Hannah Arendt und das „Denken ohne Geländer“

Im Konzentrationslager Auschwitz kamen 1,1 bis 1,5 Millionen Menschen zu Tode. Heute gehört das Gelände zum

Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. ©Foto: Thomas Pfundtner

Hannah Arendts Werk gründet sich auf einen absoluten Neuansatz nach dem Tabubruch. „Ich war immer der Meinung, dass man so zu denken anfangen müsste, als wenn niemand zuvor gedacht hätte. Und dann beginnen sollte, von den anderen zu lernen“, sagte Arendt. Ihre Arbeit war auf die Bedingungen gerichtet, unter denen politisches Handeln zustande kommt. Ihr Politikbegriff ist charakterisiert vom „acting in concert“, also das Handeln vieler Menschen. In gewaltfreien Revolutionen sah sie eine Möglichkeit, „das Glück des Öffentlichen“ herbeizuführen.

Es war ihr möglich, sich als unabhängige Denkerin mit philosophischen Autoren des Abendlandes gedanklich zu verbinden und das Gedankengut nach dem Holocaust kritisch zu begleiten.

Nach ihrem Tod aktuell geblieben ist die Frage, was es bedeutet, im Zeitalter der totalitären Ideologien als Jüdin zu überleben und daraus Schlüsse für den Zustand des Menschen in schwierigen Zeiten zu ziehen.


Das KZ Auschwitz war ein deutsches Konzentrationslager und als Vernichtungslager zur Zeit des Nationalsozialismus, die SS betrieb den Lagerkomplex von 1940 bis 1945 am Westrand der polnischen Stadt Oświęcim. Die Zahl der Todesopfer beläuft sich auf 1,1 bis 1,5 Millionen. Heute gehört das Gelände zum Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau.


Dieser Beitrag wurde am Samstag, dem 7. Januar 2023 in der Altmark Zeitung veröffentlicht.

Fünf junge kanadische Juden bei einem Besuch in Auschwitz im April 2019: Die Veranstaltungsreihe „Denken ohne Geländer“

will jüdisches Leben und Antisemitismus grundlegend und nachhaltig thematisieren. ©Foto: Nowak/TP

Stendal In wenigen Tagen ist es wieder so weit – in Stendal und der Altmark beginnt anlässlich der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 die wichtige Veranstaltungsreihe „Denken ohne Geländer“. Lesungen, Diskussionen, Theater, Workshops, Ausstellungen oder Publikumsgespräche laden zu Tagen des Erinnerns und des Denkens ohne Geländer ein.  2016 wurde diese Programmreihe von der Hochschule Stendal, dem Theater der Altmark, der Landeszentrale für politische Bildung, der Altmärkischen Bürgerstiftung der Hansestadt Stendal mit vielen Kooperationspartnern ins Leben gerufen. Dabei wurde jedes Jahr das Programm mit einem Zitat der großen deutsch-jüdischen Philosophin, politischen Theoretikerin und Publizistin Hannah Arendt (1906–1975) überschrieben.

In diesem Jahr lautet es: »Von dem Moment an habe ich mich verantwortlich gefühlt. Das heißt, ich war nicht mehr der Meinung, dass man jetzt einfach zusehen kann.“ Sie war es, die auch den Begriff „Denken ohne Geländer“ prägte.

Aber wer war Hannah Arendt? Geboren am 14. Oktober 1906 im heutigen Stadtteil von Hannover „Linden“, sah sie 1933 den brennenden Reichstag und wusste, dass sie ihr Leben in Deutschland nicht mehr führen konnte. Als sie gezwungen wurde, ihre akademische Laufbahn aufzugeben, flüchtete sie vor den Nazis. Was sich heute so einfach anhört, war tatsächlich mit zahlreichen Unwägbarkeiten verbunden: Bevor Hannah Arendt Deutschland entkommen konnte, war sie in der Preußischen Staatsbibliothek verhaftet worden und acht Tage lang in der Gewalt der Gestapo. Damals war sie 27 und hatte Glück, dass sie noch freigelassen wurde.

