. Dabei gab es einige Menschen, die ich in meinem Leben hätte behalten, an meine Seele hätte fesseln sollen, wie Shakespeare sagt. Dafür ist es jetzt leider zu spät.
Sie sind in Mayen in der Eifel aufgewachsen, lebten sechs Jahre in einem Waisenhaus, das von Benediktinerinnen geführt wurde. Ihre Mutter konnte sich nur am Sonntag um Sie kümmern, da sie als selbständige Näherin den Lebensunterhalt verdienen musste …
… meine Mutter hatte eine möblierte Mansardenkammer genau gegenüber vom „Spitälchen“ gefunden, um sich wenigstens nachts in meiner Nähe zu wissen. Jeden Sonntag begleitete mich eine Nonne über die Straße und ich flitzte in den dritten Stock. Immer hatte sie ein Geschenk für mich – mal eine Tafel Schokolade, mal ein Malbuch mit Zeichenstiften oder eine Wollmütze – das sie versteckt hatte und ich suchen musste.
Damals, in den 1930er Jahren war eine unverheiratete Frau mit einem Kind unmöglich und es wurde getuschelt: Das hat meine Mutter mit stolzer Verachtung quittiert.
Das Ende des Krieges haben Sie als Melder in Mayen erlebt.
Im Juli 1944 musste ich als sogenannter „Kriegsfreiwilliger“ einen Wehrertüchtigungslehrgang mitmachen. Da habe ich mich wohl nicht ganz so dumm angestellt, so dass mich der Schulleiter am Ende des Lehrgangs fragte, ob ich an den „Westwall zum Schippen oder zu einem Führerlehrgang nach Jena möchte.“ „Führerlehrgang nach Jena“, antwortete ich sofort. Er schickte mich nach Hause, dort sollte ich auf die Abberufung warten. Dazu ist es aber glücklicherweise nicht mehr gekommen.
Haben Sie sich jemals vorstellen können, dass es nach all diesen schrecklichen Erfahrungen wieder extrem rechte Tendenzen in Deutschland geben würde?
Nein, das war für mich unvorstellbar. Neonazis, die AfD. Der NSU, der willkürlich Ausländer hinrichtete. Und ja, ganz ehrlich, das macht mir Angst. Und, es ist ja nicht nur in Deutschland so. Nein, überall in Europa, in Amerika sind die Rechten auf dem Vormarsch. Ich habe immer gedacht: Es kann und darf nicht noch einmal passieren.
Mit Ihrer Frau Monique waren Sie 17 Jahre zusammen, bevor sie 1985 geheiratet haben.
Wir waren noch sehr jung und hatten es nicht eilig. Monique und ich waren ja auch oft getrennt, durch meine vielen Drehs in der ganzen Welt. Daher brauchten wir Zeit, unsere Beziehung aufzubauen, bis wir sicher waren, dass wir zusammengehören. Sie war für mich der Mensch, mit dem ich mir vorstellen konnte, gemeinsam alt zu werden. Und so ist es inzwischen ja auch gekommen.
„Ich wäre gerne Arzt geworden“
Den Kopf auf den Arm gestützt, fragender Blick – nach dem Motto – welche Frage kommt nun? Mario Adorf gibt seinem Gegenüber stets das Gefühl, ernst genommen und akzeptiert zu werden. „Für mich ist jede Frage interessant, denn so werde ich zum Denken und Erinnern gebracht“, erzählte die Schauspielerlegende nach dem Interview.
Was bedeutet Luxus für Sie?
Luxus ist das Überflüssige. Das halte ich für etwas sehr Gefährliches. Es ist nichts dagegen zu sagen, wenn alle Menschen in einem maßvollen Wohlstand leben. Aber dieses Streben nach mehr und immer mehr … Für mich ist es Luxus, noch hin und wieder arbeiten zu können. Wissen Sie, ich habe es in meinem Leben geschafft, so viel zu verdienen, dass ich schließlich nicht mehr so viel hätte arbeiten müssen. Mittlerweile sind die Angebote sehr viel weniger geworden. Umso größer ist dann die Freude, wenn etwas kommt.
Eigentlich haben Ihre Fans Sie nur selten bei großen Preisverleihungen gesehen.
Ich stehe nicht gern im Licht der Öffentlichkeit. Das war früher so und hat sich nicht geändert. Natürlich kam ich immer allen öffentlichen Verpflichtungen nach, wenn zum Beispiel ein neuer Film vorgestellt wurde. Nur habe ich das nie als wichtig für mein Leben empfunden.
Warum sind Sie Schauspieler geworden?
Ich wäre gern Arzt geworden, aber das war so kurz nach dem Krieg nicht möglich. Oder Maler. Aber es gab ja weder Farbe noch Leinwand noch Pinsel. Vieles hätte ich mir vorstellen können, nur die Realität sah anders aus. Auf der Universität in Mainz habe ich meinen Studienplan ganz vollgepackt. Ich wollte alles das nachholen, was mir in den Jahren zuvor vorenthalten wurde. Also belegte ich alles, was auf Allgemeinbildung ausgerichtet war, zum Beispiel Literatur, Psychologie, Musikgeschichte und Philosophie, dazu Fremdsprachen.
