Horst Teltschik

 

„Wir brauchen konsequentes Abrüsten“

 

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Horst Teltschik ist ein lebhafter und kritischer Gesprächspartner.

Dieses gerade heute so überaus aktuelle Thema war Gesprächsinhalt meines Interviews mit Horst Teltschik am 28. Mai 2019. Es erschien im Februar 2020 in der katholischen Zeitschrift Stadtgottes.

Horst Teltschik ist 1940 in Klantendorf, jetzt Tschechien, geboren, am Ende des Zweiten Weltkriegs nach Bayern geflüchtet und hat 1960 in Tegernsee das Abitur gemacht. Nach dem Grundwehrdienst studierte er Politische Wissenschaften, Neuere Geschichte und Völkerrecht an der FU Berlin. Seit 1970 war er hauptberuflich in der Politik tätig. Als Helmut Kohl 1972 auf ihn aufmerksam wurde und ihm das Angebot einer Mitarbeit machte, wechselte Horst Teltschik von der CDU-Geschäftsstelle Rheinland-Pfalz als Berater in die Staatskanzlei. 1982 folgte der Wechsel ins Bundeskanzleramt. Maßgeblich beteiligt war Horst Teltschik an den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung. In den 1990er-Jahren hatte Teltschik in verschiedenen, international tätigen Firmen Vorstandsposten inne. In den Jahren 1999 bis 2008 leitete er die Münchner Sicherheitskonferenz. Daneben dozierte er an der TU München. Zudem war er 2009 Gründungspräsident des Korean-German Institute of Technology (KGIT) in Seoul.

Horst Teltschik hat mehrere Ehrungen für seine Verdienste in der internationalen Politik und für seinen Einsatz in der internationalen Verständigung erhalten.

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Das intensive Gespräch wurde durch Gesten noch vertieft.

Herr Teltschik, wie sicher ist unser Frieden?

Das ist leider eine berechtigte Frage. Die Welt steht am Beginn eines neuen besorgniserregenden Wettrüstens. Der INF Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces) wurde nicht verlängert. Moskau und Amerika haben bereits massive Aufrüstungen und Millionen für neue Waffenentwicklungen angekündigt.  Es ist also absehbar, dass Konflikte zunehmen werden. Was mir am meisten Sorge bereitet ist dabei: Aus einer Reihe von zufälligen Ereignissen könnten so große Probleme entstehen.

Was meinen Sie?

Ich bin auch heute noch regelmäßig zu Gesprächen in Moskau, an denen auch der  russische Außenminister Sergej Lawrow teilnimmt. Beim letzten Treffen sagte mir ein sehr besorgter Russe: „Die größte Gefahr derzeit besteht in Zufälligkeiten, die Konflikte Konflikt entstehen lassen. Zum Beispiel Flugzeuge, die zu nahe an einer Grenze fliegen. Oder Schiffe, die aus Versehen in Hoheitsgewässer eindringen.“ Ganz ehrlich, wenn mir das ein Russe sagt, macht mich das sehr besorgt.

Liegt das an den Politikern?

Es liegt vorrangig an den heutigen Machtinhabern. Früher hatten wir Vereinbarungen zwischen der Nato und der Sowjetunion, an die sich jeder gehalten hat. Dazu gab es viele Gespräche und Treffen als vertrauensbildende Maßnahmen. Das bedeutete:  Es wurde wechselseitig über alle militärischen Bewegungen informiert. Zu Manövern der anderen Seite wurden Beobachter entsandt. Und, und das war uns besonders wichtig: Wir standen in ständiger Verbindung zueinander. Das ist weitgehend vorbei. Jeder kocht sein eigenes Süppchen, kündigt Verträge oder ignoriert Vereinbarungen – sowohl in West als auch in Ost, wenn diese beiden Blöcke betrachten. Tatsache ist doch, die NATO und Russland befinden sich gegenwärtig in einer Eskalationsspirale, die oft an trotzige Kinder und ihre Sandkastenspiele erinnert.