Sie flüchtete. Über Prag und Genf schlug sie sich bis Paris durch. Hier lernte sie Französisch, Hebräisch und Jiddisch und half jüdischen Jugendlichen bei der Vorbereitung für eine Umsiedlung nach Palästina. Als die Nazis Frankreich besetzten, kam auch Hannah Arendt in ein Internierungslager, aus dem sie aber flüchten konnte. 1941 gelang es ihr und ihrem Mann nach Amerika zu reisen. Sie arbeitete als Redakteurin, Journalistin und Assistenzprofessorin und begann ihr politisches Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. In drei Teilen (Antisemitismus, Imperialismus und Totale Herrschaft) untersucht Hannah Arendt die Entstehung und die gemeinsamen politischen Merkmale von Nationalismus und Stalinismus.

Jahre später erinnert sich Hannah Arendt in einem Interview, in dem sie gefragt wurde, warum sie politisch aktiv geworden sei, an den Reichstagsbrand und antwortete mit dem Motto für die diesjährige Gedanken-ohne-Grenzen-Reihe: „Von dem Moment an habe ich mich verantwortlich gefühlt. Das heißt, ich war nicht mehr der Meinung, dass man einfach zusehen kann.”

Vor dem Konzentrationslager kamen die Menschen in Güterzügen an. © Foto: Thomas Pfundtner

Im Lager Auschwitz-Birkenau gibt es die bekannte Rampe und Eisenbahnschienen, aber nur noch wenige Holzbaracken. ©Foto: Thomas Pfundtner

Zeit ihres Lebens war Hannah Arendt der Meinung und Überzeugung, dass Denken einen Raum schaffen kann, in dem wir unser Gewissen – unser moralisches ich – selbstkritisch hinterfragen und so das Böse verhindern können. Sie geht sogar noch einen Schritt weiter und weigert sich, das Denken nur elitären Schichten zukommen zu lassen. Dazu schreibt sie: „Wenn sich herausstellen sollte, dass die Fähigkeit, Recht und Unrecht zu unterscheiden, etwas mit dem Denkvermögen zu tun hat, dann müssten wir ihre Anwendung von jedem normalen Menschen ‚verlangen‘ können, gleichgültig wie gebildet oder unwissend, intelligent oder dumm er zufällig ist.“ Das Denken ist nicht einer entrückten Fachwelt vorbehalten und in der Tat kann ein weltabgewandtes Denken den Menschen von dem ablenken, was sich vor dem eigenen Auge abspielt.

Und genau deshalb ist die Veranstaltungsreihe „Denken ohne Geländer“ auch 78 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung der Welt vom Nationalsozialismus wichtig und notwendig. Wie sagen die Veranstalter so richtig: „Ziel ist es, jüdisches Leben und Antisemitismus grundlegend und nachhaltig zu thematisieren. So kann daran mitgewirkt werden, eine zeitgemäße Erinnerungskultur zu entwickeln, die unterschiedliche Perspektiven der heterogenen Bevölkerung auf den Holocaust berücksichtigt. Zugleich soll ein Beitrag zur Gestaltung des gegenwärtigen Miteinanders geleistet werden, wozu die kritische Auseinandersetzung mit aktuellem Antisemitismus ebenso gehört wie die Gestaltung unseres Miteinanders in Vielfalt. Dazu gehören eben auch die Erinnerungen an Auschwitz oder andere Konzentrationslager. Nur so können wir einen neuen Nationalsozialismus und Konzentrationslager verhindern. Dazu sagte der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees schon vor einigen Jahren in einem Interview: „Wir reden zu wenig miteinander. Wir müssen mehr reden. Mit unseren Nachbarn, mit Menschen anderer Nationalität, anderer Religion. Nur über den persönlichen Austausch und mit Toleranz und Offenheit wird es uns gelingen, einen neuen Holocaust zu verhindern.“

Dafür bieten die zahlreichen Veranstaltungen von „Denken ohne Geländer“ unendlich viele Möglichkeiten. In Stendal. In Osterburg, ­ in der Altmark und bei jedem zu Hause.