Und es gab ein Studententheater, das mich interessierte, ich studierte ja auch Theaterwissenschaften. Dennoch war es immer noch nicht der Wunsch, als Schauspieler dabei zu sein, das traute ich mir gar nicht zu, sondern …
… ja …?
Ich wollte einfach nur mitmachen. Angefangen habe ich dort als Bühnen- und Plakatmaler. Es dauerte lange, bis ich mich für eine kleine Rolle bewarb. Im vierten Semester spielte ich eine der Hauptrollen in einem von uns entwickelten Antikriegsstück. Es hieß „Die alte Leier“, mit dem wir sogar zu den Festspielen der Studententheater nach Erlangen eingeladen wurden. So begann alles…
… und mündete in einer internationalen Karriere.
Es war ein langer Weg, den ich so nie geplant hatte.
„Andere sollen bestimmen, was von mir bleibt“
Für das Gespräch an einem Novembersonntag in München nahm sich Mario Adorf viel Zeit. Geduldig beantwortete er alle Fragen. Nachdem ich das Interview „in Form gegossen hatte“ und dem Schauspieler zur Freigabe geschickt hatte, schickte ich noch ein paar Fragen zu Corona mit, die er auch prompt beantwortete. Somit konnte ich ruhigen Gewissens meinen Einstieg ändern. Foto/Copyright: Maximilian Rossner
Wie meinen Sie das?
Bedingt durch den Krieg habe ich nie eine Lebensplanung gemacht. Ich habe alles auf mich zukommen lassen und es hat sich gefügt.
Also alles Glück?
Also, ich habe den Begriff Glück immer sehr skeptisch betrachtet. Ich bin davon überzeugt, niemand kann immer glücklich sein oder Glück haben. Für mich ist Glück kein Zustand, sondern es sind für mich die besonderen Momente, die es zu erkennen und zu packen gilt.
Sie sind eine lebende Filmlegende. Nun werden Sie 90. Denken Sie jetzt öfter über die eigene Endlichkeit nach?
Natürlich. Allerdings weniger über den Tod als über das Sterben an sich. Werde ich krank? Muss ich leiden? Das beschäftigt mich heute mehr als früher. Aber, egal, wie es kommt. Ich werde es annehmen.
Haben Sie Angst vor dem Tod?
Nein, warum sollte ich? Das Sterben gehört zum Leben. Was mich noch viel weniger beschäftigt, ist die Frage: Was kommt danach?
Was?
Nichts.
Das erklären Sie bitte.
Ich bin nicht gläubig im Sinne einer Religion. Die wurden von Menschen geschaffen, um ihnen die Angst vor der Endlichkeit zu nehmen. Ich bewundere alle, die diesen Glauben leben und daraus Kraft schöpfen. Aber …
Ja …?
… ich glaube an einen Gott, der dieses Universum geschaffen hat. Mit all seiner Schönheit, Kraft und Unendlichkeit. Beim Thema Leben nach dem Tod halte ich es mit Bertolt Brecht, der schon als Jugendlicher ein Gedicht „Gegen Verführung“ schrieb, das mit dem Vers endet: „Ihr sterbt mit allen Tieren. Und es kommt nichts daher.“
Also zweifeln Sie doch?
Wenn Sie damit den Glauben an den Gott meinen, wie ihn sich die Menschen – meiner Meinung nach – geschaffen und ihrem Bild angepasst haben, würde ich das verneinen. Und auch wenn Sie den Glauben an ein Leben nach dem Tod meinen, halte ich mich an Bertolt Brecht. Vielleicht ist das auch hier schon der Einfluss meiner Mutter…
Wieso?
Meine Mutter wollte keine Totenfeier. Sie wollte „weg sein, einfach weg sein.“
Was ist von ihr geblieben?
Meine Erinnerungen, meine Träume von ihr. Und ihre alte Nähmaschine bei mir im Keller.
Was soll von Ihnen bleiben?
Das kann ich nicht bestimmen, das sollen andere tun.
Immer freundlich. Engagiert. Nachdenklich. Fröhlich. Mario Adorf, der am 8. September 2020 – mitten in der Coronapandemie – seinen 90. Geburtstag feierte, besticht durch eine nahezu unerschöpfliche Mimik und Sprachgewalt. Ich durfte den Schauspieler während seiner letzten Tournee „Zugabe“ live in Stuttgart erleben – und war begeistert. Er sang nicht nur Lieder von Georg Kreisler, rezitierte aus seinen Büchern, plauderte charmant über sein Leben und bestach durch Monologe aus Shakespeares Hamlet. Ein alter Mann? Im Gegenteil. Mario Adorf wirkte jung und dynamisch. Wahrlich, schon zu Lebzeiten eine Legende! Fotos/Copyright: Maximilian Rossner
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