Worauf ist das zurückzuführen? Auf mehr Egoismus, größeren Nationalismus? Oder darauf, dass weltweit an den Schalthebeln eine neue Art von Politikern sitzt, die alte Konventionen über den Haufen werfen.

Das größte Problem aus meiner Sicht ist: Heute sind Politiker an der Macht, von denen nicht deutlich wird, welche Strategien und Ziele sie verfolgen. Und, welche Strategien sie entwickeln um diese Ziele zu erreichen.

Dazu kommt: Strategische Ziele, wie wir sie vor 30 Jahren versucht haben, zu entwickeln, sind auch verloren gegangen. Deshalb spielt die Welt derzeit, russisches Roulette. Stellen Sie sich vor, eines Tages ist die Patronenkammer nicht leer…

Bitte ein Beispiel.

Wir haben jetzt einen amerikanischen Partner, der unberechenbar ist. Donald Trump  ist in der Lage, heute etwas zu entscheiden, was überraschend positiv ist. Und kurz darauf genau das Gegenteil. Dem stehen alle anderen ziemlich hilflos gegenüber. Der Einzige, der wirklich eine Strategie hat und diese konsequent verfolgt, ist der chinesische Präsident Pinyin Xí Jìnpíng. Nehmen Sie die neue Seidenstrasse. Viele Staaten haben das am Anfang nur ökonomisch bewertet. Dabei war von Anfang an klar, dass auch eine klare politische Strategie – Ausweitung des chinesischen Einflusses – dahintersteckt.

Was ist mit Europa?

Was soll sein? Eigentlich wäre es auch Aufgabe der Europäischen Union, klar und deutlich zu formulieren, was sie wollen und wo es lang gehen könnte. Doch genau das Gegenteil passiert. Nehmen Sie den Europawahlkampf. Kein Kandidat hat klar und deutlich formuliert, wohin es eigentlich mit der EU gehen soll. Auch die entscheidende Frage – wie gehen wir künftig mit Russland um – hat niemand beantwortet. Seit der Osterweiterung von NATO und EU ist die Frage, wie die ehemalige Sowjetunion in die Sicherheitsarchitektur eingebunden werden kann, offen. Russland ist bis heute nicht Teil des Clubs. Andere Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts dagegen schon.

Seit 1989 die Mauer fiel, hieß es – jetzt beginnt die Zeit des großen Friedens. Ist es nicht eher so, dass das  gesamte System viel fragiler geworden ist und es auch immer mehr kriegerische Auseinandersetzungen gibt?  Heute scheint jede Nation zu versuchen, ihr Machtpotential auszuweiten, ohne Rücksicht auf andere.  Warum?

Der Eindruck stimmt. Ein großer Krieg zwischen den Atommächten schien so gut wie unmöglich geworden. Das lag wohl auch daran, dass damals die NATO Russland noch als Partner sah. Vorbei. Die Feindbilder sind zurückgekehrt, wie wir alle wissen. Tatsächlich bezieht der russische Präsident Putin einen Teil seiner Popularität daraus, dass er dem Westen Paroli bietet. Für diese Menschen ist der Westen gleichzusetzen mit dem rücksichtslosen Konkurrenten, der ihr Land gedemütigt hat und seinen Einflussbereich immer näher an die russischen Grenzen verschieben will.

Die Feindbilder sind zurückgekommen 

 

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Horst Teltschik macht sich gestenreich Gedanken um die politische Zukunft Europas.

Wie konnte es dazu kommen?

Eine entscheidende Rolle spielt die Wiedervereinigung. Deutschland stand vor der Aufgabe, die Integration der ehemaligen DDR sowohl politisch, wirtschaftlich als auch kulturell und sozial zu stemmen. Allein das hat jede deutsche Regierung in die Vollbeschäftigung getrieben. Dabei muss gesehen werden: Alle Regierungen oder Administratoren tun sich schwer mehrere, gewichtige Themen gleichzeitig zu bearbeiten.

