Zweiter Versuch mit vielen Fragen – Zwischen Verständnis und Ablehnung
„Das große Heft“ am TdA konnte endlich Premiere feiern
Die Premierenkritik der zweiten Premiere des Stückes „Das große Heft" erschien in der Altmark Zeitung - etwas verkürzt - am Dienstag, 16. April 2024, in der Ausgabe für den Landkreis Stendal im Lokalteil Stendal / Arneburg-Goldbeck unter der Überschrift: „Zweiter Versuch gelingt - Nach Verätzungen: „Das große Heft“ am TdA in Stendal feiert Premiere".
Am Sonnabend, 13. April 2024, fand im Theater der Altmark in Stendal die vollständige Premiere von „Das große Heft“ nach dem gleichnamigen Roman von Ágota Kristóf statt. Da die erste Premiere am 27. Januar nach der Pause abgebrochen werden musste, weil drei Darstellende Verätzungen im Gesicht erlitten hatten. Den Bericht darüber finden Sie hier oder unter: https://journalismus-buecher-pfundtner.de/abbruch-der-premiere-von-das-grosse-heft/.
Hier lesen Sie die vollständige Kritik der zweiten Premiere.
Susan Ihlenfeld (l.) und Lukas Franke überzeugten – wie alle Darsteller – bei der zweiten Premiere. Im Hintergrund Siri Wiedenbusch. ©TdA / Böhme
Stendal – Nach knapp zwei Monaten feierte nun endlich „Das große Heft“ nach dem gleichnamigen Roman von Ágota Kristóf im Theater der Altmark eine Premiere, die glücklicherweise nicht - wie im Januar – in einem Drama endete.
Wie die AZ damals berichtete, musste am 27. Januar das Stück nach der Pause abgebrochen werden, da sich in einer Szene, in der über Dreck und Schmutz geredet wird, die drei Hauptdarsteller Susan Ihlenfeld (Zwilling eins), Katrin Steinke (Großmutter) und Lukas Franke (Zwilling zwei) durch Theater Make-Up verletzten. Durch schmerzhafte, allergische Reaktionen der Haut ihrer Gesichter kam es zu Verätzungen. Das führte dazu, dass die Darsteller noch in der gleichen Nacht in eine Spezialklinik nach Halle verbracht wurden. Nach intensiven Behandlungen und einem längeren Urlaub wurden vor einigen Wochen die Proben wieder aufgenommen. Am vergangenen Sonnabend war es dann endlich so weit – und Stendal erlebte eine Vorstellung, die es in sich hat: Verständnis und Ablehnung. Entsetzen und Mitgefühl. Mitleid und Antipathie. Allerdings beziehen sich diese Vergleiche nicht nur auf das Bühnengeschehen, sondern auch auf die Reaktionen der Zuschauer. Denn: Der Inhalt von „Das große Heft" ist starker Tobak, der dem Publikum viel Toleranz und Verständnis abverlangt – wozu sicherlich nicht jeder bereit ist.
Die Zwillinge in Aktion beim Musizieren.©TdA
Ein diabolischer Blick.©TdA
Worum geht es? Im Krieg wird ein Zwillingspaar zu seiner Großmutter aufs Land geschickt. Hier erkennen die beiden Jungen schnell, dass sie bei der unbarmherzigen Frau und in der neuen Umgebung nur überleben, wenn sie sich tief bis ins innerste Mark abhärten. Gnadenlos setzen sie in einer zerstörten Welt ihre Vorteile durch, schrecken auch vor Mord nicht zurück. Gefühlskalt manipulieren sie die Kirche, die Armee und den imaginären Ort mit aller Härte, zeigen aber auch – in ihnen nützenden Situationen – Zerbrechlichkeit und Liebe. Selbst als der Krieg verloren ist und sich neue Besatzer und ihre Macht mit Terror und Unterdrückung manifestieren – was im Übrigen sehr an die DDR erinnert – gehen die Zwillinge konsequent ihren Weg...
Autorin Ágota Kristóf wurde in Ungarn geboren und erlebte im Zweiten Weltkrieg mit, wie ihre Heimat zwischen den Großmächten zerrieben wurde.
Während des Ungarnaufstands 1956 flüchtete sie mit ihrer Familie in die französische Schweiz – ohne auch nur ein Wort der Sprache zu beherrschen. Sie schlug sich irgendwie durch und lernte mittels eines Wörterbuchs Französisch. Und sie begann in dieser – für sie – nach wie vor fremden Sprache, zu schreiben. Gnadenlos, hart und wuchtig.
Damit erlangte sie ab 1986 literarischen Weltruhm.
Eine hammerharte, drastische Inszenierung, die viele Fragen offen lässt, von einem großartigen Ensemble umgesetzt.
Die Zwillinge verschrecken durch ihr Verhalten.©T.Pfundtner
Alexandra Sagurna singt eindrucksvoll „Ave Maria".©TdA
Nun inszenierte Johanna Schall, Enkelin des großen Dramatikers Bertold Brecht, nicht nur „Das große Heft“, sondern schrieb auch die Bühnenfassung.
Und genau damit beginnt die Frage, wie weit Kunst gehen sollte. Ist es unbedingt nötig, auf der Bühne auf andere Darsteller zu urinieren? Muss Gewalt in aller Exzessivität – sprachlich und spielerisch – ausgelebt werden? Sicher, in dem Roman werden diese Themen noch drastischer geschildert. Aber auf der Bühne in einer Stadt mit etwas über 40.000 Einwohnern?
In einer Metropole, wie Berlin oder Hamburg, mag das funktionieren, aber hier?
Johanna Schall vermittelt dem Zuschauer das Gefühl, dass die Aussagen dieses Antikriegsromans nur mit dem „Holzhammer“ vermittelt werden können. Genau das aber trifft es nicht. Und lässt in der Inszenierung viele Fragen und Unverständnis offen. Zumal es dem hervorragenden Schauspieler-Team, von denen jedem die Note 1 plus gebührt, auch ohne die drastischen Elemente gelungen wäre, das Thema über den Bühnenrand hinaus zu transportieren. Allein Susan Ihlenfeld und Lukas Franke als in jeder Bewegung synchrones Zwillingspaar sind dafür Beweis genug. Oder die Musik: Das „Ave Maria“, gesungen von Alexandra Sagurna geht nicht nur unter die Haut, sondern klingt lange nach und lässt die Schrecken des Krieges lebendig werden.
Auch „My Generation“ von The Who klingt rockig und herausfordernd. Es erinnert an die Widerstände der Jugend gegen Eltern und Erziehung.
Aber, ganz ehrlich, es bleibt völlig unklar, was der Song in diesem Stück zu suchen hat.
Johanna Schall hat alle Möglichkeiten des TdA genutzt: Beeindruckendes Bühnenbild, einmalige Ausstattung, perfekt gesetztes Licht und ein Schauspielerteam, das auch auf großen Bühnen überzeugen würde. Das alles macht „Das große Heft“ wirklich sehenswert. Aber, ob es der große Wurf ist und in die Stendaler Theatergeschichte eingehen wird, bleibt abzuwarten. Darüber entscheidet nicht nur die künstlerische Inszenierung, sondern auch das Publikum, für das Theater ja gemacht wird... Und das wird sich in der neuen Spielzeit zeigen, wenn das Stück wieder gezeigt wird.
Impressionen des Stückes „Das große Heft" ©TdA
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