Selfies auf Irrwegen

 

Aufwühlende Premiere am Theater der Altmark

 

Noch ist die Stimmung bei Lily, Emma und Chris unbeschwert.© TdA

 

In der Altmark Zeitung  erschien am Dienstag, 12. Dezember 2023, in der Ausgabe für den Landkreis Stendal im Lokalteil  Stendal der Premierenbericht über das Stück „Selfie“ im Theater der Altmark.

Lily, Emma und Chris feiern – ist alles in Ordnung?©TdA

„Was machen wir jetzt?“ „Ich weiß es nicht!“ Mit dieser scheinbar banalen Frage und der verzweifelt klingenden Antwort endet ein Drei-Personen-Stück, das am Samstag im Theater der Altmark Premiere feierte. In „Selfie“ von Christine Quintana sind Emma und Lily beste Freundinnen. Nichts kann sie auseinanderbringen. Ihre Welt definiert sich über Glamour-Selfies, Kommunikation über soziale Medien, gestylte Frisuren, fetzige Techno-Musik und Mode. So ähnlich tickt auch Chris, Lilys Bruder, der in Emma verliebt ist. Als seine Schwester davon Wind bekommt, organisiert sie eine „Liebes-Party“ mit vielen Gästen, in Strömen fließendem Alkohol und hartem Beat. Als Emma und Chris sich an diesem Abend näherkommen, schießt Lily noch schnell ein Foto des knutschenden Paares und stellt es ins Netz.

Doch am nächsten Morgen ist alles anders: Emma kann sich nicht an die Nacht erinnern und stellt sich Fragen. Fragen über Fragen. Aber sie findet keine Antworten, sondern spürt nur, dass in der Nacht etwas geschehen ist, was sie nicht wollte. Mit ihrer Ahnung holt sie sich Rat bei einem Arzt, der die Polizei einschaltet. Ohne dass es ausgesprochen wird, schwebt der Begriff „Vergewaltigung“ über der Bühne. Ein Thema, das Lily nicht wahrhaben will, sondern am liebsten mit Selfies verdrängen würde.  Und auch ihr Bruder weist diesen Vorwurf weit von sich, denn „das habe er nicht gewollt“.

 Diesmal aber können die drei jungen Leute nicht in die Traumwelt der sozialen Medien flüchten, sondern sie rasen auf eine Katastrophe zu, die unstoppbar ist. Soweit die Geschichte, die wohl häufiger passiert, als die offiziellen Zahlen es aussagen.

Was ist wirklich passiert? Was kann ich tun? Fragen nach einer Nacht ohne Erinnerung© TdA

Hinter „Selfie“ steckt aber viel mehr – sehr viel mehr. Das Stück, das vor fünf Jahren in Toronto (Kanada) uraufgeführt wurde, macht in erschreckender Art und Weise klar, dass junge Menschen immer mehr dem „Gott“ soziale Medien verfallen und oft nicht mehr zwischen Realität und virtueller Netzwelt unterscheiden. Der Alltag muss schrill und bunt sein, voller Höhepunkte und ständig neuen Erlebnissen – dies bringt Siri Wiedenbusch mitreißend auf die Bühne: Penetrant High-Heels tragend, provokantes Kaugummikauen und ein Selfie nach dem anderen, ja, das ist Lilys wunderbare Popcornwelt, die keinen Moment für Reflektion oder Innehalten lässt. Und ja, Wiedenbusch scheut sich auch nicht, hin und wieder prollig zu sein. Um aber schnell in die Welt von „Lieblingsmenschen“, Instagram und Selfies zurückzukehren.

Ganz anders Alexandra Sagurna als Emma: Folgt sie anfangs der burschikosen Lily blind und will so sein wie sie, ändert sie nach der Party unaufhaltsam ihre Persönlichkeit: Von Szene zu Szene bricht Emma immer mehr mit dem „Netz-Glamour“ und besinnt sich auf sich selbst und auf das, was wichtig ist. Sie stellt Fragen, will Antworten. Obwohl sie weiß, dass damit ihr bisheriges Leben beendet ist.

Mit hoher Sensibilität, sparsamen Gesten, stimmigen Timbre und sich der Situation angepassten Bewegungen spielt Alexandra Sagurna die Verzweiflung und Zerbrechlichkeit einer jungen Frau so überzeugend, dass allein ihre Präsenz die Bühne ausfüllt, und damit letztendlich auch Lily verdrängt.

In diesem Spannungsfeld zwischen Emma und Lily schwimmt Lukas Franke als Chris. Er ist derjenige, „der immer alles verkackt“, weil er nicht weiß, wie er korrekt leben soll. Franke überzeugt durch die stimmige Darstellung eines jungen Mannes, der weder seinen Weg noch das Leben kennt. Franke ist fordernd, wenn er es sein muss. Still und zurückhaltend, wenn die Rolle es erfordert. Der Zuschauer wird das Gefühl nicht los, dass Lukas Franke endlich das aus sich herausholt, weshalb er nach Stendal geholt wurde: Die unbändige Lust am Spielen, ohne zu überzeichnen.

Besonders junge Menschen müssen sich heute auch in der digitalen Welt zurechtfinden und lernen, damit umzugehen.

Alexandra Sagurna (l.), Siri Wiedenbusch und Lukas Franke spielen die drei Hauptrollen in dem Theaterstück, das jüngst am TdA Premiere hatte.©T.Pfundtner

„Selfie“ überzeugt auf ganzer Linie. Rocken die drei Darsteller anfangs die Bühne und leben ihre virtuelle Welt, müssen sie Stück für Stück erkennen, dass es mehr gibt als Selfies oder „Daumen nach oben“. Fest steht, dieses Stück ist für Jung und Alt gleichermaßen wichtig: Für Teenager, damit sie erkennen, dass es mehr gibt als ein Leben in der sozialen Medienwelt.

Und für ihre Eltern sollte „Selfie“ eine Erinnerung daran sein, dass es ihrer Verantwortung obliegt, ihre Kinder so zu erziehen, dass sowohl „soziale Kompetenz“ als auch „Social Media“ wichtig für ein verantwortungsbewusstes Leben sind.

Die Älteren sollten den Jungen erklären, dass es eben nicht reicht, alles Unangenehme zu verdrängen und in einer rosaroten Wolke zu leben.  Und die jungen Menschen dürfen den Mut finden, über ihre Ängste und Sorgen zu sprechen. Kommunikation als Mittel, die rapiden gesellschaftlichen Veränderungen gemeinsam zu bewältigen – das wird künftig eine der größten Herausforderungen unserer Zeit! Ein gemeinsamer Besuch bei „Selfie“ könnte ein Anfang sein…