Gleichzeitig steckten wir aber mittendrin in der europäischen Integration, sprich der Entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion sowie der Einführung des Euro. Auch dieser Prozess hat das volle Engagement gebraucht.

Nicht zu vergessen, die entscheidende Frage, wie sollen die Beziehungen zu Russland gestaltet werden. Beziehungsweise zu den ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten.

Die wurde aber doch beantwortet …

…mit der Charta von Paris für ein neues Europa. Das war am 21. November 1990. Sie bedeutete das Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas. Ich habe mich damals an den Satz von Martin Luther King erinnert: „I have a dream.“ Dieses Abkommen, das von 32 europäischen Ländern sowie den USA und Kanada unterschrieben wurde, legte den Grundstein für das, was Gorbatschow das „gemeinsame europäische Haus“ nannte. Die Vision – einer Sicherheits- und Friedensordnung von Vancouver bis Wladiwostok – schien wahr zu werden.

Ich behaupte bis heute: Zum ersten Mal in der Geschichte dieses Kontinents hatten wir eine solche Chance bekommen. Wir haben die Prinzipien und Instrumente benannt, nach denen die Charta mit Leben gefüllt werden sollte. Zum Beispiel das Konfliktverhütungszentrum in Wien.

Ich frage Sie hier und heute: „Welchen Konflikt haben die jemals gelöst?“  Das Zentrum fiel nur als Wahlbeobachter auf. Und da haben viele osteuropäische Staaten gesagt: „Das ist eine Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten.“

Das ist traurig…

Sicherlich. Ganz ehrlich: Kaum jemand hat die Möglichkeiten der Charta von Paris wirklich genutzt – zum Wohle aller. Romani Prodi, ehemaliger EU-Kommissionspräsident reiste damals zu Putin und hat ihm eine gesamteuropäische Freihandelszone vorgeschlagen. Von Lissabon bis Wladiwostock. Ich weiß persönlich von Putin, dass er dafür war. Als ich ihn später fragte, warum sich da nichts täte, zuckte der Russe nur mit den Schultern.

Niemand hat diese Idee weiterverfolgt. Weder die EU noch ihre Mitgliedsstaaten. Ich behaupte: Wenn wir das getan hätten, hätten wir vielleicht das Problem mit der Ukraine nicht bekommen.

Typisch Politiker?

Ich habe in der Politik gelernt, du kannst nur etwas erfolgreich erreichen, wenn du es zu deinem persönlichen Anliegen machst. Nach dem Motto: Das will ich. Auch wenn es noch so viele Widerstände gibt. Denken Sie nur an den NATO-Doppelbeschluss. Dagegen gingen Hunderttausende auf die Straße. Trotzdem hat Helmut Kohl 1983 Wahlen durchgeführt. Warum? Die Leute wussten: Er will das. Er kämpft dafür. Und er geht sogar das Risiko von Wahlen ein. Was ist passiert: Helmut Kohl hat gewonnen.

Ich bin fest davon überzeugt,  wenn Politiker Themen zu ihrem ganz persönlichen Anliegen machen, spürt der Wähler das und honoriert dieses Engagement.

Und das haben wir verloren?

Das haben wir verloren. Völlig,

Liegt das auch an der Digitalisierung der Welt, dass man nicht mehr miteinander redet? Sich statt dessen E-Mails schickt. Oder, wie Trump, Twitter als politisches Instrument einsetzt.

Wir haben im Prinzip seit 1990 vier entscheidende strategische Veränderungen miterlebt.  Zum einen die gesamteuropäische Vision. Dann der Beginn  der Globalisierung. China ist damals groß in den Weltmarkt eingestiegen. Und Indien kurz darauf. Nicht zuletzt, die Digitalisierung, die noch lange nicht abgeschlossen ist.

Viele Bürger sind sich der Dimension dieser Prozesse bis heute nicht wirklich bewusst geworden. Weil sie von den Politikern nie erfahren haben, was das alles für sie persönlich bedeutet.  Deshalb interessieren sich die jungen Leute auch nicht mehr für die etablierten Parteien, denn die leben immer noch in einer völlig anderen Welt.

Am Schluss nenne ich noch einen vierten Punkt: George Bush sen. hat schon 1991 gesagt, wir brauchen eine neue Weltordnung, die der Multipolarisierung. Jetzt sind wir mitten drin. Klar, dass die Amerikaner dabei die Nummer eins sind. Gefolgt von China. Indien ist dabei. Russland will ebenfalls mitspielen. „Und Europa“, werden Sie fragen?  Die Europäer können sie vergessen. Bei dem jetzigen Zustand. Es entwickelt sich eine neue Weltordnung, deren Konsequenzen wir überhaupt noch nicht überblicken können und bei der wir mutmaßlich nicht mehr viel zu sagen haben.

Wer wird die Führung übernehmen?

Noch sind die Amerikaner technologisch Weltspitze. Wenn sie abgelöst werden, dann wohl eher politisch als wirtschaftlich. Militärisch aber werden die Vereinigten Staaten alles dransetzen, an der Spitze zu bleiben. Nach dem Ende des INF-Vertrages  beginnt jetzt ein abenteuerliches Wettrüsten. Besonders auch durch Donald Trump, der ständig beschwört, dass die USA militärisch die Nummer 1 bleiben muss. Erst kürzlich hat er angekündigt,  dass in Amerika ein neuer Tarnkappenbomber entwickelt wird, der täglich 80 Ziele angreifen kann. Kosten pro Stück: Zwei Milliarden Euro. Das sagt alles, oder? Ich kann mir nur noch an den Kopf greifen. Derzeit beginnt auch die amerikanische Militarisierung des Weltraums.  Logisch,  dass die Russen sagen, das machen wir auch. Ebenso die Chinesen. Viele wollen es noch nicht wahrhaben, aber tatsächlich sind wir mitten in einem neuen weltweiten Wettrüsten. Von einer Dimension, die mir schon große Sorgen bereitet.

Zurück zu Ihrer Frage: Politisch wird der Einfluss Chinas immer größer. Was daraus wird, ist aber für mich völlig offen.

Brauchen wir eine neue Friedensbewegung?

Der Begriff ist für mich ein relativer. Ich habe die Friedensbewegung Anfang der 80er Jahre hautnah erlebt. Was war damals der Hintergrund? Wir haben 1975 die Schlussakte KSZE in Helsinki unterschrieben. Alle sagten, dies sei der Beginn der Entspannungspolitik. Tatsächlich aber hat Breschnew mit einem neuen Wettrüsten begonnen, indem er die  SS-20-Mittelstreckenrakete entwickeln ließ. Die waren aber nicht gegen Amerika gerichtet, sondern gegen uns, den Hauptmatador der Entspannungspolitik.

Davor warnten Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmuth Kohl. Als die NATO von den Russen Abrüstung der SS-20-Raketen forderte und damit drohte: Entweder Abrüstung oder wir stellen eigene Raketen in Europa auf, wandte sich die Friedensbewegung nicht gegen Breschnew, sondern gegen die USA. Das empfinde ich bis heute als grotesk.

Dennoch müssten Sie die These vertreten: Wir brauchen ein konsequentes Abrüsten.

Ja klar, das bestimmt mein ganzes Denken und Tun. Wir brauchen dringend einen neuen Rüstungskontrollprozess mit dem Ziel weltweiter Abrüstung. Das ist vollkommen klar.

Wie bekommen wir das hin?

Wir brauchen einen NATO-Generalsekretär, der vernünftige Verteidigungs- und Abrüstungsstrategien entwickelt, die tragfähig sind.  Ganz ehrlich, bei Jens Stoltenberg fällt es mir schwer, daran zu glauben. Als er in München vor zwei Jahren auf der Sicherheitskonferenz eine Rede gehalten hat, hat er nicht einmal die Worte Abrüstung und Rüstungskontrolle in den Mund genommen. Also, wenn selbst der Nato-Generalsekretär in dieser Situation vor einem internationalen Gremium  auftritt und nichts zur Abrüstung und Rüstungskontrolle sagt, dann habe ich damit schon ein Problem.

Auch die Europäer müssten sich als Einheit präsentieren und sich auf ihre Hinterbeine stellen, um Abrüstungsverhandlungen einzuleiten. Leider haben die Beitrittsländer im Augenblick alle ihre eigenen Probleme und denken nur an sich.

Ist Donald Trumps Forderung nach Erhöhung sämtlicher Wehretats der Nato-Mitgliedsstaaten auf 2,0 Prozent berechtigt?

Ich halte diese Forderung für nicht akzeptabel. Zwei Prozent bei uns sind etwas anderes als beispielsweise in Litauen. Ich meine, wir müssen so viel ausgegeben, wie wir benötigen. Das kann bei dem einen weniger sein, es könnte unter Umständen sogar mehr sein.

Was denken Sie denn, wenn Sie unsere heutige Bundeswehr ansehen?

Ich kann im Einzelnen den Zustand der Bundeswehr nicht beurteilen, weil ich nicht im Austausch mit den Verantwortlichen stehe. Aber dass sie Probleme haben, ist sichtbar. Die Bundeswehr hat auch Aufgaben übernommen, die zumindest im Bezug auf Afghanistan fragwürdig sind. Ich hab die Aussage vom früheren Verteidigungsminister Peter Struck, nie für richtig gehalten, dass unsere Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird. Ich glaube, die große Mehrheit der Deutschen wusste gar nicht, wo der Hindukusch liegt.

Wir sind jetzt dort seit 2001 im Einsatz. Was hat sich geändert für die Zivilbevölkerung? Nichts! Wenn Sie die letzten Berichte der UNO lesen sind 600.000 Kinder in Afghanistan dramatisch unterernährt. Da kann ich nur sagen, dass ist eine Bankrotterklärung des Einsatzes. Der Einsatz hat uns und dem gesamten Westen insgesamt 150 Milliarden, wenn nicht mehr gekostet. Mit dem Ergebnis, dass mittlerweile die Zentralregierung mit den Taliban verhandelt. Es kann also sein, dass der ehemalige Feind, die Taliban, obsiegen.

Grotesk.

Politiker sind ohne Visionen und Positionen

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Horst Teltschik vermisst Visionen und Positionen der aktuellen Politikerinnen und Politiker.

Geben wir unsere Demokratie auf, wenn wir uns anschauen, was in Europa passiert?

Das wäre schlimm, wenn das so wäre. Wenn ich noch aktiv wäre, wäre meine Antwort: Den ganzen Populismus müssen wir begegnen. In dem wir Themen setzen. Eine Bundesregierung, eine Kanzlerin kann und muss Themen setzen und Ziele vorgeben. So können Menschen mobilisiert und mitgenommen werden. Wenn die Politik sich allerdings so diffus und schwammig darstellt, wie im Moment, darf sich niemand wundern, das die Öffentlichkeit nach Alternativen sucht und dies auch kundtut. Mir fehlen sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch klare Ziele. Von Visionen will ich gar nicht erst sprechen.

Wie sind Sie zu Helmut Kohl gekommen?

1972 hat Helmut Kohl mich gefragt, ob ich mit ihm zusammenarbeiten wolle. Er war damals Ministerpräsident von Rheinland Pfalz und stellvertretender Parteivorsitzender. Ich saß in der Bundesgeschäftsstelle der CDU  und war für die Außen-, Sicherheits- und Deutschlandpolitik zuständig. Als er mich fragte, ob ich zu ihm kommen will, habe ich natürlich die Frage gestellt, welche Perspektive ich in Mainz hätte, Rheinland Pfalz hat ja keine eigenständige Außenpolitik betrieben – meine eigentliche Kompetenz. Als er mir ganz klar zu verstehen gab, dass er Kanzler und Parteivorsitzender werden wolle, war ich von ihm überzeugt und bin sein Berater geworden. Jahre später konnte ich lächelnd sagen: „Wir haben es geschafft.“

Ist daraus eine Freundschaft geworden.?

Eine Freundschaft und ein ganz enges Verhältnis in der Zusammenarbeit Ich war 1ja 9 Jahre arbeitstechnisch ganz eng mit Helmut Kohl verbunden. Da sind natürlich auch private Dinge hin und wieder Thema gewesen.  Er hat mich auch hin und wieder geduzt, aber grundsätzlich sind wir beim Sie geblieben. Das war sehr gut für unsere Arbeit und die Umsetzung unserer Ziele.

Was war das Besondere an Helmut Kohl?

Helmut Kohl war von Haus aus Historiker gewesen.  Deshalb war er in der Lage in historischen Bezügen zu denken. Er hat die Zusammenarbeit mit Frankreich  auch auf Grund seiner Erfahrungen noch aus dem Zweiten Weltkrieg  bewusst verfolgt.  Er wusste, dass die enge deutsche Zusammenarbeit mit Frankreich der Schlüssel für den Frieden in Europa ist. Das hat er konsequent verfolgt.

Ganz entscheidend auch: Parteizugehörigkeiten spielten für ihn keine Rolle. Für ihn war das Thema, politisch richtig oder nicht.

Als er ins Kanzleramt einzog war unsere Strategie schnell klar: Wir haben gesagt, die deutsche Außenpolitik beruht auf zwei Säulen. Die atlantische Allianz mit der Freundschaft zu den USA. Und die europäische Integration mit einer engen Freundschaft zu  Frankreich. Sind Säulen stabil sind, können wir beruhigt eine offensive Entspannungspolitik nach Osten zu betreiben. Ohne Verdacht zu erwecken, dass wir ein Doppelspiel betreiben. So hat Helmut Kohl auch die deutsche Einheit letztlich bewirkt.

Er hat als einer der ganz wenigen Politiker in Deutschland im entscheidenden Augenblick erkannt, welche Chance sich hier eröffnet hat und zugepackt. Er wusste aber auch, dass eine Fülle von Angeboten an Russland geben muss, damit sie die deutsche Einheit akzeptieren. Kohl hatte begriffen, das zentrale Thema der Sowjetunion, seit dem Zweiten Weltkrieg,  ist – übrigens bis heute – das Thema Sicherheit. Das war der Schlüssel für Kohl. Das hat er geschafft.

Haben Sie damals zum Zeitpunkt der Prager Botschaft „Sie dürfen ausreisen“ an die Wiedervereinigung geglaubt?

Ich konnte mir das vorstellen. Ich habe schon Jahrzehnte vor der Wiedervereinigung immer betont, dass die deutsche Frage eines Tages wieder auf der Tagesordnung der internationalen Politik stehen wird. Gestützt auf zum Beispiel auf die Reformprozesse,  in Ungarn, die bereits in den 80iger Jahren begannen und letztendlich zur Grenzöffnung nach Österreich geführt haben.  Als ich das damals gesagt habe, forderte die SPD meine Entlassung. Sogar der damalige Außenminister, Hans-Dietrich Genscher hat bei Kohl angerufen und verlangt , er soll mich endlich feuern.

Der Bundeskanzler hat mich angerufen und mit einem Lächeln gefragt: „Mensch Teltschik, was haben Sie denn nun schon wieder gesagt …“ Ich antwortete: „Das, was richtig ist…“ Und siehe da, es kam.

Wissen Sie, zwei Dinge haben uns eine gewisse Sicherheit gegeben, 1. Ich war bei allen entscheiden Gesprächen Kohls mit dabei, sei es mit Breschnew, mit Andropov, Tschernienka, und, und, und. Helmut Kohl hat bei den Gesprächen immer die Deutsche Einheit angesprochen. Aber nicht unter dem Aspekt einer sofortigen Wiedervereinigung, sondern unter der Prämisse: „das kann kein Zustand für immer sein.“

Die sowjetischen Gesprächspartner haben aber auch nie gesagt: „Herr Kohl, vergessen Sie das, das hat sich erledigt.“ Sie haben gesagt: „Was die Geschichte einmal entscheidet ist jetzt kein Thema.“

Das fand ich schon interessant.

Welche Rolle hat Papst Johannes bei der Wiedervereinigung gespielt?

Was Polen betrifft, war er der Motor für Veränderungen. Als er beim Besuch in seiner Heimat Millionen Menschen um sich scharrte – überwiegend junge Polen –  war das wie eine sichtbare Bankrotterklärung für das kommunistische System. Dieses vor aller Welt zu dokumentieren, war enorm wichtig und hilfreich. Es hat dem Regime klar und deutlich vor Augen geführt – hier verändert sich was. Sie werden noch nicht an das gedacht haben. Insofern hat Johannes damals schon eine Schlüsselrolle gespielt. Überhaupt, dass ein Priester aus dem Warschauer Pakt von den direkten Vertretern Gottes zum Papst gewählt wurde, war ein sichtbares Zeichen. Jeder Gläubige im Warschauer Pakt hatte ab diesem Moment ein Symbol im Westen.

 Erstaunlich ist aber doch, dass Länder wie Ungarn und Polen, die ja Vorreiter für die Wiedervereinigung und ein neues Europa waren, sich nun wieder entfernen.

Ja.  Ungarn und Polen drängten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ganz schnell in die EU und in die NATO. Ich habe immer gesagt, das nationale Verständnis, das Nationalbewusstsein der Ungarn oder der Polen oder Tschechen war das Instrument der Emanzipation von der Sowjetunion. Nun waren sie endlich souverän, also wollten sie schnell dabei sein. Was ihnen aber nicht klar war, dass sie mit dem Beitritt zu EU und NATO  auch wieder Souveränität abgeben. Dieser Widerspruch – wir haben zwar große Freiheiten errungen, dennoch müssen wir uns permanent unterordnen –  dieser Widerspruch fällt ihnen so wahnsinnig schwer. Und dieser Widerspruch führt zu dem uns unverständlichen Verhalten und letztendlich auch zur Spaltung der EU und der NATO: Das haben nun auch andere Staaten, wie zum Beispiel Italien aufgegriffen.

Das ist natürlich keine Entschuldigung, für das, was Orban in Ungarn macht. Oder die PiS-Partei in Polen macht. Das halte ich für katastrophal. Dennoch bin ich zuversichtlich, dass die Geschichte darüber hinweggehen wird.

Wie haben Sie denn damals die Problematik in England, genauer Margaret Thatcher gelöst?

Wissen Sie, meine Erfahrung in der Politik ist,  immer zu wissen, warum das so ist. Mein unmittelbarer Gesprächspartner bei Margaret Thatcher, Lord Baron Paul, kam extra zu mir, um zu erklären, warum die britische Premierministerin sich so abwehrend gegen die Wiedervereinigung verhielt: Margaret hat als junges Mädchen in London die Bombardierung durch die deutsche Luftwaffe erlebt. Das war kein Vergnügen.

Sie wissen, dass England eine Vielzahl jüdischer Kinder aufgenommen hat. Ein jüdisches Mädchen ist in der Familie von Margaret Thatcher aufgewachsen.

Es ist also nachvollziehbar, dass Margaret Thatcher nicht viel Sympathie gegenüber Deutschland hegte. Das muss man wissen.

Außerdem stellte sie eine durchaus ernst zu nehmende Überlegung an. Sie ging davon aus, dass wir nach Krieg und Kaltem Krieg eine relativ stabile Nachkriegsordnung geschaffen haben. Ein bipolares System. Hier der Osten, da der Westen. Nicht ungefährlich, nicht unproblematisch. Auch relativ stabil. Über Jahrzehnte.  Jeder wusste, woran er ist.

Und nun war diese Nachkriegsordnung dem Verfall preisgegeben – ohne dass eine Alternative sichtbar wurde. „Wie sieht denn das Europa danach aus“, sagte sie sinngemäß, „Deutschland war gut für zwei Weltkriege. Es könnte auch gut für einen Dritten sein.“

Heute können wir konstatieren: Diese Bedenken waren nicht ganz von der Hand zu weisen. Welche Ordnung haben wir heute in Europa? Die Europäische Union ist relativ chaotisch. Wenn Sie die populistischen Bewegungen sehen. Wenn Sie die Hilflosigkeit auch der Führungsstaaten sehen. Wohin wollen wir eigentlich mit der EU? Es gibt keine Antworten darauf. Die Beziehungen zu Russland sind alles andere als gut. Wenn Sie das Gesamtszenario ansehen, können Sie sagen, so Unrecht hat Thatcher nicht gehabt.

England hat auch genügend Konflikte…

…der Brexit ist eine Katastrophe. Mein Freund Lord Baron Paul hat gesagt, Margret Thatcher wäre nie aus der EU ausgetreten. Das ist der Unterschied zu Cameron, der mit seinem Vabanquespiel fürchterlich baden gegangen ist.

 

Kohl hat ja einen festen Platz in der Geschichte. Was glauben Sie, welchen Abdruck wird Frau Merkel hinterlassen?

Das kann ich nicht beurteilen. Mich verwundert nur, wie zurückhaltend sie sich im Moment verhält. Keine Entscheidung, kein Eingreifen. Ihr Abtauchen finde ich unverständlich.

Viel Zeit bleibt ihr jedenfalls nicht, um noch etwas Großes zu bewegen.

Fehlt es heute an Persönlichkeiten in der Politik?

Ja.  Aber ich sag auch immer:  Wer hat Gorbatschow vorausgesehen? Wer hat vorausgesehen, dass Helmut Kohl so ein starker Bundeskanzler sein wird?Dass die Einheit möglich wurde. Ich hab immer den Eindruck, es kommen irgendwann wieder gute Leute. Und motivierte Leute.

Sehen Sie da im Moment jemanden?

Im Augenblick hätte ich Schwierigkeiten. Europaweit. Im Moment sehe ich keine starken politischen Persönlichkeiten mit Visionen und klaren Zielen. Vielleicht hätte Europa mit Emanuel Macron eine Chance gehabt.

Die Bundeskanzlerin hat das gescheut. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht ging es ihr alles zu schnell. Seine Reden waren vielleicht nicht so, dass sie sagen konnte: „Das kann ich alles mittragen.“

Kohl hätte gesagt: „Fahren Sie mal rüber und sprechen mit ihren französischen Kollegen. Und dann überlegen wir, was man machen kann.“

Ich hatte mit meiner Mannschaft den permanenten Auftrag, jeden Termin vorzubereiten. Inhaltlich. Wir saßen immer zusammen und haben immer überlegt, was machen wir jetzt, was gibt es Neues? Was ist der nächste Schritt? Ich weiß nicht, wie die Bundeskanzlerin das handhabt.

Wo sehen Sie Deutschland in 10 Jahren?

Hoffentlich als Führungsmitglied in einer starken Europäischen Union. Und als Motor der Verständigung mit Russland.